Historia Occidentalis

Ein Magazin zur Zentraleuropäischen Geschichte

Monat: Mai 2019

Der Größte Kanzler Aller Zeiten

Dr. Wolfgang Kapp

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Das Ende der Freikorps war gekommen. Am 10. Januar 1920 traten die militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrags in Kraft, darunter die Herabsetzung der Armee von ungefähr 400.000 auf 100.000 Mann und die Entwaffnung und Auflösung der paramilitärischen Verbände, vor allem der Freikorps.

Dies war in der Tat eine bittere Pille für die Militaristen, und viele weigerten sich, diese zu schlucken. Einige Freikorps wurden in die neue Reichswehr oder in die Staatspolizei eingegliedert, andere in Sportvereine, Schützenvereine, Detektivagenturen und Agrararbeiter-Vereinigungen umgewandelt – alle nahmen jedoch ihre “Werkzeuge” mit. (46)

Kapitän Hermann Ehrhardt

Die Regierung hatte keine andere Wahl, als die Auflösung der Korps anzuordnen, aber der Versuch, diejenigen Korps strafrechtlich zu verfolgen, für deren Missetaten Beweise erbracht worden waren und Zeugen zur Verfügung standen, kosteten sie den wenigen Respekt, den das Militär für ihre Autorität übrig hatte. Dann gab die Alliierte Kontrollkommission in Berlin den direkten Befehl, zwei weitere Verbände zu demobilisieren, und zwar die beiden wildesten Einheiten, die Ehrhardt-Brigade des Marinekapitäns Hermann Ehrhardt und die Baltische Brigade unter General Graf von der Goltz, denn die Anwesenheit derart volatiler Truppen in der Nähe der Hauptstadt stufte die Kommission als zu hohes Risiko ein.

Die Befürchtungen erwiesen sich als allzu begründet. Als der Oberbefehlshaber der Vorläufigen Reichswehr in Berlin, der die Niederschlagung des Spartakusaufstandes geleitet hatte, Walther von Lüttwitz, sich weigerte, die Freikorps aufzulösen, von Wehrminister Gustav Noske aufgrund von Beweisen einer nationalistischen Verschwörung entlassen wurde und sich dadurch zum Handeln gezwungen fühlte, versuchte er den Staatsstreich. Auf seinen Befehl hin marschierte die Brigade Ehrhardt am Morgen des 13. März 1920 kampfbereit in Berlin ein und übernahm die Kontrolle über die Hauptstadt. Die legitime Regierung floh zuerst nach Dresden und dann nach Stuttgart, während Lüttwitz und Ludendorff, der rein zufällig in der Nähe war, die Regierung für abgesetzt erklärten und die ratlose und erstaunte Öffentlichkeit darüber informierten, dass Deutschland künftig von einem neuen Kanzler mit diktatorischen Befugnissen regiert werde. Ihr Erlass besagte: “Die volle Staatsgewalt als Reichskanzler und Ministerpräsident von Preußen ist auf Kommissar Dr. Kapp aus Königsberg übergegangen.” (47)

Der neue Reichskanzler

Der gute Dr. Wolfgang Kapp – sich auf die Gewehre der Gangster stützend – übernahm die Ämter des Staats- und Regierungschefs, empfing Besucher und erteilte Befehle. Es werde künftig keine parlamentarische Kontrolle mehr geben und keine demokratische Laschheit, sondern preußische Effektivität, Gehorsam und Disziplin. Das Problem war, dass noch kaum jemand im Reich von dem guten Doktor gehört hatte: am Anfang des Krieges war er zwar als Verfechter komplett unrealistischer deutscher Kriegsziele in die Öffentlichkeit getreten, aber das war lange her, und seine größten nachmaligen Erfolge hatte er, vor seiner Beförderung zum obersten Herrscher der Deutschen durch Lüttwitz, Ehrhardt und von der Goltz, in der Leitung der Ostpreußischen Generallandschaftsdirektion in Königsberg gefeiert.

Das Echo auf seine Proklamationen blieb daher schwach: sowohl die Alliierte Kommission als auch die Stadtregierung von Berlin weigerten sich, seine Autorität anzuerkennen und ignorierten ihn mehr oder weniger. Um seinen politischen Einfluss zu vergrößern, bat Dr. Kapp seine Tochter, ein politisches Manifest zu verfassen, das die Reichspost – wahrscheinlich als Telegramm – über die Sender ihrer Abteilung „Telegraphen- und Fernsprechwesen“ ausstrahlen sollte. Die wichtige Nachricht wurde jedoch leider nie ausgestrahlt, weil seine Tochter nicht in der Lage war, jemanden zu finden, der ihr eine Schreibmaschine lieh, und die Reichspost die Ausstrahlung verweigerte. Eigentlich kümmerten sich Lüttwitz, Ludendorff und die Kommandeure der Freikorps auch nicht wirklich darum, ob jemand den Anordnungen des neuen Regierungschefs folgte oder nicht, weil sie ihre eigenen Vorstellungen hatten. Bald würde die Nation durch die Macht ihrer Waffen regiert werden.

Anti-Putschplakat der Reichsregierung

Reichspräsident Friedrich Ebert und Kanzler Gustav Bauer hatten zunächst beim neuen Chef des (seit 10. Januar illegalen) Generalstabs, General Hans von Seeckt, um die Unterdrückung der Freikorps durch reguläre Truppen nachgesucht, welcher aber den Antrag aufgrund potenziell widersprüchlicher Loyalitäten, von denen er befürchtete, sie würden die Truppen auseinanderreißen, ablehnte. Ebert und Bauer benutzten nun die einzige Waffe, die ihnen noch verblieben war und rief den Generalstreik aus. Dieser wurde von der SPD, der USPD, den Gewerkschaften und sogar einigen Liberalen unterstützt.

Obwohl sich Berlin am 13. März dem Freikorps ergeben hatte, ohne dass ein Schuss gefallen war, war es lediglich ein hohler Sieg. Niemand von Rang wollte Positionen in Kapps Kabinett annehmen. Von Anfang war der hastig geplante Putsch ein Fiasko, und was ihn letztlich niederschlug, war kein Gegenangriff oder Akt der Sabotage.

Die Berliner, die sich dem Rest der Nation in einer Welle antimilitaristischer Gefühle anschlossen, waren offenbar zu dem Schluss gekommen, dass noch eine Revolution viel zu viel war, und als die Ebert-Bauer-Regierung den Generalstreik ausrief, nahmen die Arbeiter derart und von ganzem Herzen daran teil, dass das Kapp-Regime nicht funktionieren konnte.

Der Strom wurde abgeschaltet; Straßenbahnen und U-Bahnen stellten den Betrieb ein. Es gab kein fließendes Wasser; der Müll verfaulte in den Straßen, Geschäfte und Büros waren geschlossen. Nur das Berliner Nachtleben ging ungehindert weiter, sei es bei Dunkelheit oder Kerzenschein.

Es gab Szenen wie aus übertriebenen Filmen, in denen elfjährige Prostituierte mit Peitschen schwingenden Amazonen in lackierten Stiefeln konkurrierten. Es gab Cafés für jeden Geschmack und jede Abweichung – für Schwule, Lesben, Exhibitionisten, Sadisten und Masochisten. Nacktheit allein war langweilig geworden und die Künste loteten die Tiefpunkte von Obszönität, Desillusion und Zynismus aus.

Berlin war das Zentrum der dadaistischen Bewegung und einer seiner Dichter, Walter Mehring, gab den Berlinern ungewollte, erschreckende Blicke in die Zukunft in der Form seiner satirischen Verse. [“Berlin Simultan, PDF] (48)

Die Nachricht vom Kapp-Putsch traf in München ein wie eine Bombe. Das bayerische Militär hatte längst mit der Idee gespielt, die verhasste sozialistische Regierung abzusetzen und ihre eigene, autoritäre und patriotische Verwaltung zu installieren, und die scheinbare Leichtigkeit, mit der die Hauptstadt besetzt worden war, beeindruckte und verführte die Münchner Offiziere. Daher …

…  beschloss das Militär, in München die Macht zu übernehmen, und in der Nacht des 13. März wurde der Sozialdemokratischen Regierung von Johannes Hoffmann ein Ultimatum gestellt. Die neue Regierung, getragen von dem Militär, wurde von Ritter Gustav von Kahr geleitet, einem reaktionären Monarchisten aus einer Familie von Protestanten, die seit Generationen den katholischen Königen Bayerns gedient hatten. Kahr trug immer einen hohen Kragen und schwarzen Anzug, und er bewegte sich und sprach mit der Abruptheit eines Mannes, der es gewohnt ist, die Befehle von Königen weiterzugeben.

Wie Dr. Kapp war Kahr lediglich eine Galionsfigur der Armee, die sich darüber freute, dass Berlin und München nun in festen Händen der Armee waren. Das Militär beschloss, einen Verbindungsoffizier nach Berlin zu entsenden, um die beiden militärischen Aufstände zu koordinieren. Die Wahl fiel überraschenderweise auf Hitler. Mit Dietrich Eckart als Begleiter flog er in einem Militärflugzeug nach Berlin zu einer Besprechung mit Dr. Kapp. (49)

In einer anderslautenden Version erkannte Hitler selbst, von Eckart getrieben, das Koordinierungspotential der militärischen Aktionen und volontierte,  oder vielmehr bat darum, in die Hauptstadt geschickt zu werden. Wer nun genau geschoben und wer geschubst hat, ist wahrscheinlich in den Nebeln der Geschichte verloren gegangen: am Ende jedenfalls stiegen sie in das Flugzeug und flogen los, am 17. März 1920.

Kapitän Röhm hatte mit seinem typischen Situationsbewußtsein die Mission bereits mit seinen Vorgesetzten geklärt und ein Flugzeug “organisiert”, komplett mit Pilot, welches sie in die Hauptstadt bringen würde. Es war Hitlers allererster Flug. Das Flugzeug war ein offenes Sportflugzeug, pilotiert vom jungen Jagdfliegerleutnant Robert Ritter von Greim, einem Träger des höchsten deutschen Militärordens, des Pour Le Mérite, der aufgrund seiner unverwechselbaren Form und Farbe als “Blauer Max” bekannt war. 25 Jahre später würde der Passagier Adolf Hitler den Piloten von Greim als Nachfolger von Hermann Göring zum letzten Kommandeur der Luftwaffe befördern.

Nach ein paar meteorologischen Schwierigkeiten und einem außerplanmäßigen Zwischenstopp kamen Hitler, Eckart und Greim am Nachmittag des 17. März in Berlin am Flughafen Tempelhof an, am fünften Tag der Regierung von Doktor Kapp. Mit etwas Glück konnten sie ein Taxi anhalten, das die distinguierten Botschafter Bayerns in die Reichskanzlei brachte.

Dort angekommen, wurden sie in das Büro des Kanzlers begleitet, wo sie jedoch nicht vom Amtsinhaber empfangen wurden, sondern dem “merkwürdigen Abenteurer” Trebitsch-Lincoln. (50) Dieses seltsame und durchaus skurrile Wundertier, als ungarischer Jude von Hitler und Eckart nicht unbedingt wohlgelitten, war zum Pressesprecher ernannt worden oder hatte sich, wie einige sagten, selbst zum Pressesprecher des deutschen Reichskanzlers Dr. Wolfgang Kapp ernannt.

Lincoln – ein faszinierendes Unikat, der in seinem Leben Abgeordneter im britischen Unterhaus, Hochstapler, Spion für Deutschland und Großbritannien, für die US-Abwehr tätig und zuletzt in China buddhistischer Mönch war – teilte der Verstärkung aus Bayern düster mit, dass Seine Exzellenz der Kanzler leider nicht zur Verfügung stand. Erschöpft von den Strapazen seiner Amtsgeschäfte, war der Kanzler gerade zum Flughafen Tempelhof aufgebrochen, um ein Flugzeug nach Schweden zu nehmen, wo er dem verdienten Ruhestand zu verbringen beabsichtigte. (An dieser Darstellung gab es später gelinde Zweifel – Kapp war wohl zu dieser Zeit noch in Deutschland untergetaucht.)

Aber der Kapp-Putsch war gescheitert.

Der ehemalige Reichskanzler kehrte freiwillig 1922 aus Schweden nach Deutschland zurück, um sich einem Prozess zu stellen, starb aber am 12. Juni 1922 vor dessen Beginn an einem Krebsleiden.


[46] [47] Read, Anthony, The World on Fire, Norton Books 2008, ISBN 978-0-393-06124-6, S. 319, 320

[48] [50] Toland, John, Adolf Hitler, Anchor Books 1992, ISBN 0-385-42053-6, S. 100, 101

[49] Payne, Robert, The Life and Death of Adolf Hitler, Praeger Publishers 1973. Lib. Con. 72-92891, S. 150

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Das Massaker des John J. Pershing

US Infanterie im Angriff …

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Zwar gelang es der deutschen Armee noch, den Fortschritt der Alliierten Offensiven Ende Oktober zu verlangsamen, aber es war klar, dass dieser Widerstand den nächsten und letzten Akt des Dramas nur verzögerte: irgendwann wäre der Knackpunkt erreicht. Im Fall der Fälle war es des Kaisers Lieblingsspielzeug, die Hochseeflotte.

In diesem Todeskampf des Deutschen Reiches nahmen zwei Gruppen in der deutschen Marine die Sache in ihre eigenen Hände, zuerst die Admirale und danach die Matrosen. Die U – Boot Waffe war auf Anker gelegt worden, aber die Hochseeflotte blieb eine potenziell starke Macht. Erbost über die U-Boot – Entscheidung, beschlossen Scheer und die Seekriegsleitung, die Überwasserschiffe in einer letzten Offensive zu verwenden, und planten eine neue Variante der früheren erfolglosen Versuche , die Grand Fleet über einen U-Boot – Hinterhalt zu locken. Der Unterschied war diesmal, dass die Deutschen beabsichtigten, diese Schlacht auch durchzuziehen , sobald die U-Boote es geschafft hatten, die numerische Überlegenheit der Grand Fleet zu reduzieren.

Ob die Hochseeflotte die geplante Schlacht nun gewinnen oder verlieren werde, war nicht die große Sorge der deutschen Admirale; sie wollten der Grand Fleet zumindest schwere Schäden zufügen. Hipper stimmte mit Scheer überein, dass „ein ehrenvoller Kampf – auch wenn es ein Kampf auf Leben und Tod sein sollte – die Saat für eine neue, zukünftige deutsche Flotte legen würde.“ Neben der Bewahrung dieser [offensichtlich kostbaren] Ehre, könnte eine Schlacht, die der Grand Fleet schwere Schäden zufüge, auch einen günstigen Einfluss auf die Friedensverhandlungen mit Deutschland haben. (42)

Geheimgehalten vor der Reichsregierung, wollte der Plan alles, was schwamm, in den Einsatz gegen die Royal Navy zu schicken: achtzehn Schlachtschiffe vom  Dreadnought-Typ, fünf Schlachtkreuzer, zwölf leichte Kreuzer und zweiundsiebzig Zerstörer. Der taktische Plan war es, den Grand Fleet dazu zu verlocken, die Hochseeflotte über eine Barrikade von Minen und U-Booten hinweg zu verfolgen, welche die britische Übermacht genug verringern würden, den Deutschen zu ermöglichen, die Schlacht zu gewinnen oder glorios unterzugehen. Um die Aufmerksamkeit der britischen Admiralität zu fesseln, hatte Hipper, mittlerweile zum Flottenadmiral befördert, lokale Angriffe auf Häfen und Bombardements von Küstenstädten ins Auge gefasst. Eine spezielle Gruppe von Kreuzern und Zerstörern sollte die Briten aufschrecken, indem sie in die Themse-Mündung segelten und die örtliche Schifffahrt angriffen. Wenn die Grand Fleet nach Süden aufbräche, um die Belästigung zu beenden, stünden die Deutschen bereit. Scheer, jetzt oberster Marinebefehlshaber und Hipper hofften beide, dass „ ein taktischer Erfolg die militärische Position umkehren könne und die Kapitulation abwenden“. (43)

Der Plan

Dies war entweder bemerkenswerter Optimismus oder kompletter Irrsinn. Scheer genehmigte Hippers Plan am 27. Oktober und zweiundzwanzig U-Boote liefen aus, um eine Falle zu stellen. Der Rest der Flotte wurde im Jadebusen gesammelt, wo ihre unerwartete Anwesenheit Aufregung in Hülle und Fülle verursachte. Einige Fälle von Fahnenflucht waren bereits in Cuxhaven aufgetreten, und setzten sich unter den Besatzungen der Schlacht fort, die am 29. Oktober im Jadebusen ankamen. Dass die Konzentration aller großen Schiffe in einem Hafen nichts anderes als eine geplante Operation bedeuten konnte, war klar, und die Gerüchteküche bestätigte bald, dass der nächste Morgen den Befehl zum Ankerlichten bringen würde. Kein Seemann hatte Zweifel, warum. Die Besatzungen der Schlachtschiffe „König“, „Kronprinz Wilhelm“, „Markgraf“, „Kaiserin“‚ „Thüringen“ und „Helgoland“ hissten rote Fahnen und erklärten damit ihre Meuterei. „Die Seeleute auf den Schiffen hatten kein Interesse an einem ehrenvollen Tod für den Ruhm der Flotte; sie wollten ein Ende des Kampfes, Entlassung und die Erlaubnis, nach Hause zu gehen.“ (44)

SMS Thüringen war eines der ersten meuternden Schiffe

Gegen 22.00 Uhr am 29. Oktober fand Hipper die meisten Schiffe seiner Flotte außer Betrieb und als sich die Meuterei am nächsten Morgen auf den Schlachtschiffen „Friedrich der Große“ und „König Albert“ ausbreitete, musste das Auslaufen abgebrochen werden. Um weitere Unbotmäßigkeiten zu verhindern, ordnete Hipper an, die drei Schlachtgeschwader zu trennen und wieder in ihre Heimathäfen Wilhelmshaven , Cuxhaven und Kiel zurückzubeordern . „Thüringen“ und „Helgoland“ bewegten sich jedoch keinen Zoll weit, und Hipper rief ein Bataillon loyaler Marineinfanterie zu Hilfe, das die Besatzungen verhaftete, fesselte und einsperrte. (45)

Soldatenrat des Linienschiffes “Prinzregent Luitpold”.

Hippers Versuche zur Durchsetzung von Disziplin schürten das Feuer nur weiter und durch die Verschickung der Schlachtgeschwader in drei verschiedene Häfen war ihm eigentlich nur eine Weiterverbreitung der Meuterei gelungen. Als das dritte Geschwader am 1. November in Kiel ankam, wurden die Hunderte angeketteter Seeleute von viertausend rebellierenden Seemännern und Werftarbeitern begrüßt, die sich ihrerseits zu Waffen verholfen hatten, indem sie die gut sortierten Arsenale plünderten und die Freilassung der Gefangenen verlangten. Der nächste Tag sah die Errichtung von provisorischen Soldaten- und Arbeiterräten, einen Aufruf der Gewerkschaften zu einem Generalstreik, und 4. November die komplette Übernahme von Hafen und Stadt. Eine Bande von Meuterern versuchte, den kommandierenden Admiral, Prinz Heinrich von Preußen, Wilhelms Bruder, zu verhaften, der …

Matrosen in Kiel demonstrieren nach dem Aufstand 1918.

…  zur Flucht um sein Leben gezwungen wurde und sich hinter einem falschen Bart und einer roten Fahne auf seinem Auto versteckte. Trotzdem wurde das Auto verschiedentlich beschossen, der Fahrer schwer verletzt, und der Prinz gezwungen, das Steuer selbst zu übernehmen und sich schnellstens zur dänischen Grenze bei Flensburg abzusetzen. (46)

Auch die kleineren Schiffe wurden besetzt …

Bald entwickelten sich aus der zuerst lokalen Meuterei offene Aufforderungen zur Revolution, und so wie Küstenschiffe die Nachricht an die kleineren Hafenstädte weiterleiteten, breitete sich der Keim der Empörung per Eisenbahn über das ganze Land aus. Matrosen- und Soldatenräte übermittelten ihre Forderungen an die Bürger jeder Stadt , die sie betraten: einen sofortigen Waffenstillstand, die Abdankung des Kaisers und der Bildung einer neuen, demokratischen und republikanischen Regierung. Dennoch blieben die Nachrichten an vielen Stellen lückenhaft, und in dem Versuch, genau herauszufinden was in Kiel geschehen war, schickte Reichskanzler Prinz Max von Baden eine Delegation aus zwei Reichstagsabgeordneten dorthin: seinen Freund Conrad Haußmann und den ehemaligen Metzger und Journalisten Gustav Noske , einen Vertreter der Sozialdemokraten. Als die Abgesandten im Bahnhof der Stadt ankamen, wurden sie von einer großen Menge begrüßt, deren scheinbar revolutionäre Stimmung Noske überzeugte, eine improvisierte Rede zu halten, in der er im Wesentlichen den Zuhörern versprach, dass ihre Forderungen bald erfüllt werden sollten. Am selbigen Abend konnte er Berlin über die Details des Aufstandes informieren, hinzufügend, dass die Menge ihn zum revolutionären Gouverneur Schleswig-Holsteins gewählt habe. (47)

Die Revolution in Kiel

In der Zwischenzeit verschlimmerte sich das menschliche Leiden an der Westfront wesentlich durch die Rückkehr der sogenannten  Spanischen Grippe, die, trotz ihres Namens, ihren Ursprung wohl in Fort Riley, Kansas, zu haben schien. (48) [FN 1] Es war schon im Sommer zu einem frühen Ausbruch der Seuche gekommen, der die bereits geschwächten deutschen Linien etwa 400.000 Soldaten kostete und eine vergleichbare Zahl der Alliierten, aber der zweite Ausbruch erwies sich als weitaus ansteckender und tödlicher. Die Ankunft amerikanischer Truppentransporter brachte die Epidemie zu den großen Ausschiffungshäfen; die ankommenden Soldaten infizierten die Franzosen, die wiederum die Briten infizierten, und deren beide Kriegsgefangenen wiederum die Deutschen.

Soldaten aus Fort Riley in Camp Funston

[FN 1] Die Influenza – Epidemie von 1918/19 verdient zweifellos einen eigenen Blog – Eintrag. Bitte beachten Sie hier den Artikel in der Wikipedia.

Merkwürdigerweise schlug die Krankheit am schlimmsten bei den Stärksten zu, vor allem bei jungen Männern in ihren besten Jahren. Truppentransporter, beladen mit eng zusammen gepackten Männern, wurden zu schwimmenden Todesfallen. Ein amerikanischer Konvoi hatte bei seiner Ankunft in Brest am 8. Oktober, in der Mitte der Maas-Argonne-Offensive, 4.000 Menschen durch die Grippe verloren, wovon 200 bereits auf See bestattet worden waren. Zweihundert weitere Kranke von der USS Leviathan [der beschlagnahmten deutschen ‘Vaterland‘] starben innerhalb weniger Tage. …

Die Epidemie stellte ein Dilemma für Präsident Wilson dar. Da Militärlager für die Verbreitung der Infektion wie Gewächshäuser wirkten, wurde der Auftrag für die Einberufung von 142.000 Menschen im September abgesagt. Sollte er, fragte sich Wilson, auch die Einschiffung weiterer Truppen abbrechen?

Am 8. Oktober traf er sich mit dem ziemlich ruppigen Stabschef der Armee, General Peyton March , um ihn um seine Ansicht zu bitten. Beiden Männern war klar, dass Soldaten in die überfüllten Schiffe zu stopfen ein Todesurteil für Tausende von ihnen bedeutete. Aber Pershing forderte verzweifelt Ersatz an, zumal 150.000 seiner Männer mit Grippe ausgefallen waren. Nur zwei Tage vor dem Treffen Wilsons und Marchs hatte Prinz Max seinen Friedensappell an den Präsidenten gemacht. Wilson und March wussten, dass weitere Verschiffungen, die im Moment auf durchschnittlich 50.000 wöchentlich angeschwollen waren, der sicherste Weg waren, Deutschland zu besiegen. Wie würden die Deutschen reagieren, wenn sie eine Verminderung dieses Drucks erkannten, falls die amerikanische Arbeitskraft-Pipeline geschlossen wurde? March sagte Wilson „Jeder Soldat, der [an der Influenza] stirbt, hat sicherlich genauso seinen Teil zum Krieg beigetragen wie sein Kamerad, der in Frankreich gestorben ist. Der Versand der Truppen darf auf keinen Fall gestoppt werden.“ Die Truppentransporter fuhren weiter. (49)

Am 27. Oktober teilte Prinz Max Präsident Wilson mit, dass alle seine Forderungen erfüllt werden würden. Technisch gesehen war es natürlich nicht seine eigene Entscheidung , sondern die seines Vetters Wilhelm, aber Max hatte vorsichtigerweise unterlassen, den Kaiser von der Klausel in Wilsons Demarche vom 23. Oktober zu informieren, die die Abschaffung der Monarchie zu fordern schien. Diese – besondere – Brücke würde er überqueren, wenn es der Moment erforderte. Als die Türkei am 30. Oktober um einen Waffenstillstand bat und Österreich am 4. November, fand sich Deutschland im Krieg allein. Die Front hielt noch, wie durch ein Wunder, aber in der Luft hing der Geruch nach Revolution. Am 29. Oktober verließ Wilhelm Berlin in Richtung des Oberkommandos in Spa, in dem fragwürdigen Glauben, dass seine Präsenz in der Nähe der Front den Mut der Soldaten heben würde. Aber es war die Abwesenheit, nicht die Gegenwart, der Person des Kaisers, die eine Art rebellischer Entelechie in der Hauptstadt freisetzte, und die endgültige, entscheidende und irreparable Auflösung des Ancien Régime nach sich zog.

„Die Roten strömen mit jedem Zug aus Hamburg nach Berlin hinein“, schrieb Graf Harry Kessler, eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, Diplomat und Sozialdemokrat, in sein Tagebuch am 6. November. „Ein Aufstand wird hier für heute Abend erwartet. Heute morgen wurde die russische Botschaft überfallen wie eine anrüchige Kneipe und Joffe [der Botschafter] hat sich mit seinen Mitarbeitern abgesetzt. Jetzt sind wir quitt mit diesem bolschewistischen Zentrum in Berlin. Aber vielleicht müssen wir diese Leute doch noch zurückrufen.“ (50)

In der ersten Woche des Novembers wurde die Meuterei der Matrosen von der Unbotmäßigkeit vielen Garnisonen gefolgt, deren mangelnde Bereitschaft, den ungeliebten preußischen Staat zu unterstützen, öffentliche Aufstände erleichterte. Lokale Anarchisten, Spartakisten und Unabhängige Sozialdemokraten stritten sich über verschiedene Formen der Revolution, und Räte übernahmen die Verwaltung der meisten großen Städte. In der ersten Woche im November wurden Rote Fahnen durch die Straßen von Hamburg, Bremen, Köln, DuisburgFrankfurt und München getragen. Aber es war eine merkwürdig stille Rebellion, die durch die Straßen zog – alle Berichte stimmen darin überein; Gewalt, ja sogar leidenschaftliche Diskussionen waren seltsam abwesend. Das jedoch änderte sich schnell genug. Der Spartakusbund,  deutsche Bolschewisten in Verkleidung, hatten unauffällig während der ersten Woche im November ihre Anhänger in der Hauptstadt konzentriert, während ihre Führer, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die deutsche Revolution vorbereiteten.

Karl Liebknecht predigt die Revolution …

Liebknechts Vater Wilhelm war ein persönlicher Freund von Karl Marx gewesen und erreichte sozialistische Heiligsprechung als Mitbegründer der SPD und Herausgeber der Parteizeitung „Vorwärts“. Sein Sohn studierte Jura und Wirtschaft in Leipzig und Berlin, bevor er im Wesentlichen als Anwalt für die sozialistische Bewegung tätig wurde. Er wurde 1912 für die SPD in den Reichstag gewählt und war das einzige Mitglied des sozialistischen Lagers, das im August 1914 gegen die Kriegskredite stimmte. Als ihm klar wurde, dass der Rest der Partei zumindest vorübergehend die Regierung und damit den Krieg unterstützen würde, begann Liebknecht nach Sympathisanten außerhalb der Partei zu suchen.

Zu diesem Ziel gründete er den „Spartakusbund“, die Liga des Spartakus, benannt, natürlich, nach dem thrakischen Sklaven Spartacus, der den Aufstand gegen Rom von 72 bis 70 BC angeführt hatte. Die „Spartakusbriefe“, die Antikriegszeitung der Liga, wurden ziemlich bald verboten, und ihr Gründer und Herausgeber fand sich an der russischen Front wieder, wo er sich zu kämpfen weigerte und schließlich einem Beerdigungskommando zugeteilt wurde. Gesundheitlicher Gründe halber aus dem Dienst entlassen, ging er wieder direkt zur Antikriegspropaganda zurück und leitete die sozialistische Friedensdemonstration am Maifeiertag 1916 durch die Straßen Berlins. Dieses Mal wurde er für vier Jahre wegen Hochverrats ins Gefängnis geworfen, aber bald aufgrund Prinz von Badens Amnestie für politisch Gefangene im Oktober 1918 begnadigt. Sobald er zurück auf den Straßen war, nahm er „seine Führung des Spartakus, in Partnerschaft mit den polnischen Aktivistin Rosa Luxemburg“ wieder auf. (51)

Rosa Luxemburg

Frau Luxemburg war schon früh als Lehrling in das Geschäft der Anzettelung von  Aufständen eingetreten; sie war in den illegalen sozialistischen und anti-zaristischen Bewegungen Vorkriegs-Russlands aktiv gewesen, seitdem sie eine Schülerin war. (52) Rechtzeitig der Aufmerksamkeit der Ochrana entronnen, fand sie sich in der Schweiz wieder, wo ein wohlhabenden Liebhaber ihr ein Studium an der Züricher Universität ermöglichte und half, die illegalen sozialistischen Parteien in Polen und Litauen zu unterstützen. Sie war vielleicht die extremste sozialistische Aktivistin außerhalb Russlands in diesen Jahren und befürwortete die globale und rücksichtslose Revolution. Sie wurde Deutsche per Heirat im Jahre 1903, trat der SPD bei, und fing an, ihr politisches Gewicht hinter den radikalen Flügel zu stellen. Schließlich wurde sie als Faktotum der Weltrevolution bekannt und regelmäßig ins Gefängnis geworfen, von ihrer alten Schweizer Flamme gerettet und wieder eingesperrt. Sie tat sich mit Liebknecht unmittelbar nach ihrer Freilassung durch von Badens Amnestie zusammen und begann die revolutionäre Bürokratie des Spartakusbunds zu organisieren.

Dieses giftige Pärchen, wie Lenin und Trotzki in Russland, sah die gemäßigten Sozialisten der SPD als ihre Hauptfeinde. „Die Partei muss durch die Rebellion der Massen von unten wieder neu aufgebaut werden“, schrieb Luxemburg. Ihre Verbündeten war die pazifistische Linke, die sich von der SPD im Jahr 1917 abgespalten und eine eigene Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD gebildet hatte –  nur geringfügig weniger extrem als der Spartakusbund. Die gemäßigten Sozialisten reagierten, indem sie in „Vorwärts“ höhnisch die „pathologische Instabilität“ des Spartakusbunds mit ihrem eigenen „klaren Kopf und vernünftiger Ruhe“ verglichen. Aber während die gemäßigten Sozialisten sich vernünftig ruhig verhielten, fingen Abordnungen der Spartakisten die aus dem Krieg zurückkehrenden Truppen an den Bahnhöfen ab, um Gewehre, Pistolen und Maschinengewehre zu erbetteln oder zu kaufen. (53)

Inzwischen sah sich Prinz Max mit dem Problem konfrontiert, wie der Krieg und die Monarchie zu beenden wäre, ohne dabei unfreiwillig eine Revolution zu verursachen. Er konzentrierte seine Anstrengungen auf drei entscheidende Fragen: den Ersatz von Kriegsdiktator Ludendorff, die Bildung einer Regierung die in der Lage wäre, das Land friedlich durch die vielen absehbaren Veränderungen zu führen, und, als Voraussetzung für das letztere, die Abdankung seines Vetters Wilhelm. Am 9. November beförderte er General Wilhelm Groener, den Sohn eines württembergischen Unteroffiziers und Transport- und Versorgungsspezialisten, auf Ludendorffs ehemaligen Posten als Generalstabschef und übertrug– völlig illegal – sein eigenes Amt und Autorität als Reichskanzler auf den siebenundvierzig Jahre alten ehemaliger Sattler und Vorsitzenden der SPD, Friedrich Ebert . Die noch verbleibende Aufgabe war die schwerste. Keine bürgerliche, und noch viel weniger eine von Sozialisten geführte Regierung, könne ihre Autorität ausüben, solange der diskreditierte Kaiser noch im Amt verblieb.

Zu dieser Zeit hielt sich Wilhelm noch in Spa auf, den kaiserlichen Kopf voller törichter Phantasien, wie er, sobald der Waffenstillstand unterzeichnet war, seine treuen Armeen zurück nach Deutschland führen würde, um die Ordnung wiederherzustellen. Wie Prinz Max in Berlin zu Recht erkannte, war eine Rückkehr Wilhelms weit davon entfernt, eine Lösung sein – sie war eher das Problem. Berichten zufolge hatten in Metz, dem nächste Ziel der alliierten Offensive, bereits 10.000 deutsche Soldaten gemeutert, einen Soldatenrat gebildet, und die Stadt übernommen. Ähnliche Umstürze der alten Ordnung brachen in ganz Deutschland aus. … Den Frieden ersehnenden Deutschen war klar, dass die einzige Handlung, die die Massen vom Überlaufen in das radikale Lager abhalten würde, die Entfernung des in Verruf geratenen Monarchen war. (54)

In den letzten zehn Tagen seit seiner Ankunft in Spa hatte Wilhelm erfolgreich jeden Bezug zu den Realitäten vermieden und darauf bestanden, dass eine Abdankung indiskutabel war. Nicht an Widerspruch gewohnt, weigerte der Kaiser sich, den Erklärungen des Boten von Prinz Max, dem preußischen Innenminister Drews zuzuhören. Er habe „nicht die Absicht, wegen einiger hundert Juden und tausend Arbeitern dem Thron zu entsagen. Sagen Sie das Ihrem Meister in Berlin.“ (55)

Baden erkannte , dass er persönlich mit seinem Vetter sprechen musste. Am Abend des 8. November rief er Wilhelm am Telefon an und versuchte, durch des Kaisers Starrsinn zu dringen, indem er klarstellte, dass ohne Wilhelms Abdankung ein Bürgerkrieg das Land verwüsten würde. Der Kaiser glaubte ihm kein Wort. Es war undenkbar, erwiderte er, dass die Armee sich weigern würde, ihm zu folgen. Da es, darüber hinaus, Prinz Max gewesen war, der Wilson um einen Waffenstillstand gebeten hatte, nicht Wilhelm selbst, fühlte sich der Kaiser gänzlich unbeteiligt. „Sie haben um den Waffenstillstand gebeten“, sagte er, „also werden auch Sie die Bedingungen akzeptieren müssen.“ (56) Am nächsten Morgen, am 9. November, erschien die Führung der Armee, Hindenburg und Groener, im Hotel Britannique in Spa, um ihrem Souverän einen letzten und notwendigen Besuch abzustatten.

Am 9. November, traf der Kaiser in Spa die Führer seiner Armee, der Institution, durch die die Hohenzollern-Dynastie an die Macht gekommen war, und die deren Würde und Autorität immer aufrechterhalten hatte. Wilhelm II glaubte immer noch , dass, welche Akte der Untreue auch immer von den zivilen Politikern in Berlin begangen würden, welche Angriffe auf Ruhe und Ordnung auch immer die Straßen störten, seine Untertanen in Feldgrau würden ihrem Eid des militärischen Gehorsams treu bleiben. Auch an diesem 9. November fuhr er fort sich einzureden, dass er die Armee gegen das Volk einsetzen könne und damit das Königshaus retten; wenn er nur Deutschen befahl gegen andere Deutsche zu kämpfen.

Seine Generäle wussten es besser. Hindenburg, der hölzerne Riese, hörte ihn in aller  Stille an. Groener, der praktisch denkende Transportoffizier, Sohn eines Sergeants, der nun Ludendorff ersetzt hatte, fand den Mut zu sprechen. Er wusste, aus Umfragen unter fünfzig Regimentskommandeuren, dass die Soldaten jetzt „nur noch eins wollten – einen Waffenstillstand zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ Der Preis dafür, für das Haus Hohenzollern, war die Abdankung des Kaisers. Der Kaiser hörte ihm mit steigender Ungläubigkeit zu. Was ist, fragte er, mit dem Fahneneid, dem Eid auf die Farben des Regiment, der jeden deutschen Soldaten band, eher zu sterben, als nicht zu gehorchen? Groener sprach das Unaussprechliche aus. „Heutzutage“, sagte er, „besteht der Fahneneid nur aus bedeutungslosen Worten. “(57)

In der Reichskanzlei in Berlin, nicht in der Lage, den Ereignissen in entfernten Spa zu folgen, konferierte von Baden mit Ebert über die Situation auf der Straße. Ebert warnte, dass, wenn die Abdankung sich weiter verzögere, ein Staatsstreich von Spartakus und USPD in jeder Stunde wahrscheinlicher werde. Da Prinz Max sich im Klaren darüber war, dass die Monarchie wohl oder übel nicht mehr zu halten war, diktierte er, der Wirklichkeit vorgreifend, einem Mitarbeiter der Wolff-Telegraphen-Agentur in Berlin die Meldung, „Der Kaiser und König hat sich entschlossen, auf den Thron zu verzichten.“ ( 58)

Feuerwerk der deutschen Hochseeflotte in Wilhelmshaven nach der Abdankung des Kaisers
“Der Kaiser hat abgedankt!” – 2. Extra-Ausgabe des “Vorwârts” vom 9. November 1918.

Als das sensationelle Telegramm binnen weniger Minuten zur Aufmerksamkeit der Konferenz in Spa gebracht wurde, explodierte Wilhelm in einer Philippika gegen alle Verräter, zivile und militärische, aber war schließlich gezwungen zu erkennen, dass das Spiel aus war. Um 3:30 Uhr am Samstag, den 9. November 1918, gab er den Thron auf, und das Ende des Zweiten Kaiserreichs war gekommen; 47 Jahre und 10 Monate nach seiner Gründung im Spiegelsaal von Versailles. Auf Hindenburgs Rat verließ Wilhelm Spa in den frühen Morgenstunden des 10. November, und ging ins Exil auf Schloss Amerongen in den Niederlanden, den Sitz des Grafen Godard Bentinck, der für die nächsten 23 Jahre sein Gastgeber sein würde. (59)

Wilhelm II an der holländischen Grenze auf dem Weg ins Exil

Inzwischen entwickelten sich die Ereignisse in der Hauptstadt Hals über Kopf. Philip Scheidemann, der stellvertretende Vorsitzende der SPD, war von der Reichskanzlei in den Reichstag gestürmt, um seine Kollegen über Eberts Termine zu informieren. Während eines wohlverdienten Mittagessens in der Cafeteria wurde ihm mitgeteilt, dass Spartakus und USPD ihre Anhänger zum Stadtpalast des Kaisers zusammengerufen hatten, angeblich zur Verkündigung der Revolution und Proklamation einer deutschen Sozialistischen Sowjetrepublik. Geschwindigkeit war nun von fundamentaler Wichtigkeit.

Philipp Scheidemann am Fenster der Reichskanzlei in Berlin bei der Proklamation der Deutschen Republik.

Scheidemann stürmte auf die Terrasse vor der Reichstagsbibliothek, wo er von einer zwischen Hoffnung und Furcht schwankenden Menge bejubelt wurde. Improvisierend informierte Scheidemann die Menschen über die Ernennung Eberts zum Kanzler und die Schaffung einer neuen, republikanischen und demokratischen Regierungsform und beendete seine kurze Ansprache mit den Worten: „Die verfaulte alte Monarchie ist zusammengebrochen. Lang lebe das Neue! Es lebe die deutsche Republik!“(60) In der Zwischenzeit waren Delegationen der Spartakisten in Fabriken, Kasernen und Kasernen erschienen und hatten eine Menge von Tausenden von Anhängern mobilisiert, die zum Königlichen Schloss marschierten. Liebknecht begrüßte die revolutionäre Versammlung vom Balkon des Gebäudes herab, von wo der Kaiser früher seine Untertanen adressiert hatte:

„ Kameraden!“, rief er. „Die rote Fahne fliegt über Berlin! Das Proletariat marschiert. Die Herrschaft des Kapitalismus , die Europa in einen Friedhof verwandelt hat , ist vorbei. Wir müssen unsere Stärke sammeln, um eine neue Regierung der Arbeiter und Bauern zu bilden, und eine neue Ordnung des Friedens und die Freude und Freiheit nicht nur für unsere Brüder in Deutschland, sondern für die ganze Welt zu erschaffen. Wer entschlossen ist, den Kampf nicht einzustellen, bis die freie sozialistische Republik und die Weltrevolution verwirklicht ist, soll seine Hand heben und schwören!“ Die Menge brüllte zurück ‘Wir schwören’“. Aber Liebknecht kam zwei Stunden zu spät. (61)

Ebert hatte schnell gehandelt und bereits die USPD, Liebknechts einzig mögliche Unterstützer, davon überzeugt, in eine Koalition mit der SPD einzutreten, indem er der kleineren Partei einen gleichen Anteil bot, drei von sechs Sitzen in der provisorischen Regierung. Die neue Exekutive nannte sich „Rat der Volksbeauftragten“  und es wurde erwartet, dass sie sich die Verwaltung mit dem Arbeiter- und Soldatenrat der Hauptstadt teile, bis eine Nationalversammlung eine Verfassung erlassen und anschließend eine legitime Regierung beauftragen konnte. Ebert vorsichtiges Manövrieren überzeugte auch die liberalen und katholischen Interessen in der Hauptstadt und in weiten Teilen des Landes, die früher gefürchtete SPD als tragende Säule der neuen Republik zu unterstützen und damit hatte die neue Regierung zumindest die Legitimität populärer Unterstützung.

Dies alles unter der Voraussetzung, dass die Revolution in Schach gehalten werden könne. Dies schien in der Tat der Fall zu sein: außer ein paar Scharmützeln am Samstagabend und Sonntag, dem 10. November, blieb Berlin ruhig, und nachdem die Frage einer deutschen Republik jetzt aus dem Bereich der Möglichkeit zur Wirklichkeit geworden war, richteten sich die Augen der Nation zurück an die Westfront. Der Krieg war noch im Gange, und das Alliierte Oberkommando hatte bereits die nächste Offensive geplant; gegen Metz, am 14. November, und weitere Angriffe waren bis weit in das Jahr 1915 vorgesehen.

Der amerikanische Oberbefehlshaber John J. „Black Jack“ Pershing, der jetzt fast zwei Millionen „Doughboys“ unter seinem Kommando hatte, ersehnte sich eine baldige Vermehrung seines militärischen Prestiges durch die Eroberung von Sedan, das bei weitem die attraktivste Ziel in dem südöstlichen Teil der Front war. Es war die Stadt, wo die deutsche Armee die Franzosen im Jahr 1870 geschlagen und Napoleon III und 100.000 Poilus zu Kriegsgefangenen gemacht hatte.

Matthias Erzberger

Inzwischen hatte Prinz Max am 7. November eine Delegation für die Aushandlung des Waffenstillstands zu den französischen Gräben in der Nähe von Haudroy entsandt. Die Abordnung wurde von Matthias Erzberger geleitet, dem Vorsitzenden der deutschen katholischen Zentrumspartei, die von Badens informelle Regierung unterstützte. Er war ein bekannter Pazifist und das einzige bekannte Gesicht in der deutschen Gesandtschaft, die, mit Ausnahme von ihm selbst, aus Funktionären der mittleren Ebene aus dem Auswärtigen Dienst, Armee und Marine bestand. (62) Die Botschaft wurde mit dem Zug zu einem Eisenbahnwagen im Wald von Compiègne transportiert, fünfundsechzig Kilometer nordöstlich von Paris, und mit einer erwartet schroffen Behandlung durch Foch und General Weygand konfrontiert. Die Waffenstillstandsbedingungen waren wie folgt:

Marschall [Ferdinand] Foch vor seinem Salonwagen im Walde von Compiégne, Der zweite von links ist [Maxime] Weygand.

Alle besetzten Gebiete in Belgien, Luxemburg und Frankreich sowie Elsaß-Lothringen, seit 1870 von Deutschland besetzt, müssen innerhalb von vierzehn Tagen evakuiert werden; die Alliierten würden Deutschland westlich des Rheins und Brückenköpfe am Ostufer des Flusses in dreißig Kilometer Tiefe besetzen; alle deutschen Truppen müssen aus Österreich-Ungarn, Rumänien und der Türkei zurückgezogen werden und Deutschland hat 10 Schlachtschiffe, 6 Schlachtkreuzer, 8 Kreuzer und 160 U – Boote an alliierte oder neutrale Häfen auszuliefern. Sie muss alle schweren Waffen abliefern, darunter 5.000 Artilleriegeschütze, 25.000 Maschinengewehre und 2.000 Flugzeuge.

Die nächste Forderung versetzte die deutsche Delegation in tiefste Verzweiflung. Obwohl die Hungersnot im Lande wütete, beabsichtigten die Alliierten die Transportkapazitäten des Landes durch die Fortsetzung der Seeblockade und Konfiszierung von 5.000 Lokomotiven, 150.000 Eisenbahnwaggons und 5.000 Lastwagen zu lähmen. Weygand leierte vierunddreißig Bedingungen herunter, von denen die letzte Deutschland für den Krieg verantwortlich machte und Reparationen für alle Schäden forderte. (63)

Frühe französische Pläne für eine Teilung Deutschlands

Der deutschen Delegation wurde eine 72-Stunden-Frist gewährt und die Gelegenheit eingeräumt, die alliierten Forderungen per Funk an Berlin zu vermitteln. Erzberger war sich bewusst, dass die auferlegten Bedingungen viel zu scharf waren, um dem Radio anvertraut zu werden, welches abgehört werden könnte, und liess Prinz Max lediglich ausrichten, dass ein Kurier auf dem Weg sei. Dann bat er um eine vorläufige Einstellung des Kampfes, bis die Antwort empfangen werden könne, und wies darauf hin, dass damit viertausend Leben oder mehr pro Tag gerettet werden können. Um Pershing einen Gefallen zu tun, der wütend war, dass seine großer Entwurf der Eroberung Deutschland nun vereitelt schien und zur höheren Ehre der amerikanischen Expeditionary Forces und seiner eigenen auf Kampf bis zur letzten Minute bestand, weigerte sich Foch, das Gemetzel einzustellen.

Die Erzberger-Mission übernachtete im Wald von Compiègne in der Nähe von Fochs Eisenbahnwaggon und entwarfen Protestbriefe, die, wie sie hofften. vielleicht einen mäßigenden Einfluss auf die alliierten Bedingungen zeitigen würden. Um 8 Uhr abends am 10. November erhielten sie einen französischen Bericht über eine abgefangene Nachricht aus Berlin, die Erzbergers Vollmachten bestätigte und ihn ermächtigte, das Instrument des Waffenstillstandes zu unterzeichnen.

Danach wurde eine zweite Nachricht Hindenburgs empfangen, die die Echtheit des ersten Signals bestätigte und Erzberger anwies zu versuchen, im Interesse der hungernden Frauen und Kinder um die Aufhebung der Seeblockade nachzusuchen. Um 2 Uhr am nächsten Morgen, den 11. November, wurde die deutsche Delegation zurück in den Eisenbahnwaggon zu einer zweiten Runde Gespräche geführt.

Foch blieb jedoch unnachgiebig, und die einzige Mäßigung der Konditionen. die Erzberger erreichte, war, dass die Alliierten „die Versorgung Deutschlands während des Waffenstillstands in Erwägung zögen, sollte diese als erforderlich eingestuft werden.“ (64) Der Waffenstillstand wurde kurz nach 5.00 Uhr morgens unterzeichnet, mit Wirkung von 11.00 Uhr des gleichen Tages, also in sechs Stunden, und die Sitzung wurde unterbrochen. Alles was die Soldaten auf beiden Seiten des Drahtes nun tun mussten, war noch sechs Stunden in ihren Gräben zu verweilen und das Abschlachten wäre vorbei.

Erzberger bei der Unterzeichnung

Das heißt, für alle mit Ausnahme der AEF, die von Pershing angewiesen wurden, die für diesen Tag geplanten Angriffe ohne Berücksichtigung des Waffenstillstandes um 11:00 Uhr wie geplant fortzusetzen. Da Foch die Bedingungen des Waffenstillstands allen alliierten Kommandanten mitgeteilt hatte – darunter natürlich auch Pershing – war schon im Vorfeld klar, dass aller Boden, der den Deutschen in so einer Last-Minute-Offensive abgerungen werden könne, von den Deutschen ohnehin innerhalb zweier Wochen aufgeben werden musste.

Pershing hatte seine Regiments- und Divisionskommandeure darüber informiert, dass ein Waffenstillstand mit Wirkung 11.00 Uhr in Kraft treten würde, aber befahl seinem Stabschef, dass von 5.00 bis 11.00 Uhr, die AEF „ jeden Vorteil aus der Situation“ ziehen sollte. (65) Neun der sechzehn US Divisionskommandeure an der Westfront interpretierten das Fehlen spezifischer Befehle als Anreiz, die geplanten Angriffe zu starten; sieben verzichteten darauf, um nicht sinnlos ihrer Männer Leib und Leben zu gefährden.

Also griffen neun US-Divisionen den Feind am Morgen des 11. November an und da die Deutschen gezwungen waren, sich zu verteidigen, ob sie wollten oder nicht, wurden fast 11.000 Opfer der Gesamtheit der Kriegsverluste unnötig hinzugefügt. Mit mehr als 2700 Toten am Ende dieser wenigen Stunden übertraf dieser letzte halbe Tag die durchschnittliche tägliche Verlustrate von 2.000 Toten bei weitem.

Betrachtet man diese Verluste in der richtigen Perspektive, so wurden während der  D-Day-Invasion in der Normandie am 6. Juni 1944, fast 26 Jahre später, Gesamtverluste um die 10.000 (für alle Seiten) berichtet. Also waren die Gesamtverluste des (halben) Waffenstillstandstags fast 10 Prozent höher als die am D-Day. Es gab jedoch einen großen Unterschied. Die Männer, die die Strände der Normandie erstürmten, kämpften um den Sieg. Die Männer des Waffenstillstandstags starben in einem Krieg, der bereits entschieden war. (66)

Um 11:00 Uhr am 11. November 1918 beendeten die Kanonen das Feuer entlang der Westfront. Aber es war erst in der Zeit nach dem großen Konflikt, dass die Mitglieder der alten Kaiserhäuser realisierten, für wie lange schon – in Wahrheit –  sich ihre Relevanz und Autorität vermindert hatte, ohne dass sie es bemerkten. Denn es hatte sich herausgestellt, dass die Macht der Hohenzollern, Habsburg und Romanov-Dynastien nicht erst im Februar 1917 oder November 1918 beendet war, sondern in Wirklichkeit bereits im Sommer 1914 oder sogar noch früher – in ihrem Betreiben, den alten Kontinent in unnötigen Krieg und Pestilenz zu treiben, hatten sie, ach, die Schatten des Nationalismus und Sozialismus übersehen, die sich in ihrem Rückspiegel zusammenbrauten – eifrig darauf aus, das imperiale Erbe zu übernehmen.


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[42] [43] [44] [45] Massie, Robert K., Castles of Steel, Ballantine Books 2003, ISBN 0-345-40878-0, S. 773, 775, 775, 776

[57] Keegan, John, The First World War, Vintage Books 2000, ISBN 0-375-40052-4361, S. 418-419

[48] [49] [54] [55] [56] [58] [59] [62] [63] [64] [65] [66] Persico, Joseph, 11th Month, 11th Day, 11th Hour, Random House 2004, ISBN 0-375-50825-2, S. 303, 304-5, 315-16, 316, 317, 318, 318, 306, 307-8, 323, 325, 378-9

[46] [47] [50] [51] 52] [53] [60] [61] Read, Anthony, The World on Fire, Norton Books 2008, ISBN 978-0-393-06124-6, S. 26, 27, 28, 29, 29, 30, 32, 32

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Stefan Zweig und die Welt von Gestern

Stefan Zweig im Garten seines Salzburger Hauses

In der postliterarischen und schnelllebigen Welt von heute ist es schwer, dem Publikum die Beliebtheit und Bedeutung sowohl der historischen als auch der belletristischen Werke ans Herz zu legen, die Stefan Zweig (* 28. November 1881 in Wien; † 23. Februar 1942 in Petrópolis, Brasilien) vor allem in den Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg weltweit genoss, und noch heute genießt.

Er war kein forschender Historiker – die Welt der Universitäten langweilte ihn und nachdem er, nolens volens, bei Friedrich Jodl in Wien seinen Doktor gemacht hatte – wie er in “Die Welt von Gestern” humorvoll erzählt – brach er in ein kosmopolitisches Leben auf. Not musste er nicht befürchten – er kam aus einer reichen internationalen Kaufmannsfamilie, die anfänglich seinen Schreibversuchen äußerst skeptisch gegenüberstand, aber sich von seinem Erfolg rasch überzeugen liess.

Zweig ist zu Recht heute noch für seinen ganz eigenen Stil berühmt, der behutsame psychologische Deutung des Menschen mit den Umständen seines Lebens in brillantem Stil und geschickter Erzählung verbindet. Es mag untypisch klingen, aber der mit Zweig unvertraute Leser möge sich bei dieser Gelegenheit vielleicht zuerst mit einem kurzen literarischen Werk vertraut machen, das der Autor hier präsentiert – der Kurzgeschichte “Brief einer Unbekannten” (Link zu Gutenberg, auch deutsche PDF hier) bzw. “Letter from an Unknown Woman” (Englische PDF hier). Ohne Zweigs Stil und Schreibweise kennengelernt zu haben, mag vieles in diesen Beitrag unverständlich bleiben.

Wie gesagt, Zweig war kein Historiker im disziplinären Sinne – er war ein Erforscher der menschlichen Seele, und da er ein ausgezeichneter Vertreter dieser Gattung Forscher war, wurden seine Betrachtungen historischer Personen weltberühmt. Wie wir berichten müssen, hatte er auch Grund, an sich selbst manche Abgründe der Seele zu beobachten, was sein Auge um so schärfer machte.

Der österreichische Germanist und Journalist Ulrich Weinzierl veröffentlichte 2015 das Buch “Stefan Zweigs brennendes Geheimnis“, in welchem er eine jugendliche Veranlagung Zweigs zum Exhibitionismus und Zuneigung zu jungen Prostituierten diagnostizierte [siehe Artikel von Jan Küveler in der WELT]. Beide Ehefrauen waren ja auch auffällig schlank und knabenhaft. Polizeibekannt wurde offenbar nie etwas und deshalb muss man in diesem Zusammenhang wohl auch nicht näher darauf eingehen. Wirklich wundern muss man sich in Bezug auf jüngere Mädchen vielleicht nicht – die Hälfte der hunderttausend Prostituierten in Wien war unter 12 Jahren alt.

Schon mit 16 Jahren erlebte er zuerst vereinzelte Veröffentlichungen seiner Gedichte in Wiener Zeitungen, mit 20 Jahren erschien sein erster Gedichtband “Silberne Saiten” und 1904 sein erster Roman. Sein Tagwerk verbrachte er als Feuilletonist der berühmten Wiener Zeitung “Neue Freie Presse” (heutzutage ‘Die Presse’), unter der Anleitung des berühmten damaligen Chefredakteurs und Begründer des Zionismus Theodor Herzl.

Dem Weltkrieg entkam er größtenteils als untauglich Gemusterter, arbeitete aber bis 1917 als Freiwilliger im österreichischen Kriegsarchiv mit, wo er sicher sein konnte, dass allfällige Schlachten nur mit Buchstaben ausgetragen wurden.

Die Welt von Gestern – The World of Yesterday

Als überzeugter Pazifist zog er nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst 1917 in die neutrale Schweiz über, wo er weiterhin als freier Schriftsteller und Korrespondent für seine Zeitung tätig war. Am 24. März 1919 reiste er wieder nach Österreich zurück, zufällig an dem gleichen Tag, als der letzte Kaiser Karl I am selben Bahnübergang das Land verließ, um ins Exil zu gehen – er beschrieb die zufällige Begegnung später in seiner berühmten Autobiographie “Die Welt von Gestern” [Link zu Gutenberg]. Er nahm seinen Wohnsitz in Salzburg, wo er schon während des Krieges das marode Paschinger Schlössl auf dem Kapuzinerberg gekauft hatte. 1920 heiratete er die Autorin Friederike Maria Burger, geschiedene von Winternitz, die die Töchter Alexia und Susanne mit in die Ehe brachte.

Friederike
Das Paschinger Schlössl

In Salzburg entstand das hochgelobte Buch “Sternstunden der Menschheit” [Link zu Gutenberg], in dem Zweig begann, sich mit den entscheidenden Momenten historischer Persönlichkeiten in romanhaft zugespitzten Erzählungen zu beschäftigen. Er schreibt im Vorwort: „Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines Einzelnen und selten im Laufe der Geschichte. […] Ich habe sie so genannt, weil sie leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen.“

Stefan Zweig vor seiner Salzburger Villa

Zweig war ein klassischer Liberaler, Denkzwängen und Autorität abhold, und daher ein natürlicher Feind des in Österreich an Boden gewinnenden Nationalsozialismus. An Forschung und Entwicklung interessiert, war er einer der frühesten Unterstützer Sigmund Freuds. Er war “Jude aus Zufall”, wie er selbst sagte, absolut unreligiös, aber er sah die aus Deutschland nahenden Zeichen der Zeit voraus. Hitlers Domizil auf dem Obersalzberg lag ja in Sichtweite seines Hauses. Verlegerisch war Zweig schon früh mit dem bis heute bestehenden Insel-Verlag verbunden, der all seine Werke veröffentlichte. 1933 verfasste er in Salzburg auch das Libretto für die Oper Die schweigsame Frau von Richard Strauss.

Die Familie im Garten

Nachdem die österreichischen Nationalisten Demokratie und Parlament abgeschafft und durch einen austrofaschistischen Ständestaat ersetzt hatten, ließen sie am 18. Februar 1934 im Haus des dezidierten Antifaschisten Zweig eine Hausdurchsuchung nach angeblich versteckten republikanischen Waffen durchführen, die natürlich nichts einbrachte, aber den Hausherrn so erboste, dass er sich zwei Tage später in den Zug nach London setzte und ins Exil ging.

In den Salzburger Jahren entstanden seine drei wohl bis dahin berühmtesten Werke – 1929 erschien seine Biographie von Joseph Fouché – Polizeiminister in der Französischen Republik, während des Direktoriums, unter Napoleon und im Königreich, genannt das “Bildnis eines politischen Menschen.” Es wurde ein Welterfolg trotz des sperrigen Sujets und wurde ob der politischen Rücksichtslosigkeit des Titelhelden auch von Nazis gerne gelesen. 1933 erschien “Marie Antoinette. Bildnis eines mittleren Charakters” [Link zu Gutenberg], das ebenfalls großen Anklang fand und 1935 “Maria Stuart” [Link zu Gutenberg]. In Nazi-Deutschland war der Verkauf seiner Bücher ab 1935 verboten, aber der österreichische Herbert Reichner Verlag Wien verlegte und verkaufte sie weiter – die österreichischen Nazis zeigten sich weniger empfindlich gegenüber jüdischen Autoren, die jede Menge Geld ins Land brachten.

Da er bis 1938 in Österreich weiter verkaufen konnte und seine Werke danach im neutralen Schweden weitergedruckt wurden und weltweit – mit Ausnahme Deutschlands – beliebt blieben, konnte er finanziell gut überleben. Er schrieb weiter, u.a. den Roman “Ungeduld der Herzens” [Link zu Gutenberg], der dreimal (1946, 1970, 1979) verfilmt wurde. Privat jedoch würde sich in London einiges ändern.

Er hatte sich in London auf eine Liaison mit seiner neuen Sekretärin Charlotte Altmann eingelassen, die er 1939 heiratete, nachdem seine Ehe mit Friederike im November 1938 geschieden worden war. Im Juli des Jahres zog er nach Bath und begann an einer Biographie von Honoré de Balzac zu arbeiten. Er hatte die britische Staatsbürgerschaft angenommen, aber zog es vor, 1940 den Atlantik in Richtung Amerika zu überqueren, besorgt, dass die Engländer nach dem Anschluss Österreichs ihn im Kriegsfall als “Enemy Alien” behandeln und inhaftieren würden (was sie dann auch praktizierten).

Datum zweifelhaft, evtl. 1940
Ankunft in Brasilien

Über New York, Argentinien und Paraguay kam er im Jahr 1940 endlich nach Brasilien, wo er aufgrund seiner Popularität eine unbegrenzte Einreiseerlaubnis besaß. Er versprach, im Gegenzug für die bevorzugte Behandlung ein Buch über Brasilien zu verfassen (“Brasilien”, Link zu Gutenberg]. In Brasilien schrieb er außer einigen nicht fertig gewordenen Werken und Romanen die “Schachnovelle” [Link zu Gutenberg] und schließlich “Die Welt von Gestern” (s.o.)

Mit Charlotte in Brasilien

Das Leben in Brasilien war nicht so schön, wie es das Paar sich zuerst ausgemalt hatte. Lotte litt unter Asthma und das feucht-schwüle Klima in Petrópolis, wo sie sich niederließen, peinigte sie sehr.

Das Haus in Petropolis

Auch Zweig selbst ging es psychisch immer schlechter. Der Aufstieg von Faschismus, Nationalsozialismus und schließlich der Krieg hatten eine bei ihm wohl latent vorliegende Neigung zu Depressionen stark verschlimmert. Das Paar beschloss, dem Leben zu entfliehen.

Wohl am Vormittag des 22. Februar 1942 verfasste Zweig einen Abschiedsbrief, in welchem er schrieb, er werde „aus freiem Willen und mit klaren Sinnen“ aus dem Leben scheiden. Die Zerstörung seiner „geistigen Heimat Europa“ hatte ihn seinem Empfinden nach entwurzelt, seine Kräfte seien „durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft“. [Link zum Text]

Am Nachmittag des folgenden Tages wurde das Paar auf ihrem Bett gefunden, aneinander gelehnt. Der Totenschein stellte eine Vergiftung durch Veronal fest – eine leere Flasche wurde auf dem Beistelltisch gefunden. Die Beerdigung fand in Petrópolis statt, wo sich auch das Grab bis heute befindet.

Beerdigung
Grabmal

Stefan Zweig wird nicht nur als einzigartiger historischer Schriftsteller in der Erinnerung der Menschheit weiterleben, sondern auch als großer Europäer und Pazifist. In einem großen Artikel im TAZ-Blog schreiben Matthias Matussek, Christa Zöchling und Joachim Lottmann über ihre Gedanken zu dem großen und gequälten Stefan Zweig – [Link].


(© John Vincent Palatine 2019)

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Der Zaubertrank des Woodrow Wilson

Rechts Wilsons wichtigster Berater, Colonel House

Trotz der sich verschlechternden Lage an der Heimatfront – mehr als eine Million Arbeiter hatten bereits ab Januar 1918 an Streiks teilgenommen und Hunderte von Frauen und Kindern erlagen jeden Tag der Unterernährung – hatten die deutsche Armeen im Spätsommer des Jahres 1918 viel von ihrem Elan wiedergewonnen und die Ende September beginnenden  Alliierten Offensiven kamen, „zu Fochs Verärgerung“ (29) eher langsam voran. In der Mitte der Front überquerte eine kombinierte französisch-britische Offensive in der zweiten Woche des Oktobers zwar die Hindenburg-Linie, aber der Angriff in Flandern, bei Ypern, hatte große Schwierigkeiten gegen den Widerstand von Rupprechts Bayern und es dauerte drei Wochen, um Lille zu erobern , nur zehn Meilen hinter der Front. Die amerikanischen Offensiven bei Verdun und im Forst der Argonnen blieben für den Ausgang des Krieges praktisch folgenlos.

Aber was immer auch die defensiven Erfolge der deutsche Armee erreichten, sie konnten das Ende des Krieges nur verzögern, nicht verhindern. Die numerische Stärke der Verteidiger war im Oktober auf weniger als 2,5 Millionen Mann geschrumpft, und nur wenig Ersatz stand zur Verfügung, obwohl die deutsche Armee bis zum 6. November (30) frische Rekruten  einzog.  Am 28. September konnte sich sogar Ludendorff nicht mehr der Realität entziehen. Nach einer wütenden Philippika gegen den Kaiser, die Regierung, die Armee, die Marine und das Universum, die sich gegen ihn verschworen hatten, informierte er Hindenburg, dass der Krieg verloren war und unverzüglich ein Waffenstillstand abgeschlossen werden musste. Am nächsten Tag wurde eine zweite Konferenz in Spa abgehalten; anwesend waren Wilhelm II, Hindenburg, Ludendorff, Kanzler Hertling und der neue Außenminister Paul von Hintze.

Der Krieg tobte weiter …

Nach langwieriger Diskussion wurde eingesehen, dass, angesichts der praktisch unbegrenzten amerikanischen Ressourcen an Menschen und Material, der Krieg nicht gewonnen werden könne. Deutschlands Verbündete waren am Rande des Zerfalls – Bulgarien hatte bereits kapituliert und die österreichisch-ungarischen und türkischen Truppen weigerten sich zu kämpfen – keine Hoffnung blieb, die Niederlage zu vermeiden. Unter diesen Umständen beschloss die Konferenz, etwas im Trüben herumzufischen und die bestmöglichen Friedensbedingungen zu eruieren. Man erinnerte sich, dass der Präsident der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson am 8. Januar 1918 seine Vorstellungen vom Frieden und einer zu schaffenden neuen Weltordnung in einer Rede an den US-Kongress und die Weltpresse dargestellt hatte – die berühmten „Vierzehn Punkte“.

Redetext des Präsidenten der Vereinigten Staaten bei der gemeinsamen Sitzung der beiden Häuser des Kongresses, am 8. Januar 1918.

Diese Punkte schlugen im Wesentlichen die Schaffung einer neuartigen internationale Ordnung vor, in der die Beziehungen zwischen den Nationen transparent sein sollten, Kolonialvölker selbst bestimmen sollten, wie und von wem sie regiert würden, die Seefahrt frei sein würde, freier Handel die Norm sein sollte, und eine Weltregierung, eine Liga der Nationen, gebildet werden sollte. Die vierzehn Punkte setzen auch den Preis fest, den Deutschland für den Frieden zahlen müsse. Es müsse jeden Zoll des in diesem Krieg eroberten Territoriums aufgeben, als auch Elsass-Lothringen, das es Frankreich vor fast einem halben Jahrhundert weggenommen hatte. (31)

Die Teilnehmer der Konferenz prüften bereitwillig Wilsons Worte in Bezug auf die entscheidende Frage; die der finanziellen Folgen und des Verlusts oder Gewinns von Territorien:

Laut Wilson solle es keine Annexionen, Schadensersatz oder Reparationen geben, … nationale Bestrebungen müssten respektiert werden, und Völker dürften nur mit ihrer eigenen Zustimmung regiert und beherrscht werden. „Selbstbestimmung“ sei … „das oberste Gebot künftiger politischer Aktionen, die Staatsmänner von nun an nur auf eigene Gefahr ignorieren könnten“. (32)

Wilsons Vorschläge wurden als durchaus akzeptabel erachtet, obwohl der Kaiser und die Generäle immer noch die Hoffnung hegten, dass Elsass-Lothringen und Polen dem Reich erhalten werden könnten. Doch als sofortige öffentliche Demonstration Deutschlands Friedensbereitschaft akzeptierte der Kaiser den Rücktritt des 75 Jahren alten Kanzlers Hertling und ernannte an dessen Statt am 3. Oktober seinen 51 Jahre alten Cousin, Prinz Max von Baden.  

Woodrow Wilson

Die meisten Darstellungen bezeichnen den neuen Kanzler als „liberal“, weil Ludendorff ihn so nannte; aber „liberal“ war Prinz Max nur in dem Sinne, dass Nero und Caligula Liberale waren – im Vergleich zu Attila dem Hunnen. Er war natürlich ein überzeugter Monarchist und hatte null Sympathien für liberale oder, schlimmer noch, sozialistische Reformen, aber er war nicht, wie sein Schwager Wilhelm, komplett der Wirklichkeit entfremdet. (33) Es ist wahr, dass er einst im Komitee des Deutschen Roten Kreuzes gearbeitet und im Jahre 1917 öffentlich die Möglichkeit eines Verhandlungsfriedens erwähnt hatte, und damit war er bei Kontakten zu Wilson weit weniger kompromittiert als, sagen wir, Ludendorff oder Wilhelm selbst es gewesen wären.

Prinz Max verstand die Dringlichkeit. die deutsche Regierung möglichst schnell mit einigen demokratischen Gesichtern zu dekorieren. Er kontaktierte die großen Parteien des Reichstags und sicherte sich, ihren Patriotismus ansprechend, die Unterstützung der Liberalen, des katholischen Zentrums und zum ersten Mal in der Geschichte auch die Hilfe der SPD, zwei derer Abgeordneten der Baden-Regierung beitraten. (34) Die neue Regierung machte sich an kleinere demokratische Änderungen der alten Reichsverfassung und am 5. Oktober teilte von Baden der amerikanische Regierung – über die Schweiz – mit, dass Deutschland um einen Waffenstillstand auf Grundlage der Vierzehn Punkte nachsuche.

Die Vierzehn Punkte als PDF

Eine erste Antwort wurde am 8. Oktober erhalten –  von Außenminister Robert Lansing – der, im Namen seines Präsidenten, den sofortigen Abzug der deutschen Truppen aus den besetzten Teilen Belgiens und Frankreichs als Grundbedingung für einen noch zu verhandelnden Waffenstillstand forderte. In seiner Antwort vom 12. Oktober versprach Baden, die Forderung zu erfüllen, und die deutschen Evakuierungen begannen schon am folgenden Tag.

Am 14. Oktober verlangte eine zweite Note, diesmal von Wilson selbst, das Ende der „illegalen und unmenschlichen Praktiken “ (35) des deutschen U – Bootkriegs und Baden gelang es bis zum 20. Oktober, die U-Boote nach Hause zu schicken, gegen den erbitterten Widerstand der Admiralität. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass weder Wilson noch andere US-Vertreter jemals forderten, die – offenbar rechtmäßige und humane – Kontinentalsperre der Royal Navy zu beenden.

Eine dritte Note wurde am 16. Oktober empfangen und diese brachte den neuen Kanzler wirklich in Verlegenheit, da sie seinen Vetter Wilhelm direkt zu implizieren schien. Das Memorandum verlangte , dass die „willkürlichen Kräfte“, die den „Frieden der Welt“ bedrohten, zu entfernen waren, bevor formelle Friedensverhandlungen eingeleitet werden konnten. Von Baden und sein Kabinett interpretierten dies mindestens als eine unverhüllte Forderung nach der Abdankung Kaiser Wilhelms, vielleicht sogar nach Abschaffung der Monarchie und der Errichtung einer deutschen Republik. Diese Ansicht wurde von einem weiteren Schreiben unterstützt, welches Berlin am 23. Oktober erreichte, und klarstellte, dass, wenn die Vereinigten Staaten sich „ mit den militärischen Meistern und monarchischen Autokraten Deutschland beschäftigen müsse, sie nicht Friedensverhandlungen, sondern die Kapitulation verlangen müssten.“ (36)

Diese plumpe Erpressung, beispiellos im diplomatischen Procedere, wurde zu einer politischen Bombe von größtem Ausmaß und führte zu größeren Auswirkungen als vielleicht jedes andere diplomatische Dokument des 20. Jahrhunderts. Zu der Zeit, als Wilson seine Notiz verfasste, betrachtete die diplomatische Konvention innere Angelegenheiten eines souveränen Landes als Tabu, die, vielleicht, in privatem Geflüster von Botschafter zu Botschafter bei informellen Funktionen kommentiert werden konnten, aber nicht zum Gegenstand einer offiziellen Note an eine Regierung werden konnten. Für jeden deutschen Monarchisten oder Nationalisten, und davon gab es immer noch genug, war Wilsons Note eine Beleidigung von epischen Proportionen, ein Affront gegen die Souveränität des Landes und eine Verächtlichmachung aller, die geliebte Menschen im Krieg verloren hatte. Es war buchstäblich unerhört.

Die katastrophalen Folgen dieser Note können kaum überbewertet werden. Ob Präsident Wilson die Botschaft in seliger amerikanischer Naivität oder in simpler Arroganz verfasst hatte, vielleicht nur in der Absicht, die liberalen und demokratischen Elemente in Deutschland zu stärken, kann im Nachhinein nicht festgestellt werden, aber als Ergebnis lieferte seine Note, wie wir sehen werden, den Schuldigen einen fantastischen Vorwand und eine leichte Absolution, während die künftige deutsche Republik von ihrer Gründung an schicksalsvoll die Bürde eines verlorenen Krieges tragen musste, für den sie nicht im geringsten verantwortlich war.

Das Ergebnis der Note Wilsons, ohne die die Republik nicht in der gleichen konfusen Weise geboren worden wäre, war die Entstehung der beiden stabilsten Phantome der späteren nationalistischen, rechtsgerichteten und schließlich Nazi-Propaganda, die „Dolchstoßlegende“ und die Legende der „Novemberverbrecher“. Sobald der Waffenstillstand unterzeichnet war, setzten sich die Männer, die für die Katastrophe verantwortlich waren, ab: Wilhelm floh  ins Exil in den Niederlanden, Ludendorff nach Dänemark – in Zivil und mit einem falschen Bart – und Hindenburg und die anderen prominenten Generäle gingen auf Tauchstation. Die unschuldigen Vertreter der neuen Republik, die den Waffenstillstand und schließlich den Friedensvertrag unterzeichnen mussten, wurden als Verräter diffamiert und etliche von ihnen anschließend ermordet.

Die fatalen Folgen von Wilsons Note bewiesen nicht nur, dass die USA „nicht ganz so großmütig waren, wie sie versprochen hatten“, (37) sie erschufen Argumentationen, die aus dem Ersten direkt in den Zweiten Krieg führen würden. Es war einfach unerhört für einen Staat, einem anderen Politik zu diktieren: Wir haben gesehen, wie sehr die Bagatelle, ob es oder nicht ein paar österreichischen Detektiven zu gestatten wäre, die Hintergründe der Ermordung Franz Ferdinands in Serbien zu untersuchen, zum Kriegsgrund ausgerufen worden war. Noch schlimmer, Wilsons Vorgehensweise war irreführend und eigentlich schlichte Erpressung – kaum ein vielversprechender Start in sein goldenes Zeitalter des Friedens, der Liebe und des gegenseitigen Verständnisses. Seine Verhandlungstaktik war mala fide von Anfang an: entwickelt, um die wichtigsten Zugeständnisse des Gegners billig und ohne Gegenleistungen zu bekommen, was sonst mit hohen Kosten erkämpft werden müsste: der Abzug der deutschen Armeen aus Frankreich und Belgien und die Einstellung der U-Boot-Kampagne.

Das Problem war, dass Wilsons Forderungen Nationalisten, Monarchisten und Militaristen später erlaubten zu behaupten, dass der Krieg nicht wirklich verloren gegangen war: dass die deutsche Armee „nie im Feld geschlagen worden“ war, da, mit Ausnahme von Rennenkampfs und Samsonows Russen in Ostpreußen 1914, ausländische Soldaten niemals einen Fuß auf den Boden des Vaterlands gesetzt hatten. Daher war der Waffenstillstand unnötig und verräterisch, und ebenso wie der nachfolgende Vertrag von Versailles, durch die „Novemberverbrecher“ unterzeichnet, d.h. von der Regierung der neuen deutschen Republik, die erst entstanden war, nachdem Wilhelm und seine Kumpane sich dünne gemacht hatten. Somit hatte die Republik die Ehre der Nation verraten, lärmten die Rechten.

Prinz Baden erkannte, dass die Entlassung Ludendorffs, der trotz seines irreführenden Rangs als Generalquartiermeister der eigentliche Militärdiktator des Landes war, die Priorität Nummer eins war, zumal der General seine Befugnisse dreist überschritten hatte. Am Tag, nachdem von Baden Wilsons unheilvolle Nachricht empfangen hatte, verspürte Ludendorff die Gelegenheit, den Krieg – und damit seine eigene Autorität – zu verlängern. Da die deutsche Front entgegen den Erwartungen nicht nach dem „Schwarzen Tag“ bei Amiens zusammengebrochen war und die militärische Lage sich in der Zwischenzeit etwas verbessert hatte, nahm Ludendorff die Gelegenheit wahr, seine Truppen in einem Tagesbefehl zu adressieren. Sein Bulletin bezeichnete die vierzehn Punkte und von Badens Antrag auf einen darauf basierenden Waffenstillstand als versteckte „Forderung nach bedingungsloser Kapitulation. Es ist daher für uns Soldaten nicht akzeptabel. Es beweist , dass des Feindes Wunsch nach unserer Zerstörung, die den Krieg im Jahre 1914 verursachte, noch unvermindert existiert. Es kann dies also für uns Soldaten nur eine Herausforderung sein, unseren Widerstand mit aller Kraft fortzusetzen.“ (38)

Ein unbekannter Stabsoffizier versuchte den Befehl zu unterdrücken, aber eine Kopie entkam der Zerstörung und erreichte OBEROST, das östliche Hauptquartier, wo der diensthabende Offizier, ein Sozialdemokrat, das Signal abfing und es an die Parteizentrale der SPD in Berlin weiterleitete, von wo aus es seinen Weg in die Presse fand. 

Ludendorffs nicht autorisierter Befehl war zumindest grobes Foulspiel, vielleicht sogar Hochverrat und von Baden erkannte, dass jede Grundlage für Friedensverhandlungen so lange unmöglich war, solange der quasi-Diktator im Amt blieb. Aufgrund der breiten Unterstützung, die von Baden im Reichstag genoss, konnte er dem Kaiser deutlich machen, dass es sich entweder um Ludendorff oder ihn selbst handelte. Am 26. Oktober wurden Ludendorff und Hindenburg ins Schloss Bellevue in Berlin bestellt, wo Ludendorff gezwungen wurde, seinen Rücktritt einzureichen, den der Kaiser ohne Dankesworte akzeptierte. Baden, der einen Welscher erkannte, wenn er ihn sah, hatte schon vor der Sitzung Ludendorffs schriftliche Erklärung erzwungen, dass keine Chance blieb, den Krieg mit militärischen Mitteln zu gewinnen und konnte damit die gleichzeitige Entlassung der beiden führenden Generäle vermeiden. Als Hindenburg seinen eigenen Rücktritt anbot, befahl Wilhelm ihm zu bleiben. (39) Die Geschichte geht um, vielleicht apokryph, dass, als Ludendorff am Abend in sein Hotelzimmer zurückkehrte, er zu seiner Frau sagte: „ Du wirst sehen, In vierzehn Tagen werden wir kein Reich und keinen Kaiser mehr haben .“ (40)

Er hatte recht. Es dauerte genau vierzehn Tage.


(29) (38) (40) Keegan, John, The First World War, Vintage Books 2000, ISBN 0-375-40052-4361, S. 413, 414, 414

(30) (32) (34) (37) Weitz, Eric, Weimar Germany, Princeton University Press, ISBN 978-0-691-01695-5, S. 16, 15, 15, 16

(31) Persico, Joseph, 11th Month, 11th Day, 11th Hour, Random House 2004, ISBN 0-375-50825-2, S. 290

(33) Read, Anthony, The World on Fire, Norton Books 2008, ISBN 978-0-393-06124-6, S. 26

(35) (36) (39) Massie,Robert K., Castles of Steel, Ballantine Books 2003 ISBN 0-345-40878-0, S. 772, 772, 773

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Die Blonde die aus der Kälte kam …

Hilde Krüger

Video – Movie Clip 1 – Movie Clip 2


Katharina Mathilde Krüger kam entweder am 9. November 1912 in Köln-Kalk zur Welt oder, wie andere Quellen behaupten, am 11. September 1914 in Berlin. Ihre wohl erste erhaltene Filmrolle zeigt sie in dem antisemitischen UFA-Streifen Nur nicht weich werden, Susanne! woraufhin Joseph Goebbels zu ihrem Gönner oder auch Liebhaber wurde – der “Bock von Babelsberg” nahm es mit der Trennung von dienstlichen und privaten Dingen nicht immer so genau.

Obwohl sie in ca. einem Dutzend anderer UFA – Produktionen weitere Rollen spielte, ging sie 1940 nach Hollywood und mietete sich im Hotel Beverly Wilshire ein, wo, wie der Tratsch es besagte, ihr erster Gönner J. Paul Getty die Rechnungen bezahlte. Ihr Lover war der reichste Mann der Welt, fünfmal verheiratet und offensichtlich kein Kostverächter. Nazi-Sympathisant war er auch.

Aber die Schauspielerei hob nicht recht ab. Ihr Englisch liess zu wünschen übrig, ihre Schauspielerei vielleicht auch. Sie freundete sich ersatzweise mit einem Herrn Gert von Gontard an, der als Erbe der Brauerei Budweiser ebenfalls über das nötige Kleingeld verfügte und lebte mit ihm ein Jahr lang.

Wir wissen nicht was dann genau geschah – vielleicht wurden dem Paar die Nachstellungen der amerikanischen Polizei zu lästig oder es gab Beziehungsstress – aber irgendwann 1940 wurde sie von der deutschen Abwehr angeworben und nach Mexiko geschickt, das aufgrund seines Öls für die deutsche Kriegswirtschaft interessant war. Da 1938 Mexikos Präsident Lazaro Cárdenas in niederträchtiger Weise alle ausländischen Ölfirmen verstaatlicht hatte, hatten die ehemaligen Besitzer, England, die USA und Holland ein Embargo auf mexikanisches Rohöl verhängt und seither gingen zwei Drittel der Produktion nach Deutschland.

Ihr Grenzpassierschein vom 9.2.1941

So kam es, dass Frau Krüger am 9. Februar 1941 am Grenzübergang Nuevo Laredo auftauchte, in ihrem Gepäck ein Empfehlungsschreiben von ihrem guten Freund Mr. Getty. In Nullkommanix hatte sie sich in der besten Gesellschaft der Hauptstadt eingelebt und die Generäle, Wirtschaftsmanager und Politiker des Landes fielen der wasserstoffblonden Nazi-Geheimwaffe reihenweise zu Füßen. Ihre erste Eroberung war Ramón Beteta, Staatssekretär im Finanzministerium, doch bald wurde sie die Geliebte des Innenministers und späteren mexikanischen Präsidenten Miguél Alemán. Der gute Herr
Alemán besorgte ein Liebesnest und besuchte sie fast jede Nacht, was die FBI-Agenten peinlich genau notierten. Ebenfalls unterhielt Hilde Kontakte zu dem General Juán Almazán und Außenminister Ezekiel Padilla. Die Regierung fraß ihr aus der Hand. Als Quid pro Quo arrangierten ihre Gönner Rollen in mehreren mexikanischen Filmen.

Nach einem Jahr wurde sie auf Betreiben der USA festgenommen, kam aber jedoch bald durch die Fürsprache ihrer Gönner wieder frei. Sie heiratete kurzerhand einen Herrn Nacho de la Torre, den Enkel des ehemaligen Präsidenten Porfirio Díaz und umging dadurch die Ausweisung.

Liebhaber: Getty, Betana, Alemán, Padilla, Andreu, Almazán

Und die Spionage? Der Innenminister gab ca. 300 Visa an deutsche Spione aus, kriegswichtiges Quecksilber wurde im Hafen von Veracruz auf deutsche U-Boote verladen und soviel Öl über Panama geschmuggelt wie die Pumpen nur förderten.

Julio Lobo Olavarría

Bis 1946 lebte sie mit ihrem Mann in Saus und Braus, doch bald, nachdem ihr alter Freund Alemán Präsident wurde, tauschte sie ihren Playboy Torre gegen ein schwereres Kaliber ein, den Venezolaner Julio Lobo Olavarría, den Zuckerkönig von Kuba, mit dem sie nach Spanien ging. Aber die nachfolgende Ehe hielt nur ein Jahr lang. 1958 tauchte sie noch einmal im deutschen Kino auf, in der Schweizer Schmonzette “Eine Rheinfahrt, die ist lustig“.

UFA Filmplakat 1935

Auf YouTube existiert eine Dokumentation der Nazi-Spionage in Mexiko, “La red nazi en México” von Sebastián Gamba, Mexiko 2010, leider nur im spanischen Original (Link).

Sie starb 1991 bei einem Heimatbesuch oder 2008 in New York, niemand weiß es genau. Insgesamt machte sie vierzehn Filme in Deutschland, vier in Mexiko und einen in der Schweiz.

(© John Vincent Palatine 2019)

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Gibbon, Cole und das Römische Imperium

Thomas Cole – Der Traum des Architekten

Gemälde von Thomas Cole (The Course of Empire) und anderen …


Edward Gibbon

Nur wenige Historiker bleiben Gegenstand einer auch noch weit nach ihrem Tod anhaltenden Diskussion so wie Edward Gibbon.

Das Thema der Arbeit , die ihm zu ewigem Ruhm verhalf – “Der Verfall und Untergang des Römischen Imperiums” –  war unumstritten genug – hunderte von Bänden waren geschrieben worden über den Verfall von Rom (weniger über den von Konstantinopel …) aber die meisten der im Gedächtnis des Publikums befindlichen stammten aus der modernen, das heißt christlichen Zeit.

Die Meister der Antike mussten ohne den Vorteil – wie man glaubte – einer christlichen Erziehung oder Indoktrination schreiben und daher betrachtete das britische historische Establishment des 18. Jahrhunderts sie als zweitrangig – das herrliche Evangelium, welches der Herr des Universums, Jesus Christus, den Nachkommen des Adam überbracht hatte und die vielen noblen Errungenschaften des britischen Königtums waren ihnen notwendigerweise unbekannt.

Obwohl die allerchristlichsten Kirchen durch Luthers Kritik und Gutenbergs Druckerpresse einiges an Federn hatten lassen müssen, war das 18. Jahrhundert noch eine Zeit, in der zumindest die moralische Autorität der christlichen Kirchen und die Überlegenheit ihrer Lehre im Abendland weitgehend unbestritten war. Es war zwar festgestellt worden, dass “π” nicht gleich 3 war, wie das Alte Testament behauptete, und dass es einiges mehr an Planeten, Monden und Sternen gab, als der Bibel bekannt war, aber es herrschte im Allgemeinen doch die Überzeugung vor, dass der christliche Glaube letztendlich die Erlösung der Welt vermitteln würde.

Thomas Cole – Das wilde Zeitalter

So kam es als ein Schock, als die Veröffentlichung von Band I der „Geschichte“ 1776 und mehr noch Band II und III im Jahr 1781, klar und deutlich diese semitisch-abrahamitische Religion, das Christentum, als die dritte wesentliche Ursache in dem Zerfall der großen Reiches identifizierte. Zwar war der wichtigste Faktor, in Gibbons Analyse, die ständigen barbarischen Invasionen, die jedoch vor allem aufgrund eines allmählichen Verfalls der „bürgerlichen Tugenden“ gelungen seien (zur wichtigsten ‚Bürgertugend‘ erklärte Gibbon die Unterstützung der Regierung durch die kleinen Leute, die er gegenwärtig als eine Stärke Großbritanniens ansah):

Thomas Cole – Das pastorale Zeitalter

Die Gründe und die Geschichte des Verfalls sind einfach und offensichtlich. Anstatt zu fragen, warum das römische Reich zerstört wurde, sollten wir uns eher wundern, dass es so lange Bestand hatte. Die siegreichen Legionen, die bald durch weit entfernte Kriege mehr den Charakter von Fremdheit und Söldnertum annahmen, unterdrückten zuerst die Freiheit der Republik und verletzten danach die Majestät des Purpurs. Die Kaiser, die um ihre persönliche Sicherheit und den öffentlichen Frieden besorgt waren, wurden zu den niedrigsten Hilfsmitteln gezwungen, die nur dazu geeignet waren, die Disziplin zu korrumpieren, die sie für ihren Souverän und den Feind gleichermaßen bedrohlich machte. [d.h. das Militär mit Geld ruhig zu halten] Die Kraft der militärischen Verwaltung wurde durch die Reichsteilung Konstantins gemindert und schließlich aufgelöst; und die römische Welt wurde von einer Flut von Barbaren überwältigt. “[Untergang und Fall des römischen Reiches, Kapitel 38„ Allgemeine Beobachtungen über den Fall des römischen Reiches im Westen “]

Thomas Cole – Die Blüte des Imperiums

Dies alleine hätten viele Zeitgenossen eventuell noch geschluckt, aber der letzte Quart von Band I (Kapitel XV und XVI) enthielt eine sehr umstrittene Passage, die Gibbon den Vorwurf des „Heidentums“ einbrachte:

Da nun das Glück des Lebens nach dem Tod das große Ziel der Religion ist, müssen wir ohne Überraschung oder Skandal erkennen, dass die Einführung oder zumindest der Missbrauch des Christentums einen Einfluss auf den Untergang und den Fall des römischen Reiches haben musste. Der Klerus predigte erfolgreich die Lehren von Geduld und Verzagtheit; die aktiven Tugenden der Gesellschaft wurden entmutigt; und die letzten Überreste militärischen Geistes im Kloster begraben: ein Großteil des öffentlichen und privaten Reichtums wurde den trügerischen Blendungen der Nächstenliebe und christlicher Hingabe geweiht. und die Gehälter der Soldaten wurden an die nutzlosen Massen von Mönchen und Nonnen ausgeschüttet, die nur die Vorzüge von Enthaltsamkeit und Keuschheit geltend machen konnten. Glaube, Eifer, Neugierde und die irdischen Leidenschaften der Bosheit und des Ehrgeizes entfachten die Flammen theologischer Zwietracht; die Kirche und sogar der Staat wurden von den Auseinandersetzungen religiöser Gruppen abgelenkt, deren Konflikte manchmal blutig und immer unerbittlich waren. Die Aufmerksamkeit der Kaiser wurde vom Feldlager zu Synoden abgelenkt. Die römische Welt wurde von einer neuen Art von Tyrannei unterdrückt; und die verfolgten Sekten wurden die natürlichen und geheimen Feinde ihres eigenen Landes.

Aber Parteigeist, so verderblich oder absurd er auch sein mag, kann sowohl ein Prinzip der Einigkeit als auch der Uneinigkeit sein. Die Bischöfe zwangen aus ihren achtzehnhundert Kanzeln einem rechtmäßigen und orthodoxen Souverän Gehorsam auf; ihre häufigen Versammlungen und die ewige Korrespondenz stützten die enge Gemeinschaft weit entfernter Kirchen. Die wohlwollende Botschaft des Evangeliums wurde durch dieses geistige Bündnis der Katholiken gestärkt und bestätigt. Die heilige Trägheit der Mönche wurde von einem unterwürfigen und femininen Zeitgeist nur noch unterstützt; aber selbst wenn der allerchristlichste Aberglaube keinen bequemen Rückzug gewährt hätte, hätte dasselbe Laster der Faulheit die unwürdigen Römer genauso dazu verleitet, aus niederträchtigen und selbstsüchtigen Gründen die Ideen der Republik zu verraten. Nur zu leicht werden religiöse Gebote befolgt, die den natürlichen Neigungen ihrer Anhänger frönen und sie heiligen; und der reine und echte Einfluss des Christentums kann ebenso in seinen positiven, wenn auch unvollständigen Auswirkungen auf die barbarischen Proselyten des Nordens verfolgt werden. Als der Untergang des römischen Reiches durch die christliche Bekehrung Konstantins beschleunigt wurde, brach seine siegreiche Religion die Gewalt des Falles und milderte das grausame Temperament der Eroberer.

Das heißt, genauso wie die christliche Religion die Völker des Imperiums entmannt und korrumpiert hatte, tat sie das bald auch – “Gott sei Dank!” – bei den Barbaren.

Thomas Cole – Die Zerstörung des Imperiums

Schlimmer war es wohl noch für den devoten Christusjünger, dass Gibbon die Toleranz heidnischer Gesellschaften und die Weisheit ihrer Herrscher (d.h. auch der römischen Kaiser vor AD 300) positiv mit der Intoleranz und Inflexibilität der Christen (oder Muslime, was das betrifft) und ihrer Lehren verglich und ihre historische Vorliebe für Bruderkriege kritisierte (dies war ein Seitenhieb Gibbons an die Adresse einiger britischer Könige, zum Beispiel Edward VIII):

Die verschiedenen Formen der Götterverehrung, die in der römischen Welt herrschten, wurden von den Menschen alle als gleich wahrhaftig betrachtet; von den Philosophen als gleich falsch; und von den zivilen Verwaltungen als gleichermaßen nützlich.

Eine anderer, sehr unappetitlicher Schlag für die Heiligkeit und Spiritualität der Kirche wurde in der skandalösen Tatsache gefunden, dass Gibbon es wagte, die mannigfaltigen Berichte christlichen Martyriums als eigennützige Fälschungen zu entlarven – aus sekundären Quellen stammend, die unabhängiger Überprüfung nicht standhalten konnten. Sie seien, sagte er, nichts als christliche Propaganda – womöglich frei erfunden.

Schlimmer noch, für jenen Teil christlicher Verfolgung, deren tatsächliche geschichtliche Grundlage man vernünftigerweise annehmen könne, wies Gibbon darauf hin, dass eine solche nicht auf religiöser oder spiritueller Grundlage beruhte, sondern auf die Praxis der römischen Staatsreligion – dem römische Staat war es egal, was man glaubte – und der Bedeutung, die man der Durchführung der – eher symbolischen – Opfer durch die normalen Bürger zumaß.

Das Opfer an die Götter Roms war keine Frage der Religion oder der Weltanschauung – es war eine Demonstration der Loyalität gegenüber dem Reich – und die, die sich weigerten, waren nicht Ungläubige, sondern Illoyale – und des Verrats verdächtig.

Während Gibbon sich meistens (und vielleicht weise) allzu offensichtliche Kommentare zu verschiedenen biblischen Geschichten verkniff oder darauf verzichtete, die Launen jüdischer Propheten und christlicher Evangelikaler zu diskutieren, hielt er sich bei der – seiner Meinung nach – säkularen Herkunft und intellektuellen Diebstahls des Korans und seines heiligen irdischen Empfängers nicht zurück. In einer berühmten Passage erzählt er die Geschichte der Siebenschläfer (der Menschheit seit über zweitausend Jahren wohlbekannt) und kommentiert:

Die beliebte Geschichte, die Mahomet wohl gelernt hatte, als er seine Kamele zu den Märkten von Syrien trieb, fügte er als – eine göttliche Offenbarung – in den Koran ein.

Thomas Cole – Das Verlassene Reich

Gibbon‘s Beschreibung von Mohammeds Leben spiegelt einen sehr weltlichen heiligen Propheten und seine praktische Herangehensweise an das Leben wider, der …

” … in seinem privaten Verhalten … dem natürlichen Appetit eines Mannes frönte und den Anspruch eines Propheten missbrauchte. Eine spezielle Offenbarung entband ihn von den Gesetzen, die er seiner Nation auferlegt hatte: das weibliche Geschlecht, ohne Ausnahme, wurde seinen Wünschen unterstellt; und dieses einzigartige Vorrecht erregte Neid statt Skandal und Verehrung anstatt Entrüstung unter seinen frommen Muselmanen.

Gibbon hatte ein kleines Problem mit der Befreiung des Propheten von den allgemeinen Gesetzen und seiner Anhänger Achtung des weiblichen Geschlechts. Der Terror der muslimischen Hölle konnte ihn nicht völlig entmutigen, doch konnten die Freuden des muslimischen Paradieses ihn ebenfalls nicht ganz überzeugen:

Das Schicksal aller Ungläubigen ist gleich: das Maß ihrer Schuld und Strafe durch den Grad der Offensichtlichkeit der Offenbarungen bestimmt, die sie abgelehnt haben und von der Größe der Fehler, die sie begangen haben: die ewigen Gebäude der Christen, Juden, Sabäer, Magier und Anbeter von Bildern werden eins nach dem anderen in den Abgrund versenkt; und die tiefste Hölle ist für diejenigen treulosen Heuchler reserviert, die die Religion nur vorgespiegelt haben. Nachdem und obwohl der größte Teil der Menschheit für ihre Überzeugungen verurteilt worden ist, werden die wahren Gläubigen nur nach ihren Handlungen beurteilt werden.

Das Gute und Böse in jedem Muselmann wird genau, sowohl real als auch allegorisch gewogen werden; und eine einzigartige Art der Entschädigung für die Wiedergutmachung von Verletzungen und Sünden instituiert: der Schuldige wird dem Opfer äquivalent von seinen eigenen guten Taten abgeben; und sollte er moralisch mittellos sein, wird dem Gewicht seiner Sünden ein angemessener Anteil der Verfehlungen seines Opfers hinzugefügt. Je nachdem wie seine Schuld oder Tugend überwiegt, wird das Urteil gesprochen, und alle, ohne Unterschied, werden die scharfe und gefährliche Brücke des Abgrunds überqueren; aber die Unschuldigen, in den Fußstapfen von Mahomet schreiten, werden glorreich die Tore des Paradieses betreten, während die Schuldigen in die erste und mildeste der sieben Höllen fallen.

Die Dauer der Sühne wird zwischen 900 und 7000 Jahren betragen; aber der Prophet hat – vernünftigerweise – versprochen, dass alle seine Jünger, wie auch immer ihre Sünden, durch ihren eigenen Glauben und seine Fürsprache vor der ewigen Verdammnis gerettet werden können. Es ist nicht verwunderlich, dass Aberglaube sich am stärksten auf die Ängste seiner Anhänger auswirkt, da die menschliche Phantasie das Elend des zukünftigen Lebens sich mit mehr Energie vorstellen kann als eine eventuelle Seligkeit. Mit den beiden einfachen Elementen von Finsternis und Feuer schaffen wir so ein Gefühl von Verzweiflung, das von der Vorstellung einer endlosen Dauer unendlich verschlimmert wird.

John Martin – Pandemonium

Aber das gleiche Prinzip arbeitet mit entgegengesetztem Effekt, was die Kontinuität von Freude betrifft; und viel von unserer irdischen Freude kommt aus dem simplen Ausbleiben des Bösen. Es ist ganz natürlich, dass ein arabischer Prophet mit Entzücken die Haine, Brunnen und Flüsse des Paradieses preist; aber statt die gesegneten Bewohner mit einem liberalen Sinn für Harmonie und Wissenschaft, Unterhaltung und Freundschaft zu inspirieren, feiert er müßig Perlen und Diamanten, Roben aus Seide, Paläste aus Marmor, Geschirr aus Gold, reiche Weine, leckeres Essen, zahlreiche Diener, und das ganze Trara sinnlichen und kostspieligen Luxus, das dem Eigentümer, sogar in der kurzen Zeit eines sterblichen Lebens, bald fade wird.

Zweiundsiebzig Houris, schwarzäugige Mädchen, von prächtiger Schönheit, blühender Jugend, höchster Reinheit und exquisiter Sensibilität werden für die Nutzung eines jeden gemeinen Gläubigen geschaffen werden; der Moment der Freude wird auf tausend Jahre verlängert; und, um ihn seines Glückes würdig zu machen, werden seine Fähigkeiten hundertfach erhöht werden. Ungeachtet eines vulgären Vorurteils werden die Tore des Himmels für beide Geschlechter offen sein; aber Mahomet hat die männlichen Begleiter der weiblichen Auserwählten nicht spezifiziert, sodass er weder durch die Eifersucht ihrer früheren Gatten Alarm auslöse, noch deren Glückseligkeit durch den Verdacht auf eine ewige Dauer ihrer Ehe gemindert werde.

Dieses Bild eines sinnlichen Paradieses hat die Empörung – und vielleicht den Neid der Mönche – provoziert: sie wettern gegen die unreine Religion Mohammeds; und dessen bescheidenere Apologeten sehen sich zu schlechten Ausreden von Figuren und Allegorien gezwungen. Aber die vernünftige und konsistentere Fraktion hält sich ohne Scham an die wörtliche Auslegung des Korans: nutzlos wäre die Auferstehung des Körpers, es sei denn, er wäre im Besitz und zur Ausübung seiner würdigsten Fähigkeiten wiederhergestellt; und die Vereinigung von sinnlichem und intellektuellem Genuss ist erforderlich, um das Glück des Mannes zu vervollständigen. Doch die Freuden des mohammedanischen Paradieses sollen nicht auf den Genuss von Luxus und Appetit beschränkt sein; und der Prophet hat ausdrücklich erklärt, dass all dies gemeine Glück durch die Heiligen und Märtyrer vergessen und verachtet werden wird, die an der göttlichen Vision teilhaben.

Unerklärlicherweise übersieht es Gibbon, die architektonische Robustheit der ewigen Herberge zu loben, die, wie wir hören, aus zwölf gleich großen, übereinanderliegenden Etagen besteht, was die meisterhafte Beherrschung raumzeitlicher Geometrie des himmlischen Baumeisters bestätigt.

Man merkt, dass er Spaß an der Sache hat, aber der Prophet macht es ihm auch leicht. Natürlich machen sich diese Absätze sich auch als Gleichnis über die Naivität der christlichen Himmelsvorstellung lustig, worin die Belohnung des Gläubigen darin besteht, auf einer Wolke zu sitzen, Manna zu essen, die Harfe zu schlagen und Hosianna zu singen. Ewig.

Es war das Zeichen Gibbons, dass er sich in seinen Meinungen und Urteilen Freiheiten nahm, die frühere Historiker nicht gewagt hätten. Für einen Historiker, sagten viele, sei das ungehörig – er solle „fair“ sein … (?)

Den armen Juden erging es nicht viel besser – er nannte sie “ein Volk von Fanatikern, deren verderblicher Aberglaube aus ihnen nicht nur die unversöhnlichen Feinde der römischen Regierung zu machen schien, sondern auch die der ganzen Menschheit … .”

Nach unseren heutigen Maßstäben und politisch korrekten Standards gibt es in Gibbon viel zu kritisieren. Aber es gibt auch viel zu bewundern – und nicht zuletzt seine Kühnheit des Urteils. Aber in der englischen Geschichtsschreibung vielleicht unübertroffen ist seine schiere stilistische Geschicklichkeit, Genauigkeit der Diktion und – zur ewigen Belustigung des Lesers – sein unerschöpflicher Vorrat an Ironie, Satire und Sarkasmus. In Anbetracht der Unsumme an menschlichen Torheiten, für die unsere Zeitgenossen täglich Beweise liefern, kann und sollte Geschichte zu schreiben auch Spaß machen.

Und Spaß macht Edward Gibbon.

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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