Historia Occidentalis

Ein Magazin zur Zentraleuropäischen Geschichte

Kategorie: Weg in den Krieg

Die Illusionen von Bethmann Hollweg und Wilhelm II am Ende der Julikrise

Theobald von Bethmann Hollweg, im obigen Titelbild dritter von rechts …

In der historischen Betrachtung zur Geschichte des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges ist nicht nur die komplette diplomatische Konfusion von Bedeutung, die der Autor in “The Little Drummer Boy“, basierend auf den Quellen Luigi Albertinis beschrieben hat, und die Christopher Clark in seinem Bestseller “Die Schlafwandler” 2013 in ihrer ganzen Unfähigkeit wiederauferstehen ließ, sondern auch die sachlichen Irrtümer und/oder Illusionen, denen die Hauptdarsteller in den entscheidenden Momenten unterlagen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen.

Ob der Streit zwischen den Militärs und den Zivilisten über die Kriegserklärungen tatsächlich am 1. August entbrannte, ist fraglich. Fest steht jedoch, dass er am 2. August seine volle Schärfe erreichte. In einer Nachtsitzung, die von unge­fähr 2.30 bis 5.30 Uhr dauerte, wurde zwischen der zivilen und der militärischen Reichsspitze über diese Frage diskutiert.2969 Zunächst einmal ging es darum, ob man sich eigentlich mit Russland im Krieg befinde. Man hatte wohl aus St. Pe­tersburg noch keine Nachricht erhalten, ob die deutschen Kriegserklärung den Russen bereits übergeben worden sei. Zum anderen wurde über den Zeitpunkt der Kriegserklärung an Frankreich gestritten. Tirpitz setzte sich entschieden für eine Verzögerung dieser Maßnahme ein. Den Abgesandten des Heeres erschien eine formelle Kriegserklärung eher überflüssig: „Kriegsminister kam, war etwas brüsk gegen den Kanzler, der Krieg sei ja nun da und die Frage der Kriegserklä­rung an Frankreich sei gleichgültig. Moltke kam und sagte, das sei einerlei, der Krieg sei ja da.”2970 Ein Hinweis Bethmanns auf das Völkerrecht führte zu ei­nem heftigen Zusammenstoß zwischen ihm und Moltke. Beide sahen sich ge­zwungen, sich für ihren Ton zu entschuldigen. Immerhin konnte der General­stabschef mit der Mitteilung, russische Truppen hätten die Feindseligkeiten er­öffnet, die erste Frage der Besprechung klären. In schroffer Form wies Moltke dann Versuche zurück, den Durchmarsch durch Belgien zu streichen. Erbittert notierte Tirpitz, die Armee würde sich zugunsten der Landkriegsführung „rücksichtslos” über alle anderen Erwägungen und Einwendungen hinwegset­zen.2971 Die Reichsleitung machte auf die Militärs bei dieser Sitzung einen denkbar schlechten Eindruck, wie Tirpitz berichtete: „Allgemeiner Eindruck: gänzliche Kopflosigkeit der politischen Leitung. Dem Reichskanzler sind die Zügel gänzlich aus den Händen geglitten. Durchmarsch durch Belgien ihm offenbar nicht vorher bekannt, versuchte den abzuwenden. […] Es stellte sich her­aus,dass Österreich nicht gefragt war, ob es mit uns gegen Russland kämpfen wollte, das müsste schleunigst nachgeholt werden, Tschirschky Auftrag erhalten. Ebenso hat Italien keine Nachricht von unserer Kriegserklärung gegen Russland bekommen. Politische Leitung offenbar in erheblicher Deroute. Beim Herausge­hen Moltke und Kriegsminister und ich entsetzt über diese Deroute. Moltke meinte, er müsse jetzt die politische Leitung in die Hand nehmen …”2972. Dabei waren ein Teil der Vorwürfe, die Tirpitz hier erhob, unberechtigt. Der Reichs­kanzler kannte den Plan, durch Belgien zu marschieren, bloß hatte er anschei­nend die ganze Logik der deutschen Kriegsplanung nicht begriffen, die diesen Durchmarsch unverzichtbar machte.

anscar jansen, “DEr weg in den ersten weltkrieg”, Tectum Verlag 2005, ISBN 978-3-8288-8898-2, S.474

Wenn wir Clausewitz’s Formel über das Primat der Politik betrachten, so wird in diesem Zusammenhang wiederum klar, dass, wie in anderen Beiträgen schon ausgeführt, eine der wesentlichen Ursachen der Julikrise 1914 in der kompletten Abwesenheit von funktionierendem Krisenkontrollmanagement lag. Wenn Politik und Militär aneinander vorbeireden, passiert genau das, was dann passierte. Irrespektive vom Hollwegs genauen Kenntnissen scheint sich Tirpitz auch nicht sicher zu sein, was jeweils genau angesagt war, und welche Konsequenzen daraus jeweils entstehen.

Kaiser Wilhelm II zeigte ebenfalls Verkennungen der Realität, sei es aufgrund seiner üblichen Unbekümmertheit oder weil er einfach nicht nachfragte.

Schon am 26. Juli vermeinte er, nach der Lektüre der serbischen Antwort auf das österreichische Ultimatum, dass nun “jeder Grund zum Krieg entfallen sei” und schlug vor, Österreich solle sich darauf beschränken, Belgrad zu besetzen, als Unterpfand für zukünftiges serbisches Wohlbetragen. Nicht nur hatte er den wahren Zweck der Note, Serbien unter allen Umständen den Krieg zu erklären, wohl nicht begriffen, sondern wusste nichts von den österreichischen Mobilmachungsplänen, in denen ein solcher Plan schlicht nicht existierte. Jansen (s.o., S. 279) führt hierzu aus: “Ohne das es den Verantwortlichen in Berlin bewusst war, wäre eine Besetzung Belgrads für die Österreicher nur schwer durchzuführen gewesen. Nach deren militärischer Planung sollte der Hauptangriff aus Bosnien und Herzegowina erfolgen. Belgrad hätte so nur nach einem vollständigen Sieg über Serbien besetzt werden können. Die militärischen Planungen in der Donaumonarchie standen so einer friedlichen Lösung im Wege.”

In der Praxis wurde die österreichische Mobilmachung dann zu einem nicht sehr überraschenden Kuddelmuddel:

Obwohl vorherzusehen war, dass Russland nicht untätig bleiben würde, [da die Bündnisverträge zwischen Serbien und Russland bekannt waren – falsch hier, es gab keine, Anmerkung des Verfassers], reagierte Österreich-Ungarn als Antwort auf die serbische Mobilmachung vom 25. Juli 1914 nur mit der Teilmobilmachung und dem nach der am 28. Juli an Serbien erfolgten Kriegserklärung in Kraft gesetzten Plan „B“ [Aufmarsch gegen Serbien, aber an den Flanken, nicht gegen Belgrad]. Nach dem Bekanntwerden der russischen Generalmobilmachung vom 30. Juli 1914 hätte der Plan „R“ unverzüglich umgesetzt werden müssen; dies geschah jedoch nicht. Es gab keine Vorbereitungen dafür, einen einmal angelaufenen Mobilisierungsprozess anzuhalten oder abzuändern. Die dadurch zunächst weiterhin an die Serbische Front rollende „B“-Staffel wäre in Galizien dringend benötigt worden.

https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreich-Ungarns_Heer_im_Ersten_Weltkrieg (von Verfasser korrigiert)

Es gab keinen Plan, Belgrad zu besetzen, doch niemand unterrichtete den Kaiser, der mindestens bis zum 28. Juli, wahrscheinlich aber noch länger, die nicht existente Variante als Lösung des Problems propagierte. Regierung und Militär agierten in zwei verschiedenen Universen.


(© John Vincent Palatine 2020)

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Die Deutsche Armee 1914 – Teil II: Rüstungsentwicklung

Aus nachvollziehbaren Gründen haben die Alliierten des 1. Weltkriegs es vorgezogen, über die Entwicklung ihrer Rüstung in den beiden Jahrzehnten vor dem Krieg so wenig wie möglich verlauten zu lassen, obwohl die Geschichtsschreibung das Informationsdefizit langsam aufholt.

Der vorliegende Beitrag basiert wesentlich aus der uns vorliegenden Studie “Der Weg in den Ersten Weltkrieg” von Anscar Jansen, und gibt einen Überblick über die Vorgänge im Deutschen Reich bis 1914.

Teil I – Heer


In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde die deutsche Rüstung durch drei Faktoren bestimmt: zunächst durch die nach dem Tirpitzplan sich vollziehende Flottenrüstung, die durch die technische Entwicklung zu ständigen Veränderun­gen an den Schiffen führte, dann der durch die technische Entwicklung bedingte große Bedarf an neuen Ausrüstungsgegenständen des Heeres und schließlich das im Zusammenhang mit den steigenden internationalen Spannungen stehende Bedürfnis, das deutsche Heer auch zahlenmäßig zu vergrößern.430 Diese Fakto­ren trugen dazu bei, dass die Rüstungskosten explodierten und es damit immer schwieriger wurde, die finanziellen Realitäten und die Wünsche der Militärs in Einklang zu bringen.

30th June 1914: German infantry on manoeuvres in preparation for war. (Photo by Topical Press Agency/Getty Images)

Zunächst einmal bestimmte die Flottenrüstung das Bild. Nach dem von Tirpitz, dem Chef des RMA, aufgestellten Plan sollte das Deutsche Reich eine Flotte erhalten, die in einer zukünftigen Auseinandersetzung mit Großbritannien beste­hen könnte. In dem Maße, in dem jedoch Deutschland seine Flotte ausbaute, er­höhten auch die Briten die Zahl ihrer Schiffe. So standen 1914 bei den fertigge­stellten Schiffen den englischen 32 modernen Großkampfschiffen deren 22 auf deutscher Seite gegenüber.431 Nimmt man dazu die noch im Bau befindlichen Schiffe, so würde sich das Zahlenverhältnis rasch weiter verschlechtern. Im Jah­re 1917 stünden dann 44 britische 25 deutschen Schiffen gegenüber.432 Tirpitz’ Vorhaben war damit eindeutig gescheitert.

Beim Heer konnte man den Rüstungsfortschritt an der zunehmenden zahlenmä­ßigen Stärke der deutschen Armee ablesen. Betrug die Zahl der Truppen 1899 noch 495.000 Mann,433 so war sie 1913 bereits auf 782.344 Mann gestiegen,434 Diese Erhöhung der Personalstärken wurde begleitet von erbitterten Auseinan­dersetzungen zwischen dem Generalstab und dem Kriegsministerium. Während der Generalstab die erreichten Truppenstärken als bei weitem nicht ausreichend ansah, versuchte das Ministerium, immer wieder auf die Bremse zu treten und die Steigerungen einzuschränken. Diese Auseinandersetzungen sollten praktisch bis zum Kriegsausbruch andauern. Neben der Erhöhung der Personalstärken kam es darauf an, den Materialbestand des Heeres zu modernisieren. Die rasante technische Entwicklung machte hier­bei eine Vielzahl von Neuanschaffungen nötig. Zur Verdeutlichung der Neuein­führungen nach 1900 sollen die folgenden Zeilen dienen, ohne jedoch den An­spruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen. Zunächst einmal ist die Umbe­waffnung auf das Gewehr 98 zu nennen. Die Kosten für die Umbewaffnung wurden mit 73 Millionen Mark veranschlagt.435 Sie konnte wegen der Heeres­vermehrung von 1912 bis Kriegsbeginn nicht durchgeführt werden, sodass die Landwehr- und Landsturmtruppen immer noch mit veralteten Gewehren ausge­rüstet waren.436 Ab 1909 wurde die Kavallerie mit dem Karabiner 98 ausgerüs­tet.437 Ab 1909 gelangte auch die Pistole 08 zu den Truppen.438 Schließlich wur­de 1908 auch ein neues MG eingeführt.439 Bis zum Kriegsbeginn waren alle MG-Formationen mit der neuen Waffe ausgerüstet, die älteren Modelle wan­derten in die Gerätereserve oder zu den Festungsbeständen.440 Am 24. Novem­ber 1910 schrieb Moltke an das Allgemeine Kriegsdepartement des Kriegsministeriums und forderte dieses auf, die Versuche mit einem Selbstladegewehr fortzusetzen und ihm darüber zu berichten 441 1913 wurden erstmals Hand- und Gewehrgranaten beschafft:442 Ab 1908 kam die fahrbare Feldküche bei der Truppe zur Anwendung.443 1908 wurde bei der Kavallerie ein Brückenwagen eingeführt, der ohne Hilfe der Pioniere die Überbrückung von Gewässern er­laubte.444 1909 erhielten auch die Pioniere ein neues Brückengerät.445 Im selben Jahr bekamen sie auch neue Scheinwerfer.446 1908 gelangte ein Truppenfern­sprecher zur Einführung:147 1905 wurden bespannte Funken-Telegraphen­Abteilungen geschaffen.448 1906 wurden erstmals PKWs für höhere Komman­dostellen angeschafft.449 Ab 1910 waren jährlich 1 Million Mark für die Sub­ventionierung von Privat-LKWs, die im Kriegsfall der Truppe zur Verfügung gestellt werden sollten, vorgesehen.45° 1908 wurden 175 LKWs subventioniert, 1909 207, 1910 152, 1911 156, im Jahr 1912 135, insgesamt 825 LKWs.451 Be­ginnend 1907 wurde bei der Truppe die neue feldgraue Uniform ausgegeben, und nach zwei Jahren war die gesamte Armee damit versehen worden.452 Mit der Umbewaffnung der Feldartillerie auf die neuen Geschütze mit Rohrrücklauf wurde 1905 begonnen, ursprünglich waren dafür vier Jahre vorgesehen; die erste Marokkokrise führte aber zu einer Beschleunigung, sodass die Umbewaffnung schon Ende 1908 — und damit ein halbes Jahr früher als geplant — beendet war.453 Die neue Haubitze 98.09 traf im Jahr 1910 bei der Truppe ein, 1912 wa­ren alle Haubitzen-Abteilungen umgerüstet.454 Hier waren die Reserve-Formationen bei Kriegsbeginn noch nicht komplett auf das neue Gerät umgestellt worden.455 Auch die Umbewaffnung auf die schwere Feldhaubitze 02 machte nur langsam Fortschritte.456 Mit der Anschaffung der Rundblickfernroh­re war 1905 begonnen worden.457 Diese neuen Richtmittel für die Artillerie wa­ren 1914 nur bei den aktiven Truppen eingeführt worden.458

Neu im Arsenal der deutschen Armee war die schwere mobile Artillerie. Als eigene Waffengattung war sie erst von Schlieffen geschaffen worden.459 Die Entwicklung der schwersten Artillerie wurde zwischen Krupp, der Artillerie­Prüfungskommssion und dem Generalstab betrieben; erst später wurde das Kriegsministerium eingeschaltet.46° Da die Finanzierung nicht über den Rüs­tungsetat erfolgen konnte, mußte der Generalstab Krupp überzeugen, die Ge­schütze auf seine Kosten zu bauen, in der Hoffnung, daß sie eines Tages doch von der Armee erworben und bezahlt werden würden.461

Bis 1914 konnte bei allen Truppen der 1909 erstmalig angeschaffte 21 cm-Mörser ausgeliefert werden.462 Seit 1908 wurde die Zahl der mit 10 cm-Kanonen ausgerüsteten Batterien auf zwölf vermehrt.463 in den Jahren 1908/11 erhielten acht Batterien eine 13 cm-Kanone, obwohl deren Konstruktion Mängel auf­wies.464 1910 begann die Einführung der schweren Minenwerfer mit einem Ka­liber von 25 cm, ab 1913 folgten dann die mittleren, 17 cm-Mörser.465 Seit 1910 stand ein 30,5 cm-Mörser zur Verfügung.466 im Frühjahr 1911 wurde ein 42 cm-Mörser unter der Tarnbezeichnung „Kurze-Marine-Kanone” eingeführt.467 Ein Jahr später, im Frühjahr 1912, wurde eine weitere kurze Marinekanonen-Batterie ebenso wie ein zusätzlicher 42 cm-Mörser bestellt.468


Anmerkungen:

429 So verdoppelten sich in den Jahren zwischen 1900 und 1914 die Rüstungsausgaben in Ös­terreich-Unagm, Deutschland und Rußland. — P. M. Kennedy: The First World War and the International Power System. S. 7 f., in: St. E. Miller (ed.): Military Strategy and the Origins of the First World War. Princeton 1985, S. 7-41.

430 Zur deutschen Rüstung vor dem Ersten Weltkrieg siehe J. Steinberg: Tirpitz and the Birth of the German Battle Fleet: Yesterday’s Deterrent. London 19682; P. M. Kennedy: Tirpitz, England and the Second Navy Law of 1900: A Strategical Critique. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, Bd. 8 1970, S. 33-57; Epkenhans; Förster: Heeresrüstungspolitik; Geyer; Herr­mann: Arming.

431 Petter: Flottenrüstung S. 255.

432 Ebd., S. 260.

433 Gravier S. 124,

434 Herrmann: Arming S. 234.

435 Reichsarchiv (Hg.): Der Weltkrieg 1914-1918. Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft. Bd. 1 Berlin 1930, S. 226. 436 Ebd., Bd. 1, S. 226. 437 Ebd., Bd. 1, S. 227. 468 Ebd., Bd. 1, S. 228.439 Ebd., Bd. 1, S. 230.
44° Ebd., Bd. 1, S. 231.

441 Ludendorff, Nr. 5, S. 6.

442 Reichsarchiv: Kriegsrüstung, Bd. 1, S. 263.

443 Matuschka S. 161.

444 Ebd., S. 169 f.

445 Reichsarchiv: Kriegsrüstung, Bd. 1, S. 267. 446 Ebd., Bd. 1, S. 266. 447 Ebd., Bd. 1, S. 276.

448 Matuschka S. 183 f.

449 Reichsarchiv: Kriegsrüstung, Bd. 1, S. 281. 45° Ebd., Bd. 1, S. 283.

451 V. Löbells Jahresberichte über das Heer- und Kriegswesen, XXXIX. Jg. 1912, S. 350 f.

452 Reichsarchiv: Kriegsrüstung, Bd. 1, S. 290.

453 Ebd., Bd. 1, S. 236. Die Umbewaffnung wurde notwendig, da unter dem Einfluß der Firma Krupp ein bereits bei seiner Einführung veraltetes Geschütz beschafft wurde. Dazu siehe G. W. F. Hallgarten: Das Wettrüsten. Seine Geschichte bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1967, S. 59 f. Einen Vorgang, den man mit Mollin als „Skandal erster Ordnung” bezeichnen kann.­Mollin S. 269. Zu den technischen Details siehe Linnenkohl S. 65 ff.454 Reichsarchiv: Kriegsrüstung, Bd. 1, S. 239.

Teil II: Luftfahrt

… folgt.

Der Verlag von Herrn Jansen wurde kontaktiert, jedoch ist bisher leider kein Kontakt zum Verfasser zustande gekommen. (© John Vincent Palatine 2020)


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Pleiten, Pech und Pannen – Die Entfesselung des Krieges

Mobilmachung 1914

Erfolgreiche politische Attentate waren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert an der Tagesordnung. Im März 1881 war der russische Zar Alexander II ermordet worden, in den USA starben zwischen 1865 und 1901 nicht weniger als drei Präsidenten durch Attentate [Abraham Lincoln, James A. Garfield und William McKinley] und auch Österreich-Ungarn hatte 1898 mit Kaiserin Elisabeth, genannt Sisi, eine Kaiserin verloren. Im Jahre 1900 wurde der italienische König Umberto I ermordet, 1903 König Alexander I von Serbien und seine Frau, 1908 König Karl I von Portugal und sein Sohn Kronprinz Ludwig Philipp und schließlich 1913 König Georg I von Griechenland.

Keines dieser Attentate auf regierende Staatsoberhäupter löste eine internationale Krise aus. Was also gab dem Attentat von Sarajevo seine Bedeutung, in welchem lediglich einer von mehreren Thronfolgern ermordet wurde – Franz Ferdinand von Österreich-Este – der in seinem Land auch kaum betrauert wurde? Aus den Ereignissen welche folgten, scheint klar, dass es nicht um die Person des Opfers ging. Aus Gründen, die hier zu beleuchten sind, fasste die österreichisch-ungarische Regierung die Situation sowohl als Bedrohung als auch als Chance auf, die Situation im Balkan und vielleicht die eigene Existenz zu schützen und/oder zu bewahren. Unsere Beiträge zu dem Thema:


Die Schlafwandler – Das Deutsche Außenministerium nach Bismarck


Der Letzte Tag Europas – Sarajevo, 28. Juni 1914


Das Ultimatum an Serbien


Serbien muss sterbien! – Zur Kriegserklärung Österreich-Ungarns


Die Weltlage am 1. August 1914


(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Das Ultimatum an Serbien


Einführender Post: Der letzte Tag Europas – Das Attentat von Sarajevo


Die hier angeführten Dokumente und Informationen verdanken wir dem Österreichischen Staatsarchiv.

Österreich-Ungarns Ultimatum an Serbien 1914

Nach der Ermordung des Thronfolgerehepaares am 28. Juni 1914 in Sarajevo verstrich fast ein Monat, bis am 23. Juli 1914 die offizielle Reaktion Österreich-Ungarns erfolgte: Das für den Anschlag auf Erzherzog Franz Ferdinand verantwortlich gemachte Königreich Serbien wurde mittels einer diplomatischen Note ultimativ dazu aufgefordert, binnen 48 Stunden nach Überreichung durch den k. u. k. Gesandten in Belgrad die ihm darin gestellten Bedingungen, insbesondere betreffend das Vorgehen gegen die Hintermänner des Attentates auf serbischem Territorium, uneingeschränkt anzunehmen; jeglicher Vorbehalt würde als Kriegsgrund betrachtet. Der vorliegende Text gibt die letzte, definitive Fassung der in französischer Sprache gehaltenen Note an Belgrad wieder, wie sie am 19. Juli in einer Sitzung des gemeinsamen Ministerrates beschlossen wurde und vom Gesandten Giesl am 23. Juli nachmittags übergeben werden sollte.
Die serbische Antwort erfolgte in letzter Minute und enthielt Einschränkungen, was die geforderte Mitwirkung österreichischer Amtsorgane an den Untersuchungen in Serbien betraf. Somit hatte Giesl weisungsgemäß die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten abzubrechen und aus Belgrad abzureisen. Die österreichisch-ungarische Kriegserklärung an Serbien erfolgte am 28. Juli 1914.

Das berühmte „Ultimatum“ hatte den Zweck, der internationalen Staatengemeinschaft vor Augen zu führen, dass die Schuld des Kriegsausbruchs bei Serbien läge. Die Bedingungen waren bewusst hart formuliert, sodass man in Wien gar nicht mit deren Annahme rechnete. Seit dem als letzte, besonders empörende Demütigung empfundenen Attentat glaubte man seitens der österreichisch-ungarischen Diplomatie, die Balkanfrage ein für alle Mal auf militärischem Wege, in einem isolierten Krieg gegen Serbien, lösen zu können. Freilich unterschätze man am Wiener Ballhausplatz dabei sträflich die Bereitschaft Russlands, aufseiten seines serbischen Verbündeten in den Krieg einzutreten, wodurch der Große Krieg tatsächlich unvermeidbar wurde.

Österreichisches Staatsarchiv, Quelle: http://wk1.staatsarchiv.at/diplomatie-zwischen-krieg-und-frieden/oesterreich-ungarns-ultimatum-an-serbien-1914/
Übergabe der Note durch Botschafter Giesl

Link zu dem Text des Ultimatums als PDF


(© John Vincent Palatine 2019)

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Der letzte Tag Europas

Illustration des Attentats von Sarajevo in der italienischen Zeitung “La Domenica del Corriere” am 12. Juli 1914

Selbst wenn man den Fall annimmt, dass sich sonst niemand einmischt: Was sollten wir davon profitieren? Nur ein weiteres Rudel von Dieben, Mördern und Schurken, und ein paar Pflaumenbäume.“

Erzherzog Franz Ferdinand über Krieg gegen Serbien


Dies ist die Geschichte eines österreichischen Prinzen, seiner böhmischen Frau, und eines bosnischen Jungen. Sie trafen sich nur einmal.

Der Prinz war Erzherzog Franz Ferdinand, der älteste Sohn von Franz Josephs Bruder Erzherzog Karl Ludwig – und somit Neffe des Kaisers. Einige Jahre nach dem Selbstmord des einzigen Sohnes des Kaisers, Kronprinz Rudolf, im Jahre 1889, wurde er zum Thronfolger der Habsburger in Österreich und Ungarn ernannt. Über seine Jugend wird wenig berichtet, außer einer etwas anfälligen Gesundheit. In seiner Kindheit verbrachte er viel Zeit am Hofe seines Onkels Erzherzog Friedrich und der Erzherzogin Isabella in Bratislava, deren Tochter – seine Cousine Erzherzogin Maria Christina – er eines Tages heiraten sollte. Aber dann stellte sich heraus, dass sein liebevolle Aufmerksamkeit stattdessen auf eine von Isabellas Hofdamen, die böhmische Gräfin Sophie Chotek, gerichtet war und das Fett lag im Feuer. Frau Chotek, aus einer alten aber verarmten böhmischen Familie, war nach dem Habsburger Familiengesetz keine akzeptable Partie, und der Kaiser untersagte die Ehe.

In dieser Hinsicht jedoch zeigte der junge Prinz große Beharrlichkeit – oder Sturköpfigkeit. Er sah sich nach Unterstützung für seine Brautwahl um und konnte unter anderem Zar Nikolaus II, Kaiser Wilhelm II,  und Papst Leo XIII mobilisieren, unter deren konzertierten Salven Franz Joseph schließlich seine Kapitulation erklärte. Er würde die Ehe unter den Bedingungen einer morganatischen Vereinigung gestatten, das heißt, weder die Ehefrau noch etwaige Kinder hätten Ansprüche auf habsburgische Titel, Privilegien oder Besitztümer und die Kinder wären von der königlichen und kaiserlichen Nachfolge ausgeschlossen. Der Erzherzog musste am 28. Juni 1900 einen öffentlichen Eid darauf ablegen und eine offizielle Verzichtsurkunde unterschreiben – genau vierzehn Jahre vor dem Tag von Sarajevo. Interessanterweise galt dieser Verzicht legal gesehen nur für die österreichischen Erblande – in Ungarn und Böhmen hätte Sophie Königin werden können – aber im Interesse der Einheit des Reiches verzichtete das Paar darauf am gleichen Tage.

Kaiser Franz Josef mit Kaiserin Elisabeth (Sisi) und ihren Kindern Kronprinz Rudolf, Erzherzogin Gisela und ihrem Mann Prinz Leopold von Bayern und ihren Enkeln
Kaiser Franz Josef mit Kaiserin Elisabeth (Sisi) und ihren Kindern Kronprinz Rudolf, Erzherzogin Gisela und ihrem Mann Prinz Leopold von Bayern und deren Enkeln

Das Debakel dieser Ehe war nicht der einzige Grund für die zunehmenden Spannungen zwischen Kaiser und Prinz. Der Kaiser war versöhnlich, der Prinz grob und er versuchte darüber hinaus „einen solchen Einfluss auf die Politik der Monarchie auszuüben, den der Kaiser nicht dulden konnte. Ihre häufigen scharfen Diskussionen führten zu gegenseitigen Gefühlen von Angst und Hass.“ Trotz seines offiziellen Status wurde der Prinz so weit wie möglich von den Geschäften der kaiserlichen Regierung ausgeschlossen und in seinen militärischen Funktionen, obwohl er in den Rang eines Feldmarschalls befördert worden war, nur mit dekorativen Aufgaben betraut.“ Sein Charakter, so schreibt Luigi Albertini

“… war komplex und voller Widersprüche. Er hasste Schmeichelei und pflegte von jedem zu sagen, der sich vor ihm krümmte: ‘Er ist nicht gut, er ist eine Kröte.’“ Andererseits, so schreibt Oberst Brosch (Leiter der Kanzlei und Sekretär von Franz Ferdinand), „konnte er niemals direkten Widerspruch ertragen, forderte aber dennoch immer die ungeschminkte Wahrheit und die Menschen um ihn herum hatten die schwierige Aufgabe, diese Wahrheit in einer für seinen Stolz akzeptablen und taktvollen Form zu präsentieren.“

Aber er hatte ein Verständnis für und auch ein Talent für Politik und verstand die große Herausforderung der Doppelmonarchie – die Frage der Nationalitäten. Wegen seiner schockierenden Angewohnheit, Menschen von niedrigeren Stand Fragen zu stellen und ihre Antworten zu überdenken, wusste er viel mehr als der Kaiser von der wahren Lage des Reiches; mehr als was Albertini als die “offizielle Meinung” bezeichnete.

Seine politischen Ansichten waren im Wesentlichen anti-ungarisch und diese gegenseitige Feindseligkeit prägte seine Meinung über die Behandlung der südlichen Slawen und seine Überzeugung, dass Österreich-Ungarn langfristig nur als dreifache Monarchie oder als ein Bundesstaat überleben könne, in dem sowohl Deutsche als auch Magyaren und Slawen ihre eigene Staatlichkeit besaßen. Seine Ablehnung des „Ausgleichs“, in dem die Magyaren die gesamte Nation als Geisel für ihre Extratouren genommen hatten, brachte ihn in scharfen Konflikt mit dem Kaiser, dem Gründer und Garanten dieses Systems. Der Prinz war und blieb ein ausgesprochener Gegner der Travestie des
ungarischen Parlaments, in dem “die acht Millionen Nicht-Magyaren (außer den Kroaten) durch 21 Abgeordnete und die achteinhalb Millionen Magyaren durch 392 Deputierte vertreten waren”.

Franz Josef und Franz Ferdinand bei Militärmanövern 1908
Franz Josef und Franz Ferdinand bei Militärmanövern 1908

Als potenzieller Reformer bekannt, war er der natürliche Gottseibeiuns des Panslawismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Monarchie sowohl von innen als auch von außen durchdrungen hatte und seine politische Emanation in dem kleinen Königreich Serbien hatte, das 1882 von Fürst Milan Obrenović proklamiert worden war, vier Jahre nachdem der Berliner Kongress 1878 das Ländchen zu einer neuen, unabhängigen Nation gemacht hatte.

Während der junge Staat schnell die Errungenschaften modernen Politik einführte – Parteien, Komitees und Zeitungen – versuchte König Milan es zuerst mit Autokratie. Dies erwies sich allerdings als erfolglos genug, dass er bereits 1889 formell abdanken musste – was ihn jedoch nicht daran hinderte, die Zügel während des Regentschaft seines Sohnes Alexandar – in einer burlesken Doppelregentschaft von 1897 bis 1900 – in der Hand zu behalten; einer Regentschaft, zu der die Königinmutter Nathalia ihre eigene korrupte Beteiligung hinzufügte. Als der ebenso autokratisch gesinnte Sohn die berüchtigte Kurtisane Draga Masin ehelichte (eine ehemalige Trauzeugin seiner Mutter), die zehn Jahre älter war als der Bräutigam,  reichte alleine die Nachricht ihres Engagements aus „um den Rücktritt des gesamten Kabinetts auszulösen“ – einschließlich des Innenministers Djordje Gencit, der seine eigenen, persönlichen und sehr intimen Erfahrungen mit der neuen Königin hatte.

Der alte König Milan war über die Familienpläne seines Sohnes entsetzt und zog sich ins Exil nach Österreich zurück, wo er 1901 starb. Der Sohn führte eine autokratische Herrschaft – er interpretierte und änderte, wenn er es für nötig hielt, die Verfassung seinen Launen gemäß, schloss kritische Zeitungen, ließ persönliche Feinde ins Gefängnis werfen und Schulen, Dörfer und, wie Christopher Clark feststellte, sogar Regimenter der Armee nach seiner Königin benennen. Das Gerücht, dass der König anstelle eines natürlichen Erbens – denn die Königin blieb kinderlos – plante, “den Bruder von Königin Draga, Nikodije Lunjevica, als Nachfolger des serbischen Throns zu benennen“, provozierte schließlich das Militär, das über Zahlungsrückstände klagte und aufgrund ausbleibender Beförderungen höchst unzufrieden war, Maßnahmen zu ergreifen – das königliche Paar folgte der auf dem Balkan weit verbreiteten Tradition, nur Freunde und Verwandte auf die fetten Posten zu befördern.

Dragutin Dimitriević, ein talentierter junger Leutnant der Armee, wurde zum Mittelpunkt einer militärischen Verschwörung, die sich im Sommer 1901 mit dem Ziel bildete, das königliche Paar zu ermorden. Die Fähigkeiten des jungen Offiziers wurden schon früh von der Militärführung anerkannt worden und schon eine Woche nach seinem Abschluss an der Militärakademie wurde er auf einen Posten im serbischen Generalstab befördert.

Professor Stanoje Stanojević, Dekan der Universität von Belgrad, enthüllte der Welt 1922 in einem Aufsatz über den Mord an dem Erzherzog die Verantwortung dieses Mannes und seiner Organisation, Ujedinjenje ili smrt! [Union oder Tod!], auch “Schwarze Hand” [Crna Ruka] genannt, für die Morde von Sarajevo, die bei den dem Attentat folgenden österreichischen Ermittlungen fälschlicherweise der Narodna Odbrana, einer Art serbischen Heimwehr, die in der Folge der österreichische Annexion von Bosnien-Herzegowina im Jahr 1908 entstanden war, zugeschrieben wurden. Beide Organisationen überschnitten sich jedoch. In seinem Essay gab Stanojević die folgende kurze Zusammenfassung der Aktivitäten dieses Offiziers, der später Chef des serbischen militärischen Geheimdienstes werden sollte:

Dimitriević um 1900

“Dimitriević, ein unruhiger Charakter voller Abenteuergeist, plante ständig Verschwörungen oder Attentate. Im Jahr 1903 war er einer der Hauptorganisatoren der Verschwörung gegen König Alexander und schon 1911 sandte er einen Agenten aus, um entweder den österreichischen Kaiser oder seinen Erben [Franz Ferdinand] zu ermorden. Im Februar 1914 verschwor er sich mit einem geheimen bulgarischen Revolutionskomitee, um den bulgarischen König Ferdinand zu ermorden.

Er übernahm und organisierte die Planung des Attentats gegen den österreichischen Erben im Jahre 1914. 1916 sandte er aus Korfu einen Agenten aus, um die Ermordung des griechischen Königs Konstantin zu betreiben, und im selben Jahr schien er Kontakt zum Feind gesucht und ein Attentat gegen den serbischen Thronfolger und Prinzregenten, Prinz Alexandar, geplant zu haben [der verdächtigt wurde im Geheimen mit Österreich über einen Waffenstillstand zu verhandeln]. Aus diesem Grund wurde er im Juni 1917 zum Tode verurteilt und an der Saloniki-Front erschossen.“

Dragutin Dimitriević (rechts) mit zwei Assistenten
Dragutin Dimitriević (rechts) mit zwei Assistenten

Luigi Albertini konnte sich nach dem Krieg mit einigen hochrangigen ehemaligen Mitgliedern der Schwarzen Hand unterhalten. Die Gesamtzahl der Mitglieder war stark übertrieben worden, wie ihm Oberst Cedomilj Popović, einer der Gründer der Organisation, mitteilte. Es waren wohl nicht mehr als 2500, aber…

„ … Union oder Tod fand breite Zustimmung und die Mitgliedschaft wäre viel höher gewesen, wenn die Türen für alle geöffnet worden wären. Diejenigen, welche zugelassen wurden, mussten positiv auf Loyalität getestet werden und praktische Dienste beisteuern können.“

Und die Ziele der Organisation? Cedomilj Popović erklärte:

„Union oder Tod hatte die Vereinigung aller südlichen Slawen der österreichisch-ungarischen Monarchie zu einer nationalen Einheit zum Ziel. Das Belgrader Zentralkomitee bestand neben den Mitgliedern des Königreichs Serbien aus Vertretern aller geplanten zukünftigen jugoslawischen Gebiete: einer für Bosnien-Herzegowina, Gaftnović, einer für Alt-Serbien und Mazedonien, einer für Montenegro und einer für Kroatien. einer für Slowenien und Sytmien, einer für die Woiwodina, einer für Dalmatien, welcher Oskar Tartaglia war. Wir wissen, dass Dragutin Dimitriević im Jahr 1917 mit den Worten starb: “Lang lebe Jugoslawien!”

Professor Stanojević war fasziniert von der Persönlichkeit seines Subjekts und beschreibt Dimitriević als geborenen Verschwörer, als eine Mischung aus Fouché und Kardinal Mazarin.

„Begabt und kultiviert, ehrenhaft, ein überzeugender Redner und aufrichtiger Patriot, persönlich mutig, voller Ehrgeiz, Energie und Arbeitsfähigkeit, übte Dragutin Dimitriević einen außergewöhnlichen Einfluss auf die Menschen in seiner Umgebung aus, insbesondere auf seine Mitarbeiter und auf seine jüngeren Offiziere, die ihm alle in Bezug auf Geistesqualitäten und Charakter unterlegen waren.

Er hatte Eigenschaften, die Männer in seinen Bann zogen. Seine Argumente waren immer klar und überzeugend. Er konnte die hartnäckigsten Probleme als Kleinigkeiten darstellen und die haarsträubendsten Unternehmungen als harmlos und einfach. Dabei war er in jeder Hinsicht ein bemerkenswerter Organisator. Er behielt alle Fäden in der Hand und selbst seine intimsten Freunde wussten nur, was ihre unmittelbaren Aufgaben betraf.

Gleichzeitig war er jedoch außerordentlich eingebildet und sehr geziert. Ehrgeizig wie er war, hatte er eine Vorliebe für heimliche Arbeit, aber es gefiel ihm, jeden wissen zu lassen, dass er geheime Arbeit verrichtete und alle Fäden in der Hand hielt. Er war nicht fähig, Mögliches von Unmöglichem zu unterscheiden, oder die Grenzen von Verantwortung und Macht wahrzunehmen. Er hatte keine klare Vorstellung vom normalen bürgerlichen und politischen Leben und seinen Anforderungen. Er sah nur seine eigenen Ziele und verfolgte sie rücksichtslos und ohne Skrupel. Er liebte Abenteuer und Gefahren, geheime Treffen und geheimnisvolle Aktivitäten. Wie weit sein privater Ehrgeiz reichte, ist schwer zu sagen. Seine politischen Ideen waren wenig ausgebildet und recht verwirrt, aber er war außerordentlich entschlossen, alles umzusetzen, worauf er sich konzentrierte. Dimitriević war überzeugt, dass seine eigenen Ideen in allen Belangen, Ereignissen und Umständen genau die richtigen waren. Er glaubte, dass seine Meinungen und Aktivitäten den Inbegriff des Patriotismus repräsentierten. Jeder, der nicht mit ihm einverstanden war, konnte in seinen Augen weder ehrenhaft, noch weise, noch ein Patriot sein. Zweifellos war er selbst all dies, aber es fiel ihm schwer, dies auch bei anderen anzuerkennen – abgesehen von denen, die seinen Befehlen gehorchten. Es war an ihm zu planen, zu organisieren und zu befehlen – andere hatten zu gehorchen und seine Befehle auszuführen, ohne zu fragen.”

Die Ursprünge von „Union oder Tod!“ gehen auf die schon erwähnte Verschwörung serbischer Offiziere zurück, die das königliche Paar und andere, die sie als Feinde des Volkes sahen, zu ermorden suchten. Der junge Leutnant – schon damals ein Anführer – legte den Termin für den ersten Versuch auf den Tag des Hofballs zum Geburtstag der Königin am 11. September 1901. Christopher Clark bemerkt dazu:

In einem Plan, der von den Seiten eines Ian-Fleming-Romans kopiert zu sein schien, wurden zwei Offiziere beauftragt, das Donaukraftwerk, welches Belgrad mit Strom belieferte, auszuschalten, während ein Dritter die kleinere Station, die den Ball mit Elektrizität versorgte, deaktivieren sollte. Sobald die Lichter ausgegangen waren, planten die vier am Ball anwesenden Attentäter, die Vorhänge anzuzünden, Feueralarm auszulösen und den König und seine Frau zu liquidieren, indem diese zur Einnahme von Gift gezwungen wurden (diese Methode wurde zur Umgehung des Problems einer möglichen Durchsuchung nach Schusswaffen gewählt). Das Gift wurde erfolgreich an einer Katze getestet, aber in jeder anderen Hinsicht wurde der Plan ein Misserfolg. Das Kraftwerk erwies sich als zu stark bewacht und die Königin hatte sich sowieso entschieden, nicht am Ball teilzunehmen. Unbeeindruckt von diesem und anderen gescheiterten Versuchen arbeiteten die Verschwörer in den nächsten zwei Jahren hart daran, den Umfang des Putsches zu erweitern. Über einhundert Offiziere wurden rekrutiert, darunter viele junge Soldaten.“

Es wurde schließlich entschieden, die Morde im königlichen Palast selbst zu versuchen, wo die Anwesenheit des Paares sicher war. Der König war sich wohl der Verschwörung bewusst, über die am 27. April 1903 sogar in der Londoner Times berichtet wurde. Er hatte die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt und die Verschwörer brauchten viel Zeit und Mühe, um die aufeinanderfolgenden Schichten der königlichen Leibgarde zu umgehen oder zu durchdringen. Die Aktion selbst wurde durch ihre unerhörte Grausamkeit zu einer veritablen Legende. Am frühen Morgen des 11. Juni 1903 durchbrachen 28 Verschwörer – allesamt Offiziere der Armee – die Palasttüren und betraten den königlichen Schlafraum, dessen geschlossene Türen sie der Wirkung einer ganzen Schachtel Dynamit anvertrauten. Die gewaltige Explosion, die darauf folgte, schloss die Stromversorgung kurz und verzögerte dadurch den Fortschritt der Gruppe, die sich erst Kerzen besorgen mussten. Das königliche Paar – kaum bekleidet – versteckte sich in einem winzigen Dienstraum und es dauerte fast zwei Stunden, bis sie entdeckt wurden. Während der Durchsuchung des Schlosses ermordeten separate Todesschwadronen in der Stadt sowohl die beiden Brüder der Königin als auch den Premierminister und den Kriegsminister.

Eine zweite, genauere Durchsuchung der königlichen Wohnung entdeckte schließlich die Gesuchten und nachdem die Verschwörer ihre friedlichen Absichten dem König  gegenüber eidlich versichert hatten –
um sie aus ihrer Deckung herauszulocken – gaben die Intriganten eine Wolke von Pistolenschüssen auf das Königspaar ab.

„Es folgte eine Orgie der Gewalt. Die Leichen wurden mit Schwertern zerstochen, mit Bajonetten zerrissen, mit Äxten bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und zerstückelt – wie es aus dem Bericht des schwer traumatisierten italienischen Barbiers des Königs hervorgeht, dem später befohlen wurde, die Leichen einzusammeln und zur Beerdigung wieder anzuziehen. Die Leiche der Königin wurde über die Brüstung des Schlafzimmerbalkons gehoben und nackt und voller Blut in den darunterliegenden Garten geworfen. Es wurde berichtet, dass, als die Attentäter versuchten, dasselbe mit Alexandar zu tun, der eine seiner Hände um das Geländer geschlossen hatte, ein Offizier mit einem Säbel durch die Faust hackte, und der Körper inmitten eines Regens von abgetrennten Fingern auf die Erde fiel. Als sich die Attentäter danach im Garten versammelten, um zu rauchen und die Ergebnisse ihrer Anstrengungen zu begutachten, begann es zu regnen.“

Anschließend ersetzten die Verschwörer die Obrenović-Dynastie durch den derzeitigen Anführer des Karadjordjević-Clans, Petar, den sie aus seinem Schweizer Exil zurückgerufen hatten. Der Urgroßvater des neuen Königs war der „dunkelhäutige ehemalige Viehtreiber Black George“ (serbisch: „Kara Djordje“) Petrović gewesen, der „1804 einen Aufstand geführt hatte, der die Ottomanen einige Jahre lang aus Serbien vertrieben hatte, jedoch 1813 in österreichisches Exil geflüchtet war, als die Osmanen eine Gegenoffensive begannen.“ 1815 hatte ein weiterer Aufstand, angeführt von dem obengenannten Milos Obrenović, mehr Erfolg; Die Osmanen akzeptierten serbische Selbstverwaltung als eigenes Fürstentum unter türkischer Oberhoheit, und Milos’ erstes Ziel bestand darin, Black George nach seiner Rückkehr aus dem Exil zu töten, wonach die Familie Obrenović Serbien bis zu dem Massaker im Juni 1903 beherrschen konnte.

Der neue König Petar I. schien, überraschenderweise, aus seinen Studien über Politik und Geschichte die Pflichten eines konstitutionellen Monarchen, der “regierte, aber nicht bestimmte“, gelernt zu haben – er übersetzte John Stuart MillsDie Freiheit” ins Serbische – und schien auch tatsächlich einer zu werden – innerhalb der Grenzen, die die Verschwörer, die sich niemals auflösten, erlaubten. Aber diese hatten in der Zwischenzeit wohl ihre Ansichten und vielleicht auch ihre Methoden geändert – obwohl wir nicht sicher sein können, dass sie Attentate als politisches Mittel aufgegeben haben, angesichts dessen, was Stanojević über Dimitrievićs spätere Karriere oben gesagt hat – vom Königsmörder zum Panslawisten. Die Verschwörung blieb jedoch nach wie vor eine Macht außerhalb der Autorität von König, Parlament und der Zivilregierung, welche zwischen 1904 und 1918 hauptsächlich von Nicola Pasić, Vorsitzender der Radikalen Volkspartei, Premierminister und Außenminister, angeführt wurde. Die Verschwörer hatten die serbische Regierung bereits bei der Vorbereitung des Putsches infiltriert; folglich waren sie in der Lage, „sich die wünschenswertesten Militär- und Regierungsposten zu sichern“. Trotzdem standen sie einer gewissen Opposition gegenüber.

Innerhalb der Armee selbst entstand eine militärische Gegenverschwörung, die sich in der Festungsstadt Niš unter der Führung von Captain Milan Novaković konzentrierte, der in einem öffentlichen Manifest die Entlassung aus Armee und Dienst von achtundsechzig benannten Königsmördern forderte. Novaković wurde schnell verhaftet und trotz einer mutigen Verteidigung seiner Handlungen wurden er und seine Komplizen vor ein Militärgericht gestellt, schuldig gesprochen und zu langen Haftstrafen verurteilt. Als er zwei Jahre später das Gefängnis verließ, nahm Novaković seine Angriffe auf die Verschwörer erneut auf und wurde wiederum inhaftiert. Im September 1907 kamen er und ein männlicher Verwandter unter mysteriösen Umständen während eines angeblichen Fluchtversuchs ums Leben, ein Skandal, der große Empörung im Parlament und in der liberalen Presse auslöste. Die Frage der Beziehungen zwischen Armee und zivilen Behörden blieb daher auch nach dem Attentat von 1903 ungeklärt, ein Zustand, der die Reaktionen Serbiens auf die Ereignisse von 1914 prägen würde.

Die Radikale Volkspartei war ein spezifisch serbisches politisches Produkt, das den Liberalismus des späten 19. Jahrhunderts mit einem leidenschaftlichen Nationalismus verband, welcher die Einheit aller Serben oder vielleicht die aller Südslawen in einem Großserbien anstrebte, dessen zukünftige Grenzen jedoch von der Person abhingen, die man gerade fragte. Die grundlegende, halboffizielle Karte des serbischen Nationalismus, so erklärt Christopher Clark…

… war ein geheimes Memorandum, das der serbische Innenminister Ilija Garasanin 1844 für Prinz Alexandar Karadjordjević verfasst hatte. Nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1906 als „Nacertanije“ – aus dem alten serbischen Wort „ Entwurf“ – zeichnete Garasanins Vorschlag ein “Programm für die Nationale Außenpolitik Serbiens “.

Es ist schwierig, den Einfluss dieses Dokuments auf Generationen serbischer Politiker und Patrioten zu überschätzen. Mit der Zeit wurde es die Magna Charta des serbischen Nationalismus. Garasanin eröffnete sein Memorandum mit der Bemerkung, Serbien sei “klein, müsse aber nicht in diesem Zustand verbleiben”. Das erste Gebot der serbischen Politik müsse das “Prinzip der nationalen Einheit” sein. Damit meinte er die Vereinigung aller Serben innerhalb der Grenzen eines serbischen Staates: “Wo ein Serbe lebt, das ist Serbien.”

Die historische Vorlage für diese weitreichende Vision serbischer Staatlichkeit war das kolportierte mittelalterliche Reich von Stepan Dusan, ein riesiges Gebiet, das den größten Teil der heutigen Serbischen Republik sowie Bulgarien, die Gesamtheit des heutigen Albaniens, den größten Teil von Mazedonien als auch das gesamte Zentral- und Nordgriechenland umfasste, aber interessanterweise nicht Bosnien.

Eine französische Karte Groß-Serbiens
Eine französische Karte des geplanten Groß-Serbiens

Zar Dusans angebliches Großreich war am 28. Juni 1389 nach einer Niederlage gegen die Türken auf dem Kosovo-Feld [Schlacht auf dem Amselfeld] zusammengebrochen. Aber dieser Rückschlag, argumentierte Garasanin, hatte die Legitimität des serbischen Staates nicht untergraben. es hatte lediglich seine historische Existenz unterbrochen. Die „Wiederherstellung“ eines Großserbiens, das alle Serben vereinigte, war somit keine Neuerung, sondern Ausdruck eines uralten historischen Rechts.

„Sie können uns nicht vorwerfen, etwas Neues, Unbegründetes zu suchen, eine Revolution oder einen Umbruch zu planen, sondern jeder muss sich eingestehen, dass es [Großserbien] politisch notwendig ist; dass es in sehr alten Zeiten gegründet wurde und seine Wurzeln im ehemaligen politischen Bereich und dem nationales Leben der Serben hat.“

Garasanins Argument folgte somit jener dramatischen Verkürzung der historischen Zeitlinie, die typischerweise in Diskursen des integrativen Nationalismus beobachtet werden kann; darüber hinaus beruhte es auf der Fiktion, dass Zar Dusans weitreichendes, multiethnisches und zusammengestückeltes mittelalterliches Gemeinwesen mit der modernen Idee eines kulturell und sprachlich homogenen Nationalstaates in kongruente Übereinstimmung gebracht werden könne. Die serbischen Patrioten sahen hier keinen Widerspruch, da sie argumentierten, dass praktisch alle Einwohner dieses Landes im Wesentlichen Serben waren. Vuk Karadzić, der Architekt der modernen serbokroatischen Literatursprache und Autor des berühmten nationalistischen Traktats, “Srbi svi i svuda” (“Serben alle und überall”), veröffentlicht 1836, sprach von einer Nation von fünf Millionen Serben, die die “Serbische Sprache” benutzen und verstreut von Bosnien und Herzegowina bis zum Banat von Temesvar (Ostungarn, jetzt im Westen Rumäniens), der Backa (eine Region, die sich von Nordserbien nach Südungarn erstreckt), Kroatien, Dalmatien und der Adriaküste von Triest bis zum Norden Albaniens leben. Natürlich gab es einige in diesen Ländern, räumte Karadzić ein (er bezog sich insbesondere auf die Kroaten), “die es immer noch schwer haben, sich Serben zu nennen, aber es ist wahrscheinlich, dass sie sich allmählich daran gewöhnen werden.

Das offensichtliche Problem seiner abenteuerlichen Theorien bestand darin, Türken, Griechen und Österreicher davon zu überzeugen, die geschichtsträchtige Notwendigkeit eines Großserbiens „anzuerkennen“, damit sie diese von den Serben als zukünftige serbische Provinzen bezeichneten Gebiete evakuieren könnten, deren indigene Bevölkerung sich nach serbischer ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität und Staatsbürgerschaft sehnte. Da viele der beabsichtigten Begünstigten sich noch nicht des Glücks bewusst waren, das diese Zukunft bringen würde, musste das Projekt der Befreiung heimlich verlaufen, und niemand war für diese Aufgabe besser geeignet als der Verschwörer und Königsmörder Dimitriević, der damals Dozent an der Serbische Militärakademie war.

Dies war jedoch noch nicht der ganze Umfang seiner Aktivitäten. Nach der österreichischen Annexion Bosnien-Herzegowinas, die zur Entstehung der Narodna Odbrana geführt hatte, war eine tiefe Trennung zwischen der offiziellen Regierung Serbiens, die innerhalb der Möglichkeiten allgemein anerkannter politischer Grenzen planen und handeln musste, und den nationalistischen Hitzköpfen entstanden, die keinerlei Einschränkungen akzeptierten wollten. Anfang des Jahres 1911 begann der politische Aktivist Bogdan Radenković, Kontakt zu nationalistischen Sympathisanten aus allen Gesellschaftsschichten aufzunehmen, und in Anwesenheit von Dimitriević bildeten vier seiner Offizierskollegen und ein Zivilist am 3. März in Belgrad die Geheimbruderschaft „Ujedinjenje ili smrt! “ (Union oder Tod!), die schließlich auch als die „Schwarze Hand“ [Crna Ruka] bekannt wurde. Im heutigen Sprachgebrauch war es eine terroristische Organisation, die Rituale der Freimaurer übernahm und diese mit dem Zellensystem der im Untergrund operierenden Kommunisten kombinierte. Wie alle solche Vereinigungen gedieh sie vor allem aus der Selbsterhöhung ihrer Gründer – der Überzeugung, dass sie die Geschichte verändern würden. In ihrem Fall waren sie, wie wir sehen werden, durchaus erfolgreich. Neulinge wurden bei Treffen mit ihren zukünftigen Brüdern in einem dunklen Raum verfrachtet und zu dem folgenden Eid veranlasst:

Ich [Name] schwöre, bei meinem Beitritt zur Organisation Union oder Tod, bei der Sonne, die mich wärmt, bei der Erde, die mich nährt, vor Gott, bei dem Blut meiner Vorfahren, meiner Ehre und meinem Leben, dass ich von diesem Moment an bis zu meinem Tod den Gesetzen dieser Organisation treu sein werde, und  immer bereit sein werde, jedes Opfer für sie zu bringen.

Ich schwöre vor Gott, bei meiner Ehre und meinem Leben, dass ich alle Aufträge und Befehle ohne Rückfrage ausführen werde.

Ich schwöre vor Gott, bei meiner Ehre und meinem Leben, dass ich alle Geheimnisse dieser Organisation mit in mein Grab nehmen werde. Mögen Gott und meine Kameraden in der Organisation meine Richter sein, falls ich, ob wissentlich oder nicht, diesen Eid verletzen sollte.“

Es war eine Show, aber beeindruckend, und dazu entworfen, die überwiegend jungen Mitglieder zu prägen, die sich für eine solche Welt geheimer Männerbindung interessierten – Christopher Clark erkannte eindeutig die stark homoerotischen Tendenzen der Bruderschaft:

Das Milieu, in dem Dimitriević diese Gaben [zur Vertrauensbildung und zur Durchsetzung seines Willens] einsetzte, war nachdrücklich männlich. Frauen waren in seinem erwachsenen Leben eine marginale Präsenz; er zeigte nie sexuelles Interesse an ihnen. Sein natürlicher Lebensraum und Schauplatz all seiner Intrigen war die raucherfüllte, nur für Männer bestimmte Welt der Belgrader Kaffeehäuser – ein Raum, der zugleich privat und öffentlich war und in dem Gespräche gesehen werden konnten, ohne notwendigerweise gehört zu werden. Das bekannteste erhaltene Foto von ihm zeigt den stämmigen, schnurrbärtigen Intriganten mit zwei Mitarbeitern in einer charakteristischen Pose der Verschwörung.

Angesichts der geheimnisvollen Herkunft und des Charakters der Organisation kann es nicht überraschen, dass Ujedinjenje ili smrt! die Zivilregierung so leicht, schnell und tief greifend unterwanderte, wie sie den militärischen Bereich untergraben hatte; ihre Mitglieder infiltrierten auch die verschiedenen halboffiziellen (Narodna Odbrana) und Geheimgesellschaften sowie die Grenzpolizei, Spionagedienste und Telegrafenbüros. Seltsamerweise hielten einige Parteipolitiker und Regierungsbeamte “Union oder Tod!” für ein innenpolitisches Revolutionskomitee, das sie im Verdacht hatten, nationale Subversion zu betreiben, um die zivile Regierung zu stürzen. “Dieses Missverständnis“, betont Christopher Clark, “hat seinen Weg in viele diplomatischen Aufzeichnungen gefunden” und “trug dazu bei, die österreichischen Behörden während der Krise vom Juli 1914 ziemlich zu verwirren.”

Nach den Balkankriegen von 1912/13 wurden die neu erworbenen Provinzen den Segnungen moderner serbischer Verwaltung angepasst. Der bedenkliche Sicherheitszustand verbot leider die Gewährung von Bürgerrechten und viele öffentliche türkische Gebäude – Schulen, Büros und natürlich Moscheen – mussten zerstört werden, auf dass sie nicht als Versteck für türkische Terroristen dienen könnten. Es wurde vermutet, dass letztere in einer solchen Menge existierten, dass sich die Einführung des Kriegsrechts und die häufige Hinrichtung von Verdächtigen nur als ein bedauerlicher, aber notwendiger Nebeneffekt auf dem Weg in eine bessere Zukunft erweisen werde. Kritische Stimmen tauchten zwar in internationalen Zeitungen auf, aber das serbische Außenministerium konnte sich glücklicherweise auf den britischen Botschafter Sir Dayrell Crackanthorpe verlassen, der aus eigenem Antrieb offensichtlich falsche Berichte seiner Untergebenen korrigierte, die sich anmaßten, kleine Fehler, die bei einer solch selbstlosen Aufgabe nicht vermieden werden konnten, zu kritisieren.

Es schien ein Zeichen für die Effizienz österreichischer und vielleicht auch deutscher Propagandaorgane zu sein, dass die serbischen Verwaltungsreformen in den neu befreiten Gebieten nicht den ungeteilten Beifall der internationalen Beobachter fanden; insbesondere britische Diplomaten schienen anfällig für Desinformationskampagnen zu sein. So berichtete der britische Vizekonsul Charles Greig aus Monastir an der Südgrenze, “dass die Moslems unter serbischer Herrschaft nichts erwarten dürfen als periodische Massaker, gnadenlose Ausbeutung und ihren endgültigen Ruin.” Sein Kollege in Skopje berichtete von “systematischer Einschüchterung, willkürlichen Inhaftierungen, Schlägen, Vergewaltigungen, Verbrennungen von Dörfern und Massaker durch Serben in den annektierten Gebieten.“ Weniger als zwei Wochen später warnte Herr Greig, dass sich die„ bulgarischen und vor allem die muslimischen Bevölkerungen in den Bezirken Perlepe, Krchevo und Krushevo in Gefahr der Vernichtung durch die sehr häufigen und barbarischen Massaker und Plünderungen, denen sie von serbischen Banden unterworfen werden, befanden“ und dass „Mord und Freveltaten anderer Art durch Banden von serbischen Comitaji (Terrorgruppen, auch Tchetniks genannt) und Personen, die mit ihnen im Bunde stehen“, geradezu eine Anarchie geschaffen hätten. Seine Exzellenz Dayrell Crackanthorpe war jedoch ein guter Freund der Serben und tat sein Bestes, um diese Berichte zu unterdrücken, von denen er glaubte, dass sie vollständig erfunden waren. Es handelte sich lediglich um das kumulative Gewicht aller dieser Berichte, die aus den angegliederten Gebieten kamen, kombiniert mit bestätigenden Berichten von rumänischen, schweizerischen und französischen Beamten, die das britische Außenministerium schließlich davon überzeugten, dass die Nachrichten von den Gräueltaten in Mazedonien nicht als österreichische Propaganda abgetan werden sollten.

Während “die serbische Regierung keinerlei Interesse zeigte, weitere Gewalttaten zu verhindern oder Ermittlungen in bereits geschehenen einzuleiten“, gab es durchaus Stimmen, die die wahre Ursachen der Schrecken in den kürzlich besetzten Gebieten an den Grenzen zu Griechenland und Bulgarien einem Verwaltungserlass zuschrieben, der die dortigen Militärbehörden – die diese Gebiete als ihren persönlichen Spielplatz betrachteten – der Zivilregierung unterstellte (als Folge der Balkankriege war Serbien von 18.650 auf 33.891 Quadratkilometer angewachsen und hatte über 1.500.000 Einwohner hinzugewonnen). Das Offizierskorps protestierte laut gegen diesen Plan des wieder einmal von Pasić geführten Kabinetts und am Horizont erschien das Gespenst einer Machtübernahme des Militärs. Der österreichische Botschafter in Belgrad berichtete am 8. Mai 1914 nach Wien:

Der Konflikt zwischen der Regierung und der Verschwörerpartei (Crna Ruka – Serbisch für “Schwarze Hand”) … hat sich in den letzten Wochen so verschärft, dass ein gewalttätiger Zusammenstoß der beiden Rivalen um die Macht nicht unmöglich erscheint. … Der König, der den Verschwörern seinen Thron verdankt, wagt es nicht, sich offen auf ihre Seite zu stellen, aber seine Sympathien gehören der Crna Ruka, wie auch die des Kronprinzen. … Da die Crna Ruka bei der Wahl ihrer Mittel wahrscheinlich nicht zu anspruchsvoll sein wird, um ihre Ziele zu erreichen, betrachte ich die Möglichkeit gewalttätiger Ausbrüche, sogar eines Sturzes der Regierung oder eines Staatsstreichs, als nicht völlig unvorstellbare Entwicklungen… außer die Regierung kapituliert wieder im letzten Moment gegenüber der Militärpartei, wie bisher.“

Angesichts zunehmender politischer Instabilität griffen Belgrads politische Sponsoren, Russland und Frankreich – letzteres hatte Serbien 1914 noch einen weiteren Kredit gewährt (in Höhe des doppelten Staatshaushalts von 1912) – auf den etwas ungewöhnlichen Schritt einer öffentlichen Bekanntmachung des russischen Botschafters Nicholas Hartwig zurück (in dem viele Leute den eigentlichen Herrscher des Landes erblickten). Er erklärte öffentlich, dass „die Balkanpolitik Russlands den Verbleib der Macht in den Händen Pasićs erfordere”, und Paris machte klar, dass keine andere Regierung als die gegenwärtige auf weitere Kredite hoffen könne. Dies waren klare Aussagen, aber niemand weiß, was geschehen wäre, hätte nicht der Ausbruch des Ersten Weltkriegs – nur wenige Wochen später – die Aufmerksamkeit der serbischen Armee von den innenpolitischen Streitigkeiten abgelenkt.

In der gegenüberliegenden Ecke des Kontinents hielt derweil die Verbesserung der englisch-deutschen Beziehungen weiter an. Winston Churchill meinte: „Der Frühling und Sommer 1914 waren in Europa von einer außergewöhnlichen Ruhe geprägt. … Die Flottenrivalität war im Moment keine Reibungsursache mehr, da es sicher war, dass wir in Bezug auf Schlachtschiffe nicht überholt werden konnten“, und ein britischer Wirtschaftsprofessor bezeugte, dass „Deutschland – seit 1911 – der beste Markt von allen [für britische Exporte]“ war. Dies sorgte in St. Petersburg für die Befürchtung, dass die Koalition für den Krieg gegen Deutschland – die das eigentliche Hindernis für St. Petersburgs Kriegsziel, die Kontrolle der Schwarzmeerengen Bosporus und Dardanellen, zu beseitigen hatte – möglicherweise in Kürze zerbräche. Sogar Paris schien ins Wanken zu geraten. Der frühere Premierminister Joseph Caillaux, der “im Verdacht stand, Deutschland gegenüber nachgiebig zu sein” und deshalb 1912 “aus dem Amt gejagt” wurde, trat im Dezember 1913 wieder als Finanzminister der französischen Regierung bei, und es wurde für möglich gehalten, dass er Premierminister einer Koalition von Radikalen und Sozialisten werden könnte, von denen viele glaubten, dass sie eine konstruktivere und friedlichere Politik gegenüber Deutschland wählen würden als den von Präsident Poincaré verkörperte Revanchismus. Der belgische Botschafter Guillaume berichtete Anfang 1914 nach Brüssel:

„Ich bin überzeugt, dass Europa von der Politik von Herrn Caillaux, den Radikalen und den Radikalsozialisten profitieren würde. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, die Herren Poincaré, Delcassé, Millerand und ihre Freunde haben die derzeitige Politik des Nationalismus, Militarismus und Chauvinismus entwickelt und vorangetrieben. Ich sehe darin die größte Bedrohung für den heutigen Frieden Europas.“

Beginnend mit der jährlichen Generalstabskonferenz von 1911 überarbeiteten Frankreich und Russland ihre militärische Kooperation und Strategie. Präsident Poincarés Kriegsbereitschaft beendete Frankreichs frühere Zurückhaltung, in Balkanfragen Russland zu Hilfe zu kommen – was die Vorsicht Frankreichs während der bosnischen Annexionskrise erklärt hatte -, aber nicht nur er entwickelte nun eine eher militärische Orientierung: „Die pazifistische und anti-militärische Volksstimmung, die sich 1905 durchgesetzt hatte, war einer kriegerischeren Haltung gewichen“, und „im Herbst 1912 unterstützte Poincaré fest den Plan einer russischen bewaffneten Intervention auf dem Balkan.“ Aber dies würde notwendigerweise zum Krieg führen: Österreich müsste eine russische Mobilisierung mit seiner eigenen beantworten – kein Weg führte darum herum – die, unter den Bedingungen des Zweibunds, Deutschland ins Spiel bringen würde, was wiederum Frankreich und Großbritannien auf der Seite Russlands einbeziehen würde. Die Feindseligkeiten würden mit einem gleichzeitigen Angriff auf Deutschland von Frankreich und Russland beginnen. Christopher Clark bemerkte zur französisch-russischen Kriegsplanung:

Die Frage, wie schnell und wie viele Männer Russland im Falle der Fälle mobilisieren würde und in welche Richtung es sie einsetzen würde, dominierte die französisch-russischen Diskussionen zwischen den Mitarbeitern der Stäbe in den Sommern von 1912 und 1913. In den Gesprächen vom Juli 1912 forderte der französische Generalstabschef Joseph Joffre die Russen auf, ihre gesamten Eisenbahnlinien an die ostpreußische und galizische Grenze doppelgleisig auszubauen. Einige strategisch wichtige Linien sollten sogar viergleisig verstärkt werden, um einen schnelleren Transport großer Truppenzahlen zu ermöglichen.

Die französisch-russische Flottenkonvention vom Juli 1912, die eine engere Zusammenarbeit und Koordinierung der beiden Flotten vorsah, war eine weitere Frucht der Verhandlungen. Und die russischen Bemühungen verbesserten sich allmählich – während Zhilinsky 1912 versprochen hatte, Deutschland am Tag 15 nach Mobilmachungsbeginn mit 800.000 Mann anzugreifen, konnte er im folgenden Jahr zusagen, den Zeitplan durch die
Einführung einiger Verbesserungen um zwei weitere Tage verkürzen.

Die geografische Ausrichtung der russischen Mobilisierung war ein weiteres Problem. Die Protokolle der Gespräche dokumentieren die unermüdlichen Bemühungen der französischen Stabsoffiziere, die russische Offensive gegen Deutschland anstatt gegen Österreich als Hauptgegner zu lenken. Während die Franzosen bereit waren, die Legitimität eines Casus belli anzuerkennen, der aus dem Balkan entsprang [1], würde der gesamte militärische Zweck des Bündnisses aus französischer Sicht heraus ad absurdum geführt werden, wenn die Russen den Großteil ihrer militärischen Macht gegen das Habsburgerreich einsetzten und die Franzosen sich einem massiven deutschen Angriff im Westen alleine widersetzen müssten. Als dieses Problem auf der Tagung 1912 angesprochen wurde, gab [der russische Stabschef] Zhilinsky zu bedenken, dass die Russen auch anderen Bedrohungen ausgesetzt waren, über die sie nachdenken müssten [Schweden und die Türkei], … aber Joffre bestand darauf, dass die „Zerstörung der deutschen Streitkräfte“ („l’aneantissement des forces de l’Allemagne“) alle anderen Probleme lösen würde, mit denen das Bündnis konfrontiert sei. Es sei überaus wichtig, sich “um jeden Preis” auf dieses Ziel zu konzentrieren.

[1] Dies war sozusagen die Erbsünde dieser Änderungen der französisch-russischen Militärkonventionen – seit 1912 konnten also auch andere als strikt defensive Szenarien, d. h ein direkter Angriff Österreichs oder Deutschlands auf Russland, den Casus foederis einfordern und zum Krieg führen.

Der Frieden auf dem Kontinent ruhte jetzt auf den schlanken Schultern eines bosnischen Jungen namens Gavrilo Princip. Er wurde 1894 in einem bosnischen Dorf geboren und genoss „unregelmäßige Schulbildung an verschiedenen Orten“. Der etwas kränkliche Jugendliche – er sollte 1918 an Tuberkulose sterben – kam 1912 nach Belgrad, um sich für die letzte Klasse einer dortigen Oberschule zu melden, fühlte sich jedoch sofort veranlasst, die meiste Zeit in der serbischen nationalistischen Kaffeehausszene zu verbringen. Sein begeisterter pro-serbischer Idealismus hatte ihn dazu motiviert, den ganzen „The Mountain Wreath“ (Gorski vijenac), ein Epos über den sich aufopfernden serbischen Tyrannenmörder Milos Obilić, das 1847 von Petar II Petrović-Njegoš, Fürstbischof von Montenegro, komponiert und veröffentlicht wurde, auswendig zu lernen. Dass der entelechische Ausdruck des serbischen Nationalismus Tyrannenmord sei, akzeptierte der junge Patriot, der die serbische Geschichte als fortwährendes Unternehmen in Idealismus und Opferung sah, bereitwillig. In Wirklichkeit hatte sich der serbische Patriotismus in letzter Zeit mehr in Mord, Diebstahl und Vergewaltigung geäußert. Luigi Albertini erklärt dazu:

Um die Atmosphäre zu verstehen, in der diese junge Generation lebte, muss man die serbische Comitaji-Bewegung nach dem Zweiten Balkankrieg berücksichtigen. Von 1902 bis 1912 war diese Banden zehn Jahre lang das führende Element aller Turbulenzen auf dem Balkan.

Die ersten Comitaji waren bulgarisch-mazedonischen Ursprungs. 1902 bildeten sich in Mazedonien bewaffnete Banden, die von der bulgarischen Regierung subventioniert wurden, um Störungen zu verursachen, die die Aufmerksamkeit Europas auf den Balkan lenken und zu europäischen Interventionen führen sollten, welche die osmanische Herrschaft in Mazedonien beenden würden. Die Provinz sollte entweder autonom werden oder von Bulgarien annektiert werden.

Beunruhigt über die Ansprüche, die diese Banden in Mazedonien im Auftrag Bulgariens erhoben haben, rekrutierten serbische und griechische Revolutionäre, in Kontakt mit ihren jeweiligen Regierungen, ihre eigenen bewaffnete Banden im heimischen Serbien und Griechenland. In Serbien entstanden sie bereits 1905.

Diese Comitaji strömten nun nach Mazedonien, provozierten Unruhen, sprengten Brücken, griffen kleine Gendarmerien an, begingen Morde und griffen nicht nur türkische Behörden, sondern auch die Privateigentümer von Moslems an. Als türkische Truppen intervenierten, verschwanden sie über die Grenzen in ihren jeweiligen Staaten, von deren Regierungen sie Waffen und Geld erhielten. Während der Balkankriege waren die griechischen, bulgarischen und serbischen Comitaji schon im Vorfeld – zur Unterstützung ihrer jeweiligen Armeen – vorgegangen, hatten ohne Rücksicht auf die Regeln der Kriegsführung gekämpft und sich oft Brandstiftung und Massakern hingegeben.

Vojislav Tankosić

Eins dieser Bataillone von Comitaji-Kämpfern wurde von Major Vojislav Tankosić befehligt, der schon 1903 an der Verschwörung gegen das Königspaar Obrenović teilgenommen und die Ermordung der Brüder von Königin Draga befohlen hatte. Es bestand hauptsächlich aus jungen Serben, die, technisch gesehen, österreichisch-ungarische Untertanen waren. Nach dem Krieg konnte die serbische Regierung sie jedoch nicht loswerden. Sich in Belgrad versammelnd, verbrachten sie ihre Zeit in Cafés, prahlten mit ihren Erfolgen und entwarfen Pläne für neue Kriege und Verschwörungen. … Nach den serbischen Siegen über die Türkei und dann Bulgarien 1913 wurden Österreich und Ungarn das Ziel ihrer Pläne für Krieg und Terror.

Hier waren also junge Patrioten, falls man sie so nennen kann, von denen Dragutin Dimitriević, jetzt Oberst und unter dem Decknamen „Apis“ Chef des serbischen militärischen Nachrichtendienstes, guten Gebrauch machen konnte. Er befahl seinem Assistenten Tankosić, einige dieser jungen Männer für einen besonderen Auftrag auszuwählen. Der ehemalige Comitaji-Führer rekrutierte drei neunzehnjährige bosnische Jugendliche, Trifko Grabez, Nedeljko Cabrinović und Gavrilo Princip, die alle aus „armen Familien und unglücklichen Haushalten“ stammten. Cabrinović und Grabez hatten „in ihrer Jugend unter männlichen Autoritätspersonen, gegen die sie revoltierten, gelitten“, was eine interessante Parallele zu Hitlers Problemen mit seinem Vater zieht. Wie Christopher Clark bemerkt, waren diese jungen Männer die klassische Beute für Verschwörer:

Diese Jungen hatten kaum schlechte Gewohnheiten. Sie waren aus diesem düsteren, jugendlichen Stoff geschnitten, reich an Idealen, aber arm an Erfahrung, von dem moderne terroristische Bewegungen sich nähren. Alkohol war nicht nach ihrem Geschmack. Obwohl sie aus romantischer Neigung heterosexuell waren, suchten sie nicht nach der Gesellschaft junger Frauen. Sie lasen nationalistische Gedichte und irredentistische Zeitungen und Flugschriften. Diese Jungen hatten sich ausführlich mit dem Leid der serbischen Nation beschäftigt, für das sie jeden anderen als die Serben selbst verantwortlich machten, und jede Beleidigung und Erniedrigung auch des Kleinsten ihrer Landsleute wie ihre eigene empfunden.

Grabez, Cabrinovic, Princip
Grabez, Cabrinovic, Princip

Der Mann, an den Gavrilo Princip zur seiner patriotischen Anleitung herangetreten war, war – offenbar durch reinen Zufall – selbst ein alter Terrorist und ehemaliger Untergebener von Major Tankosić, Milan Ciganović, der durch seine Tarnung als Angestellter der Serbischen Staatseisenbahn für das Geheimdienst- und Terrorgeschäft ideal platziert war. Es scheint, dass Princip ihn direkt gefragt habe, ob er wisse, woher man Bomben bekomme. Ciganović wusste dies und informierte seinen alten Chef Tankosić über Princip und seine Bekannten. Bei dieser frühen Gelegenheit im Jahre 1912 lehnte Tankosić Princip zuerst als zu jung und zu gebrechlich ab, doch Anfang 1914 änderte er seine Meinung und informierte Dimitriević über Princip und seine Gefährten. Da die Jungspunde keinerlei Erfahrung mit Verschwörungen hatten, wurde Ciganović zu ihrem Aufpasser bestellt. Am 27. Mai versorgte er sie mit vier Revolvern und sechs 22-Pfund-Bomben (ca. 10 kg), die vom serbischen Staatsarsenal in Kragujevac zur Verfügung gestellt wurden, und brachte sie zum Waffentraining in den Belgrader Topcider Park. Darüber hinaus lieferte Ciganović 150 Dinar in bar, eine Karte von Bosnien, Cyanid-Ampullen – mit denen die Attentäter nach der Tat Selbstmord begehen sollten, um Ermittlungen zu vereiteln, und einen Brief an Major Rade Popović [2] von der Grenzpolizei, der ein Mitglied von Ujedinjenje ili smrt! sowie ein Ansprechpartner für die Narodna Odbrana war. Die Jungen wurden dann – Cabrinović von Mitgliedern der Untergrundeisenbahn, die von der Black Hand und dem Militär eingerichtet worden war, und Princip und Grabez  wohl von der Grenzpolizei selbst – nach Bosnien geschmuggelt, und zwar nach Tuzla, wo sie Cabrinović trafen. Während im weiteren Verlauf dieses Buches ein oder zwei Worte zum Thema des möglichen Vorauswissens der serbischen und russischen Regierungen über den Sarajevo-Plan angebracht sein werden, wurde den bosnischen Patrioten vor Ort das große Geheimnis umstandslos anvertraut. Ein Schullehrer der Schmuggler, die Princip und Grabez über die Grenze nach Tuzla gebracht hatten, mit dem Namen Cubrilović soll den Kerovićs [3], der Familie, denen er sie zur Übernachtung gebracht hatte, erzählt haben: „Wisst Ihr, wer diese Leute sind? Sie gehen nach Sarajevo, um Bomben zu werfen und den Erzherzog zu töten, der dahin kommen wird.“ Princip zeigte dann die Waffen seinen Gastgebern.

[2] Der Name Popović ist weit verbreitet und man darf Major Rade Popović, den Grenzschutzbeamten, nicht mit dem berühmteren Oberst Cedomilj Popović, einem Mitbegründer, Mitglied des Zentralkomitees und zukünftigem Sekretär der Schwarzen Hand verwechseln (siehe oben, interviewt von Albertini) oder mit dem jungen Cvijetko Popović, Mitglied der Zelle in Sarajevo.
[3] Die Kerovićs traf es danach hart. Die Österreicher verurteilten sie wegen der Unterstützung von Terroristen und Nedjo Kerović, der die Jungs auf seinem Viehwagen transportiert hatte, wurde zur Todesstrafe verurteilt, die schließlich in eine zwanzigjährige Haftstrafe umgewandelt wurde. Sein Vater Mitar wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Franz Ferdinand inspiziert Truppen am 27. Juni 1914, am Tag vor dem Attentat

Als die Jungen mit dem Zug aus Tuzla in Sarajevo ankamen, wurden sie von einer zweite Gruppe aus vier weiteren Agenten erwartet, die von Black Hand-Mitglied Danilo Ilić angeführt wurden. Ilić hatte die drei jungen Leute selbst rekrutiert: einen muslimischen Schreiner aus der Herzegowina, Muhamed Mehmetbasić, und zwei einheimische Schüler, Cvijetko Popović und den siebzehnjährigen Vaso Cubrilović, einen Bruder des oben erwähnten gesprächigen Schullehrers. Da letzterer Ilić vor diesem Tag noch nie getroffen hatte und dass die drei anderen aus Sarajevo Princip und die anderen erst nach dem Attentat treffen sollten, zeigt, dass die zweite Zelle von Anfang an als Ablenkung, als Cutout, konzipiert war. “Zu diesem Zweck“, wie Christopher Clark betont, “war Mehmedbasić eine inspirierte Entscheidung, denn er war ein williger, wenn auch inkompetenter Attentäter und somit eine nützliche Unterstützung für die Belgrader Zelle, aber kein Serbe. Als Black Hand-Mitglieder könne man Ilić und Princip (theoretisch) vertrauen, sich das Leben zu nehmen oder zumindest nach dem Ereignis stumm zu bleiben. Die drei Jungen aus Sarajevo könnten gar nichts aussagen, aus dem einfachen Grund, dass sie nichts über den größeren Hintergrund des Plans wussten. Es würde der Eindruck entstehen, dass dies ein rein lokales Unternehmen ohne Verbindung zu Belgrad war.“

Ankunft am Bahnhof

Während es kleine Details gibt, in denen die Berichte über das, was an diesem Morgen des 28. Juni 1914 in Sarajevo geschah, voneinander abweichen, sind die wichtigsten Umrisse klar. Eine Wagenkolonne aus vier Autos (einige Quellen sagen sechs) wartete auf die königlichen Besucher, die um 10 Uhr morgens am Bahnhof ankamen, um sie über den Appel-Kai, die Promenade, die entlang des Flusses Miljacka führt, zum Rathaus zu bringen, wo eine Begrüßungszeremonie stattfinden sollte.

Abfahrt nach der Begrüßung
Abfahrt nach der Begrüßung

Es war ein sonniger Tag, aber ein ominöses Datum. Am 28. Juni, dem St.-Veits-Tag in Österreich, Vidov Dan in Bosnien, vor 525 Jahren, 1389 n. Chr., hatten die osmanischen Türken die Truppen Zar Stepan Dusans fiktiven serbischen Großreiches bei der legendären Schlacht auf dem Kosovo-Feld besiegt. Folglich war dieser Tag zum serbischen Nationalfeiertag geworden – wichtiger denn je in diesem Jahr, denn die Feierlichkeiten von 1914 waren die ersten nach der “Befreiung” von Kosovo und Mazedonien im Vorjahr als Folge des Zweiten Balkankrieges.

Positiver schien, dass der 28. Juni auch der vierzehnte Hochzeitstag des Königspaares war, und ein willkommener Nebeneffekt eines Besuchs in der Provinz war, dass Sophie den Tag an der Seite ihres Mannes verbringen konnte, statt wie in Wien durch das habsburgische Hofprotokoll in den Hintergrund gedrängt zu werden.

Die sieben Verschwörer hatten sich strategisch entlang der Reiseroute der Ehrengäste positioniert, welche bei jedem Staatsbesuch dieselbe war. Offizielle Sicherheit war auffällig abwesend: „Das Spalier von Truppen, die normalerweise bei solchen Anlässen die Bordsteine ​​säumten, war nirgendwo zu sehen, sodass die Wagenkolonne an den dichten Menschenmengen nahezu ungeschützt vorbeifuhr. Sogar das besondere Sicherheitsdetail, die Leibwache, fehlte – ihr Chef war irrtümlich mit drei bosnischen Offizieren in ein Auto gestiegen und den Rest seiner Männer am Bahnhof zurückgelassen.“

Der Wagen
Der Wagen

Drei Brücken überspannen den Fluss Miljacka entlang des Appel-Kais, dem die Autokolonne folgen sollte. Bei der ersten Brücke, der Cumurija-Brücke, hatten sich Mehmedbasić, Cubrilović und Cabrinović am Ufer niedergelassen; gegenüber auf der Landseite warteten Cvijetko Popović und Danilo Ilić. Der Letztere schien, da unbewaffnet, die Rolle des Maitre d’honneurs zu spielen. An der zweiten Brücke, der Lateinerbrücke, wartete Gavrilo Princip – alleine; Trifko Grabez wurde an der dritten, der Kaiserbrücke, aufgestellt. Es schien, dass der erste Versuch an der Cumurija-Brücke stattfinden sollte, und Princip und Grabez fungierten als Reserve oder Backups, falls unerwartete Entwicklungen eintreten sollten.

Die Wagenkolonne rollte in Richtung der Cumurija-Brücke. Im ersten Auto befanden sich der Bürgermeister der Stadt, Fehim Effendi Curcić, und Dr. Edmund Gerde, der Polizeipräsident. In den Rücksitzen des zweiten Wagens fuhren die königlichen Gäste und auf dem Klappsitz saß General Oskar Potiorek, der Gouverneur von Bosnien. Auf dem Vordersitz saß neben dem Chauffeur Oberstleutnant Franz von Harrach, der Leibwächter und Besitzer des Autos. Es folgten Autos mit lokalen Polizeibeamten, niedrigeren Ehrenmitgliedern und Gefolgsleuten.

Die Kavalkade bewegte sich auf Mehmedbasić zu, der sich an der Stelle ihrer größten Annäherung von Furcht und Schrecken ergriffen fühlte, so wie vor fünf Monaten bei seinem eigenen abgebrochenen Attentatsversuch gegen Potiorek. Nächster war Cabrinović, der seine Bombe herausnahm und das Zündhütchen gegen den nächsten Laternenpfahl schlug. Die Kapsel zerbrach mit einem lauten Knacken, das Harrach und den Fahrer alarmierte. Sie drehten sich um und dachten vielleicht, dass ein Reifen explodiert wäre, doch als der Chauffeur einen dunklen Schatten in Richtung der Limousine fliegen sah, beschleunigte er sofort. Die Bombe fiel zu kurz – einige sagen, der Erzherzog selbst habe sie abgelenkt; andere behaupteten, sie sei einfach vom Heck des Autos abgeprallt. Sie fiel auf die Straße und explodierte unter dem folgenden Wagen, wobei einige Passagiere verletzt wurden. Erst später wurde festgestellt, dass der Detonator – bei der Explosion – eine kleine Wunde am Hals der Herzogin verursacht hatte. Als der Erzherzog das Wrack des dritten Wagens sah, befahl er, die Wagenkolonne anzuhalten, damit die Verletzten – darunter der damalige Stellvertreter von Potiorek, Oberst Merizzi – erste Hilfe erhalten und ins Krankenhaus gebracht werden konnten. Dann fuhr die Kavalkade zum Rathaus, wo eine abgekürzte Zeremonie abgehalten werden sollte, nach deren Abschluss in Abänderung des ursprünglichen Plans das Herzogspaar die Opfer im Krankenhaus besuchen wollte.

Zweiter Halt
Zweiter Halt

Cabrinović war inzwischen aus dem fast trockenen Flussbett gefischt worden, wohin er gesprungen war, um Zeit zu haben, das Cyanid zu schlucken. Das Gift funktionierte aber aus unerklärlichen Gründen nicht und nach einer Minute grober körperlicher Misshandlung wurde er zur nächsten Polizeiwache gebracht. Cubrilović beobachtete ihn wie gelähmt – wie Mehmedbasić – und Popović, von  Angst überkommen, versteckte seine Bombe im nächsten Gebäude. Nur Princip behielt die Fassung. Anfangs war er davon ausgegangen, dass die Explosion von Cabrinovićs Bombe Erfolg verkündete. Als er jedoch sah, dass Cabrinović verhaftet wurde und der königliche Wagen sich wieder in seine Richtung bewegte, dachte er daran zu schießen. Die Geschwindigkeit des Wagens verweigerte ihm jedoch einen klaren Schuss, dennoch blieb er ruhig genug, um eine neue Position auf dem Weg, den die Kavalkade bei ihrer Rückkehr benutzen musste, einzunehmen. Dort wartete er.

Inzwischen war die Prozession im Rathaus eingetroffen und der Bürgermeister hatte begonnen, seine vorbereiteten Zeilen zu Gehör zu bringen. Dazu gehörte die Behauptung, dass “die Seelen aller Bürger der Hauptstadt Sarajevo von Glück erfüllt sind, und sie mit größter Begeisterung den Besuch der berühmten Gäste begrüßen.“ Der Erzherzog schien nicht überzeugt – er hatte seit der Explosion kaum gesprochen, fragte jetzt aber dringend, ob Bomben tatsächlich ein Teil dieses herzlichen Willkommens waren. “Herr Bürgermeister, ich bin zu Besuch hier und werde mit Bomben beworfen. Es ist unerhört. Jetzt können Sie sprechen.“ Die weitere Ansprache des Bürgermeisters war barmherzig schnell vorbei und Franz Ferdinand fragte Gouverneur Potiorek, ob weitere Attentatsversuche zu erwarten seien. Der General glaubte das nicht, riet jedoch, den Rest des offiziellen Programms zu überspringen. Die Gruppe  sollte entweder direkt zurück nach Ilidze fahren, dem kleinen Urlaubsort, in dem das hohe  Paar die letzten drei Tage verbracht hatte, oder, am Herrenhaus des Gouverneurs vorbei, zum Bahnhof zurückkehren.

Richtungswechsel
Richtungswechsel

Luigi Albertinis Mitarbeiter und Amanuensis Luciano Magrini konnte sich anlässlich eines Besuchs in Serbien im Herbst 1937 persönlich mit zweien der Verschwörer, Vaso Cubrilović und Mohamed Mehmedbasić, unterhalten. Wir werden seinem Bericht folgen:

Der Erzherzog erhob Einspruch  – er müsse zuerst Oberst Merizzi im Garnisonskrankenhaus besuchen, obwohl seine Wunde schon als leichte Verletzung klassifiziert worden war. Potiorek schlug dann vor, dass sie auf dem Weg dahin die Stadt meiden und noch einmal den Appel-Kai benutzen sollten, wo – wie er sagte – sie niemand erwarten würde. Das war jedoch nicht richtig, da die Presse veröffentlicht hatte, dass die Kavalkade nach der Rückkehr aus dem Rathaus wieder den Appel-Kai bis zur Lateinerbrücke entlangfahren werde. Auf alle Fälle wurde sein Vorschlag befolgt.

Bei der Verhandlung erklärte Princip, dass, als er die Explosion von Cabrinovićs Bombe hörte, er sich mit der Menge im Rücken in diese Richtung bewegte und feststellte, dass der Autokorso zum Stillstand gekommen war. Er dachte zuerst, dass “alles vorüber” sei, d.h. der Versuch erfolgreich gewesen sei, und als Cabrinović von der Polizei weggebracht wurde, dachte er daran, ihn zu erschießen, um seine Aussage zu verhindern, und dann Selbstmord zu begehen. Er gab die Idee jedoch auf, als er feststellte, dass die Kavalkade sich wieder in Bewegung setzte. …

Die Autos nahmen wieder die Route über den Appel-Kai. Die Herzogin, die, dem ursprünglichen Plan zufolge vom Rathaus direkt zum Konak [dem Herrenhaus des Gouverneurs] hätte fahren sollen, entschloss sich, ihren Ehemann zu begleiten, und setzte sich wieder neben ihn, während Harrach auf dem Trittbrett auf der linken Seite des Autos Platz nahm, um den Erzherzog mit seinem Körper zu beschützen. Potiorek und der Polizeichef, die keinen zweiten Versuch erwarteten, erkannten jedoch nicht nur weder die Gefahr, den ersten Teil des Kais nochmals zu passieren, sondern ließen auch die notwendige Vorkehrung außer Acht, den Chauffeuren klare Anweisungen zu geben; vor allem dem Fahrer des Autos des Erzherzogs. Was dann geschah, war, dass das vordere Auto, in dem sich der Polizeichef befand, den Appel-Kai entlang fuhr, an der Lateiner Brücke jedoch rechts in die enge Franz-Josef-Straße einbog, und das Auto des Erzherzogs ihm natürlich folgte.”

In diesem Moment erwies sich die Verwirrung über den richtigen Weg als fatal. Harrachs schlanker Sportwagen hatte keinen Rückwärtsgang, was bedeutete, dass der Wagen zuerst angehalten, der Motor ausgekuppelt und das Fahrzeug langsam von Hand aus der Franz-Josef-Straße zum Appel-Kai zurückgeschoben werden musste. Diese Verzögerung von vielleicht zwanzig Sekunden gab Princip relativ viel Zeit, um seine Waffe zu ziehen und zu stabilisieren, während die Tatsache, dass die Autos mehr oder weniger standen, statt sich zu bewegen, das Zielen viel einfacher und genauer machte.

Princip war nicht mehr als ein paar Meter von seinem Ziel entfernt und feuerte aus nächster Nähe jeweils eine Kugel auf den Erzherzog und die Herzogin, während Harrach entsetzt aus der entgegengesetzten Seite des Wagens zuschaute. Der Graf berichtete später einem Biografen von Franz Ferdinand:

Während ich mit einer Hand mein Taschentuch herauszog, um das Blut von den Lippen des Erzherzogs zu wischen, rief Ihre Hoheit:„ Um Himmels willen! Was ist mit dir passiert?“ Dann sank sie mit ihrem Gesicht zwischen die Knie des Erzherzogs. Ich hatte keine Ahnung, dass sie getroffen worden war und dachte, dass sie aus Schock in Ohnmacht gefallen war. Dann sagte Seine Königliche Hoheit: „Soferl, Soferl! Stirb nicht! Lebe für meine Kinder!

Daraufhin ergriff ich den Erzherzog am Mantelkragen, um zu verhindern, dass sein Kopf nach vorne sank, und fragte ihn: “Hat Ihre Königliche Hoheit große Schmerzen?” Er erwiderte klar: “Es ist nichts.” Dann veränderte sich sein Ausdruck und er wiederholte sechs oder siebenmal: „Es ist nichts“; mehr und mehr das Bewusstsein verlierend und mit einer verblassenden Stimme. Dann folgte eine kurze Pause, gefolgt von einem krampfartigen Rasseln im Hals, verursacht durch den Blutverlust, der nach der Ankunft im Konak aufhörte. Die beiden bewusstlosen Personen wurden dann in den Konak getragen, wo bald der Tod einsetzte.“

Dieses berühmte Foto zeigt NICHT, wie oft behauptet, die Verhaftung Gavrilo Princips, sondern die irrtümliche Festnahme des unbeteiligten Ferdinand Behr
Dieses berühmte Foto zeigt NICHT, wie oft behauptet, die Verhaftung Gavrilo Princips, sondern die irrtümliche Festnahme des unbeteiligten Ferdinand Behr
Franz Ferdinands Uniform

Die Waffe und das Auto wurden sichergestellt und sind beide im Österreichischen Armeemuseum ausgestellt.

Eine zweite Welle dringender Telegramme wurde von der Poststation in Sarajevo in alle Welt gesandt. Nach dem ersten Versuch hatte der Erzherzog selbst ein Telegramm an seinen Onkel, den Kaiser, gesandt und das Wohlergehen des Paares berichtet, während die lokalen Reporter ihre Geschichten einreichten. Jetzt, kurz nach 11 Uhr Ortszeit, hatten sich die Nachrichten so dramatisch verändert, dass sich viele zunächst weigerten, sie zu glauben. Ein Moment war in der Geschichte eingefroren; in den Worten von Christopher Clark: „Die Sarajevo-Morde, wie der Mord an Präsident John F. Kennedy im Jahr 1963 in Dallas, waren ein Ereignis, dessen blendendes Licht die Menschen und Orte einen Augenblick gefangen nahm und sich in ihre Erinnerung brannte. Die Leute erinnerten sich genau, wo sie waren und mit wem sie zusammen waren, als die Nachricht sie erreichte.“

Was noch zu bestimmen war, waren die Auswirkungen des Ereignisses auf die Welt. Technisch gesehen war ein Prinz ermordet worden – schlimmeres war passiert in der Geschichte des Kontinents – aber es wurde schnell schmerzlich klar, dass auf den Straßen von Sarajevo ein ganzes Zeitalter zu Ende gegangen war – das Zeitalter des Liberalismus, der menschlichen Regierungsform, und des Glaubens an die mögliche, ja unmittelbar bevorstehende Verbesserung und Erhöhung des menschlichen Daseins durch technologischen und philosophischen Fortschritt. Es stellte sich heraus, dass das, was an der Kreuzung von Appel-Kai und Franz-Josef-Straße ermordet worden war, nichts weniger war als der Stolz und Optimismus des rationalen Zeitalters – die Grundlagen des “Proud Tower” – der von Irrationalismus, Nationalismus, Eitelkeit und Hass abgelöst wurde. Als die Konsequenzen von Sarajevo vorbei waren, einunddreißig bzw. sechsundsiebzig Jahre später, 1945 oder 1990 – je nach Ansicht – hatte Europa seine Macht über den Globus verloren. Sarajevo markierte den Anfang vom Ende.

Die polizeilichen Ermittlungen und der nachfolgende Prozess werden Gegenstand eines weiteren Beitrags sein, der den vorläufigen Titel ” À la recherche du temps perdu” trägt; Merci beaucoup – Marcel Proust. Eine kleine Vorschau:

Gavrilo Princip auf dem Weg ins Gericht
Gavrilo Princip auf dem Weg ins Gericht
Ein undatiertes Foto aus dem Gerichtssaal
Ein undatiertes Foto aus dem Gerichtssaal

Tolle Fotos in einem französischen Artikel: http://graphics.france24.com/assassination-sarajevo-1914-archduke-princip-photos/index.html

Genaue Timeline: https://www.welt.de/geschichte/article129560739/Das-Attentat-das-Europa-in-den-grossen-Krieg-trieb.html

Das Auto: https://www.welt.de/motor/gallery129531678/Das-Auto-in-dem-Franz-Ferdinand-starb.html

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Die Welt am 1. August 1914

Ethnische Karte Europa 1914
Ethnische Karte Europa 1914
Deutsche Rekruten - Bundesarchiv
Deutsche Rekruten – Bundesarchiv

YouTube Video – Animation

Video mit Originalaufnahmen


Ethnisch betrachtet war Europa eine komplizierte Angelegenheit. Volkszugehörigkeit war jedoch im Mittelalter, während des Feudalsystems, kein primäres politisches Kriterium gewesen – erst recht nicht in Mitteleuropa – da die Heterogenität nicht nur des Reiches, sondern auch italienischer Stadtstaaten und die Türkische Suzeränität über den zerstückelten Balkan das Aufkommen des Nationalismus antezedierte.

Kongress von Berlin, 13. Juli 1878, von Anton von Werner
Anton von Werner, Berliner Kongress (1881): Abschlusstreffen in der Reichskanzlei am 13. Juli 1878, Bismarck zwischen Gyula Andrássy und Pjotr ​​Schuwalow, auf der linken Seite Alajos Károlyi, Alexander Gortschakow (sitzend) und Benjamin Disraeli

Dies änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach der Niederlage der liberalen Hoffnungen und den gescheiterten Revolutionen von 1848, bedrohte eine neue, tödliche Dreieinigkeit aus Nationalismus, Chauvinismus und Antisemitismus den Kontinent.

Nicht nur Deutsche realisierten nach 1848 und 1871, dass der politische Status quo sich nicht wirklich verändert hatte. Während die Fürsten die Kontrolle über das politische Europa fest in der Hand behielten, konzentrierte sich die Bourgeoisie auf wirtschaftlichen Fortschritt und die sich entwickelnde sozialistische Bewegung suchte sich zu konsolidieren. Der Berliner Kongress von 1878 wurde einberufen, um die nach 1871 noch ungeklärten Fragen und gegenseitigen Ansprüche der europäischen Staaten diplomatisch zu klären.

Nationalismus war ursprünglich eine Bewegung des Bürgertums gewesen – gegen die Fürsten – aber durch das Gespenst der drohenden Emanzipation der sich entwickelnden Arbeiterklasse wurde er als politisches Instrument geschickt gegen die Bürger gewendet und äußerst effektiv mit einem seltsamen neuem ideologischen Gebräu vermischt – dem Antisemitismus.

Minuten vor dem Attentat in Sarajevo
Minuten vor dem Attentat in Sarajevo

Fremdenfeindlichkeit ist ein scheinbar unausrottbarer Zeitvertreib der menschlichen Rasse und Verfolgung von Juden gab es in der Geschichte ebenso wie die Verfolgung jeder anderen vorstellbaren Minderheit – Antisemitismus jedoch scheint ein Konzept ganz jungem Ursprungs zu sein. Das Wort taucht seit den 1860er Jahren hier und da auf, vor allem in einem Essay das Richard Wagner 1850 anonym veröffentlichte (“Das Judenthum in der Musik“), fand aber erst allgemeine Aufmerksamkeit in den 1870ern, als der deutsche Agitator Wilhelm Marr den Artikel namens „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen [sic!] Standpunkt aus betrachtet“ veröffentlichte – und im Jahre 1879 die „Antisemiten-Liga“ gründete.

US Ausgabe 1934

Antisemitismus fand eine Reihe von prominenten Proselyten, darunter Kaiser Wilhelm II, den einflussreichen politischen Autoren Heinrich Claß und verschiedene Vertreter der Kirchen, war aber bei weitem nicht auf Deutschland beschränkt. Frankreich litt 15 Jahre unter der Dreyfus-Affäre und in zaristischem Russland gehörten Pogrome gegen Juden zu den Lieblingsunterhaltungen der Landbevölkerung.

Russische Omnibus-Ausgabe der Protokolle von Sergei Alexandrowitsch Nilus

Ganze Bücher wurden geschrieben über die „Protokolle der Weisen von Zion“ – einer lächerlichen Verschwörungstheorie über die geplante jüdische Weltherrschaft – einer geradezu saublöden Fibel, zusammengeschustert wohl von der zaristischen Geheimpolizei und zum ersten Mal im Jahre 1903 in Russland veröffentlicht. Das Machwerk wurde von so üblichen Verdächtigen wie Wilhelm II oder Henry Ford als heilige Schrift verehrt, wobei der letztere 500.000 Kopien drucken und verteilen ließ.

Nationalismus und Antisemitismus wurden die beiden großen Stützen der aristokratischen Herrschaft über Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bis sich mit dem Aufstieg der sozialistischen Bewegung ein noch geeigneteres Schreckgespenst in dem Katholikon bürgerlicher Ängste manifestierte. Die braven Bürger mussten also nicht nur den wirtschaftlichen Ruin durch jüdische Shylocks und Mord und Totschlag durch illoyale Grenzbewohner befürchten – in der Tat war nun ihre ganze physische Existenz bedroht durch die anstehende Revolution von Massen ungewaschener Arbeiter, die es in unerklärbarer Regelmäßigkeit vergaßen, ihre Dankbarkeit für die gezahlten Hungerlöhne öffentlich kundzutun.

Es war durchaus verständlich, dass eine so große, existentielle Gefahr die Bürger des Kontinents in Furcht und Schrecken hielt – die am besten durch bessere Selbstverteidigung gemildert werden könne. So suchten die Nationen Europas ihr Heil in dem lobenswerten und glorreichen Unternehmen, sich selbst so gut wie nur möglich zu bewaffnen. Welche Folgen, genau, resultierten daraus?

Panorama of the Battle of Trafalgar by William Lionel Wyllie
Die Schlacht von Trafalgar wurde zur Idée fixe britischer Flottenpolitik

Die folgenden Statistiken geben uns eine Vorstellung von Deutschlands industrieller und militärischer Situation im Vergleich zu ihren Konkurrenten, (aus Paul Kennedy, “The Rise and Fall of the Great Powers“, Vintage Books 1989, ISBN 0-679-72019-7, S. 200 ff).:

Es wird sofort ersichtlich, dass Frankreich das fünfte Rad am Wagen in Bezug auf Bevölkerungswachstum ist; während der Vereinigten Staaten ihre Bevölkerung um 56,5 %, Russland um 48,6 %, Deutschland um fast 36 % und Großbritannien um etwas bescheidenere 23 % erhöht haben, ist die französische Bevölkerung nahezu konstant geblieben, und ist nur um 3,5 % gewachsen, in diesen dreiundzwanzig Jahren zwischen 1890 und 1913. Ein weiterer wichtiger Indikator für die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung der Länder ist der Vergleich von städtischer zu Landbevölkerung:

Großbritannien, dessen Industrialisierung früher als die irgendeines anderen Landes begonnen hatte, führt die Welt, nicht überraschend, an; obwohl ihre Stadtbevölkerung prozentual nur um 15,7 % zwischen 1890 und 1914 wuchs, im Gegensatz zu Deutschlands 85,8 % und das der Vereinigte Staaten von 59,8 %. Frankreich sieht hier besser aus, mit 26,5 % Wachstum, während Japan seine städtische Bevölkerung verdoppelt. Italien, Österreich und Russland liegen dazwischen, so weit es um prozentuale Veränderungen geht, aber ihre geringen absoluten Anteile von um oder unter 10 % zeigen sie als noch als vergleichsweise unterindustrialisiert.

Die folgende Tabelle konzentriert sich auf die Sine-qua-non früher industrieller Entwicklung, der Produktion von Stahl:

Diese Zahlen zeigen den Zustand der Rohindustrialisierung des jeweiligen Landes recht genau, denn ohne Stahl konnten weder Konsumgüter noch Waffen gebaut werden. Wenn man Frankreichs kleines Bevölkerungswachstum in Betracht zieht, ist sein Anstieg der Stahlproduktion zwischen 1900 und 1913 prozentual beeindruckende 307 %, obwohl die Gesamtproduktion von 4,6 Millionen Tonnen im Jahr 1913 klar durch Deutschlands 17,6 Millionen Tonnen und die 31,8 Millionen der USA in den Schatten gestellt werden. Vom Trend her liegen sowohl Großbritannien als auch Frankreich in der industriellen Expansion hinter ihnen liegen, während die russische Stahlproduktion gerade zuzunehmen beginnt. Sie verdoppelt sich etwa – aus mageren Anfängen – zwischen 1890 und 1900 und wieder zwischen 1900 und 1913, obwohl in absoluten Zahlen die Ausbeute von 1913 (4,8 Millionen Tonnen) noch recht bescheiden war, wenn auf die Größe des Landes einrechnet. Wir werfen nun einen Blick auf den Gesamtenergieverbrauch:

Wenn wir die Daten zusammenfassen und einige andere Parameter hinzufügen, können wir die Veränderungen der relativen industrielle Stärke der Großmächte untereinander beschreiben:

Dieses Bild zeigt die relative Veränderung des Kräftepotentials, wobei man sowohl wirtschaftliche Faktoren – auf Größe und Bevölkerung bezogen – als auch den geostrategischen Kontext, das heißt, ihre Position einbeziehen muss. Italien und Japan haben Nachholbedarf, während Russland durch seinen Mangel an Infrastruktur und Österreich-Ungarn durch innere Spannungen behindert wird. Wenn man die prozentuale Änderung im Laufe der Zeit vergleicht, erweiterten die USA ihre Kapazität um 635 %, Deutschland um 501 % und Frankreich um 228 %, während Großbritanniens industrielle Macht nur um 173 % wuchs, ein Hinweis darauf, dass Albions imperiale Pracht schon vor 1914 zu verblassen begann. Vergleichen wir nun die Veränderungen der absoluten Anteile an der industriellen Produktionskapazität weltweit:

Diese Tabelle verdeutlicht auffallend die relative Schwächung Westeuropas, also Großbritanniens und Frankreichs, im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, jenseits des Atlantiks, und Deutschland, in der Mitte des Kontinents. Englands Anteil im Jahre 1913 ist nur noch 59 % des Standes im Jahr 1880, das bedeutet einen Rückgang von 41 %. Frankreichs Zahlen sind ein bisschen besser, aber dennoch steht ein Verlust von 27 % ihres Weltmarktanteils von 1880 zu Buche, währenddessen die USA ihren Anteil im Verhältnis um 117,6 % erhöhen und Deutschland immerhin um 74,1 %. Die Quoten von Russland, Österreich und Italien bleibt weitgehend unverändert. Wenn ein europäischer Krieg in den Karten wäre, sähen sich Deutschlands kontinentale Feinde am besten beraten, ihn zu beginnen bevor sich ihr Rückstand weiter erhöhte. Da wir nun bei dem Thema Krieg angekommen sind, werden wir nun unsere Aufmerksamkeit dem Militär zuwenden:

Militärparade Unter den Linden 1914
Militärparade Unter den Linden 1914

Schon eine oberflächliche Betrachtung dieser Tabelle läutet die Glocken für die Bestattung von ein paar lange gehegten Vorurteilen. Nicht nur ist die deutsche Armee, die vermutliche Bedrohung des Kontinents, viel kleiner als die russische – was man angesichts Russlands Größe für selbstverständlich halten könnte – sie ist auch kleiner als die Frankreichs. Im Falle von Österreich-Ungarn, deren Männer eine feindliche Grenze von etwa 1500 Meilen Länge besetzen müssen, zählen sie nur 100.000 Mann mehr als die Italienischen Kräfte, die nach ihrem Eintritt in den Krieg im Jahre 1915 sich auf Verteidigung oder Angriff längs einer Grenze von weniger als hundert Meilen einstellen mussten; im Wesentlichen das Gebiet einiger Alpenpässe. Wenn wir die feindlichen Koalitionen von 1914 durchzählen, hat die Entente 2794 Millionen Mann unter Waffen, mehr als die doppelte Anzahl der 1.335 Millionen Männer der Mittelmächte.

Armeen 1914
Armeen 1914

 Ein Vergleich vis-à-vis des gesamten militärischen Personals der Großmächte zwischen 1890 und 1914 zeigt uns, dass in weniger als einem Vierteljahrhundert die Zahl der Soldaten von 2,9 Mio. auf fast 5 Millionen, um mehr als zwei Drittel, angestiegen ist. Wir vergleichen dies nun mit dem oft betrachteten Flottenwettrüsten:

Die Hochseeflotte in Kiel
Die Hochseeflotte in Kiel

Das Resultat erscheint fast unglaublich, aber die Marine-Tonnage der Großmächte hatte sich von 1.533.000 Tonnen im Jahr 1880 auf 8.153.000 Tonnen im Jahr 1914 mehr als verfünffacht – um 532 %. Fische müssen Klaustrophobie entwickelt haben. Wie die Zahlen für Japan und die USA deutlich zu machen, war das Marinewettrüsten nicht hauptsächlich auf den Nordatlantik und das Mittelmeer begrenzt; die letzteren fanden es notwendig, die Größe ihrer Marine in den vierzehn Jahren zwischen 1900 und 1914 von 333.000 Tonnen auf 985.000 fast zu verdreifachen; das heißt, nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg und der Annexion der Philippinen, Kubas und Hawaiis, nicht vorher.

Dreadnought
Dreadnought
Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/467146/umfrage/schlachtschiffflotten-der-europaeischen-grossmaechte/

Wie es nicht anders zu erwarten war, entschieden die unterschiedlichen geostrategischen Positionen der Länder, welche Truppengattungen der jeweils wesentliche Nutznießer der steigenden Budgets werden sollte: die Seemacht Großbritannien hatte wenig Verwendung für Infanterie; ihre – vorübergehende – höchste Stärke erreichte sie im Jahr 1900 mit 624.000 Männern unter Waffen, jedoch als Folge des anhaltenden Burenkrieges, nicht aufgrund einer nachhaltigen rüstungspolitischen Steigerung der Armeeausgaben. Ihr Senior Service, die Royal Navy, die das hauptsächliche Instrument und conditio-sine-qua-non ihrer imperialen Dominanz blieb, begann ein langwieriges Bauprogramm gegen die deutschen und amerikanischen Marinen (1812 war keineswegs vergessen), die eine Vervierfachung ihrer Größe zwischen 1880 und 1914 zur Folge hatte.

Französische Reservisten
Französische Reservisten

Es gibt eine Faustregel in der Geschichte, welche besagt, dass je mehr Waffen übereinander gestapelt werden, desto größer die Wahrscheinlichkeit wird, dass sie eines Tag benutzt werden. Es ist wahr, dass sich diese Regel während des Kalten Krieges nicht bewahrheitet hat, und unser aller Überleben ermöglichte, aber das war mehr das Ergebnis der Undurchführbarkeit eines Atomkriegs als eine plötzliche Zunahme der Summe menschlicher Weisheit. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert, das im Mittelpunkt unserer Untersuchung steht,  forderte jedes neue Schlachtschiff und jedes neue Armeekorps das Gleichgewicht der Macht in prekärem Ausmaß heraus – und eines Tages, im August 1914 brach es zusammen und die wesentliche Tragödie des Westens begann.

In der Erwartung eines kurzen und siegreichen Krieges …
Das Resultat – 10 Millionen Opfer [Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/251868/umfrage/militaerische-verluste-im-ersten-weltkrieg-1914-bis-1918/]

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Zur Kriegserklärung Österreich-Ungarns

Österreichisches Außenministerium am Ballhausplatz
Österreichisches Außenministerium am Ballhausplatz

Dieser Beitrag entsprang ursprünglich einer Fußnote (Nr. 77, siehe da, in “The Origins of World War I” [Richard F. Hamilton und Holger H. Herwig (Ed.), Cambridge University Press 2003, ISBN 978–0-521-81735-6 (hc.), S. 145], und zwar in Graydon A. Tunstall, Jr’s Kapitel über Österreich-Ungarn, die da lautet:

Ein anderes Mitglied des Auswärtigen Amtes, das in einigen Berichten über die Entscheidungsfindung auftaucht, ist Baron Alexander von Musulin, Forgachs Vertrauter am Ballhausplatz. Er war Botschafter in Moskau gewesen; später in Belgrad und 1901 zurück in Moskau. Aber er war nicht direkt in die frühen Diskussionen involviert und diente später auch nur noch in instrumenteller Funktion: Als versierter Schriftsteller wurde er aufgefordert, das Ultimatum zu formulieren. Später wurde er gebeten, eine Antwort auf die serbischen Kommentare zum Ultimatum der Monarchie zu schreiben, die ebenfalls in den europäischen Hauptstädte verteilt werden sollte. Seine Memoiren, die 1924 veröffentlicht wurden, enthalten einen Bericht, der stark von dem hier im Text angegebenen Bericht abweicht. Die auffälligste Aussage: “Im Außenministerium glaubte man nicht, dass das Ultimatum zum Krieg führen würde.” (in Alexander Musulin, Das Haus am Ballplatz: Erinnerungen eines österreichisch-ungarischen Diplomaten (München, 1924), p. 227). Musulins Memoiren enthalten mehrere andere Kuriositäten: “Die führenden Staatsmänner der Monarchie glaubten, dass sich die Solidarität europäischer Konservativer und dynastischer Interessen auch im Jahr 1914 manifestieren würde, und dies glaubten sie insbesondere im Hinblick auf Russland.” (S.228).

In einer weiteren Fußnote, Nr. 78, ebenda, wird auch sein Vorgesetzter und Kollege János Forgách zitiert, mit einem Auszug aus seinem Brief vom 16. Juli an den k. u. k. Botschafter in Italien, in dem er schreibt: “Wenn überhaupt möglich, wollen wir alle natürlich einen Weltkrieg verhindern, auch wenn Deutschland wohl darauf vorbereitet ist, einen alleine zu führen.” Wie sind diese Äußerungen mit den späteren Geschehnissen zu vereinen? Wer also schwindelt hier, und warum?

Bei näherer Betrachtung ergeben sich jede Menge Ungereimtheiten. Ein Blick in die verfügbare englischsprachige Literatur erweist schnell, dass Musulins und Forgáchs Beiträge kaum erwähnt werden, obwohl Luigi Albertini (“The Bedrock of Discussion” in den Worten John Keegans) Musulin in seinem grundlegenden Werk [“The Origins of the War of 1914”, Original 1952 Oxford University Press, Enigma Books 2005, ISBN 1-292631-31-6, -32-4 und -33-2] neunzehnmal erwähnt bzw. zitiert, in dem für die Tage der Julikrise am meisten relevanten zweiten Band alleine vierzehnmal, und Forgách [u.a. Gesandter in Belgrad von 1907 bis 1911] auch vierzehnmal.

Wie aus seinen Kurzbiografien (hier und hier) zu entnehmen ist, war Musulin als Gesandtschaftsattaché sowohl in Moskau als auch in Belgrad tätig. 1908 wurde er zum außerordentlichen Gesandten befördert und leitete von 1910 bis 1916 die Kirchenpolitischen bzw. Ostasiatischen Referate. Nicht verzeichnet in diesen Abrissen sind die Tätigkeiten für Minister Alois Lexa von Aerenthal – der sein früher Förderer war – dem er schon im Verlauf der Bosnischen Annexionskrise 1908 zuarbeitete (Albertini I, p. 192) und mit ihm den Kaiser in Ischl traf (I, p.198) um die Reaktion der Slawen auf die Annexion zu besprechen (I, p.222). 1913 schrieb er, als gebürtiger Kroate, einen Bericht über das wachsende serbische Nationalbewusstsein,

Nun zu den o.a. Kernaussagen. Luigi Albertini schreibt:

Als der gegenwärtige Schriftsteller diese Frage Musulin, einem sehr hochrangigen ehemaligen Beamten am Ballplatz, stellte, antwortete er, Berchtold habe erstens bis zum 31. Juli nicht an einen Krieg geglaubt, und zweitens war er gemeinsam mit allen Anwesenden am Ballplatz fest davon überzeugt, dass Italien sich im Falle des Ausbruchs eines europäischen Krieges dem Dreibund anschließen würde. Daher widmete er seine Aufmerksamkeit nicht Italien, sondern Montenegro, dessen Neutralität Russland beeinflussen könnte, während in Wirklichkeit die italienische Haltung als ausschlaggebender Faktor angesehen werden musste. Die Wahrheit ist, dass, wie Musulin den gegenwärtigen Schriftsteller schrieb:

“… um das Kriegsglück zu unseren Gunsten wenden, hätte es für Italien genügt, auch ohne Kriegserklärung mehrere Armeekorps an die französische Grenze zu schicken.” (um Kräfte zu binden, Anm. d. Verf.)

Der überzeugendste Teil der obigen Erklärung aber ist, dass Berchtold hoffte, dass es keinen europäischen Krieg geben würde und dass der Streit mit Serbien letztendlich behoben werden könne. (Albertini II, p.222)

Das Interessante an Musulins Darstellung ist, dass sie der gängigen Interpretation widerspricht, nach der, nachdem der anfängliche Widerstand des ungarischen Premierministers István Tisza gegen Krieg während der Kronkonferenz am 7. Juli eine Woche später durch hartnäckiges Argumentieren überwunden worden war, die gesamte Regierung Krieg wollte – die Frage ist, wer war die Regierung?

Österreich-Ungarn hatte keine gemeinsame Verfassung. Die sogenannte Dezemberverfassung, in Kraft gesetzt am 21. Dezember 1867 von Kaiser Franz Joseph, bestand aus fünf Staatsgrundgesetzen und einem Delegationsgesetz, das zusammen mit der Pragmatischen Sanktion von 1713 (welche die habsburgische Erbfolge regelte), die Grundlage für Österreich bildete, jedoch nur für diese cisleithanischen, d.h. nicht-ungarischen Landesteile galt. In Ungarn war die Verfassung von 1848 mit kleineren Abänderungen wiederhergestellt worden, doch die weitere Anbindung an Österreich erfolgte nur aufgrund von Vereinbarungen, die die Schaffung drei gemeinsamer Ministerien (Außenministerium, Kriegsministerium und Finanzministerium – dieses jedoch nur soweit Rüstungsausgaben betroffen waren) vorsahen, die im Ministerrat für Gemeinsame Angelegenheiten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zusammentraten. Es wurde von ungarischer Seite sehr viel Wert darauf gelegt, dieses Gremium nicht als eine gemeinsame Regierung anzusehen, und daher wurden diese Institutionen nur als “K & K”, ‘kaiserlich und königliche’ Ämter bezeichnet – denn einen persönlichen Treueid auf Franz Joseph als König Ungarns hatten die Ungarn abgelegt. Der Außenminister war Vorsitzender, einen Kanzler bzw. Regierungschef des Gesamtreiches gab es nicht.

Chaos pur - Österreich-Ungarn
Chaos pur – Österreich-Ungarn

Auch Christopher Clark, der in “The Sleepwalkers” [Allen Lane, 2012, ISBN 978-0-713-999-42-6, p. 170 ff.] auf die Frage eingeht “Wer regierte eigentlich in X, Y, Z …”, bleibt in Bezug auf Österreich-Ungarn merkwürdig zurückhaltend. “Austro-Hungarian foreign policy was shaped not by the executive fiats of the Emperor, but by the interaction of factions and lobbies within and around the ministry.” (p.183) Er meint hier das Außenministerium – im Kriegsministerium war man sich in der Befürwortung, nein, der Erwartung des Krieges unter den rabiaten Falken Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf und Kriegsminister Alexander von Krobatin längst einig. War das Außenministerium aber tatsächlich federführend?

Was dachte der Außenminister Leopold Berchtold? Von 1906 bis 1911 war er Botschafter in Moskau und spielte eine Rolle als Handlanger von Aerenthal 1908 in der Annexion von Bosnien-Herzegowina. Er hatte 1912 seinen Vorgänger abgelöst und verfolgte dessen anti-Russische und anti-Serbische Politik weiter. In den Balkankriegen 1912/13 musste er einiges an diplomatischen Niederlagen einstecken und galt – eigentlich schon immer – als Falke. Nach dem Kronrat vom 7. Juli arbeitete er eng – praktisch jeden Tag – mit dem deutschen Botschafter Heinrich von Tschirschky zusammen, der mit dem deutschen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Gottlieb von Jagow, in ständigem telegrafischen Kontakt blieb.

In allen Dokumenten – außer den internen seines Ministeriums – erscheint er als Kriegstreiber. Die Diskrepanz zu Musulins Aussage ließe sich dadurch erklären, dass er die – zur Vorsicht neigenden – Diplomaten seines Hauses absichtlich im Dunkeln hielt – anders ließe sich schlichtweg nicht erklären wie Musulin, ein äußerst erfahrener Mann mit Verbindungen nach Russland und Serbien, als außerordentlicher Botschafter und dazu noch Verfasser des Ultimatums plus dazugehöriger Kommentare notwendigerweise mit allen Einzelheiten vertraut – soweit sie diplomatischer Natur waren – zu seiner Meinung kommen kann.

Zu den österreichischen Forderungen in der Note (dem “Ultimatum”) vom 22. Juni 1914 ist durchaus einiges zu korrigieren. Manfried Rauchensteiners Standardwerk “Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburger – Monarchie” (Böhlau Verlag 2013, ISBN 978-3-205-78283-4) führt hierzu aus:

Im ersten Entwurf … lasen sich die Forderungen an Serbien noch vergleichsweise harmlos. Zunächst wurde gesagt, dass die k. u. k. Regierung davon ausgehe, dass die serbische Regierung den Mord am Thronfolger und seiner Gemahlin genauso verurteile wie die ganze Kulturwelt. Um aber den guten Willen zu demonstrieren, wäre eine Reihe von Maßnahmen notwendig. Die Note schloss mit dem Ersuchen um gefällige Rückäußerung.

Graf Forgách verlangte eine weit schärfere Formulierung, und Musulin fügte vor allem den Punkt 6 ein, der dann lautete:

“Die königlich serbische Regierung verpflichtet sich, eine Untersuchung gegen jene Teilnehmer des Komplottes vom 28. Juni einzuleiten, die sich auf serbischem Territorium befinden; von der k.u. k. Regierung hierzu delegierte Organe werden an den diesbezüglichen Erhebungen teilnehmen.”

Es ging also nicht darum, österreichische Organe an der serbischen Rechtsprechung teilnehmen zu lassen, wie das dann die Serben in ihrer Antwortnote anklingen ließen, sondern um die Teilnahme an der Untersuchung. Dabei wäre sogar ein Präzedenzfall anzuführen gewesen, denn Österreich-Ungarn hatte es 1868 nach dem Mord am serbischen Fürsten Mihailo serbischen Funktionären ermöglicht, auch auf dem Gebiet der Donaumonarchie Erhebungen zu pflegen.

Dennoch: Die Forderungen waren erheblich verschärft worden, und aus der “gefälligen Rückäußerung” wurde eine 48-Stunden-Frist. Wie schrieb doch Emanuel Urbas Jahrzehnte später so bildhaft:

“Ein Dokument sollte geschaffen werden, das durch die unerhörte Wucht und Knappheit seiner Sprache die Welt bezwingen musste. Wir waren doch Zeitgenossen des Karl Kraus … So hatten wir gelernt, an die autonome Magie des Wortes als des Schoßes des Gedankens und der Tat zu glauben.”

Forgách hatte Sorge gehabt, sein Minister könnte womöglich nachgeben wollen. Doch Berchtold bewegte ganz anderes, da er dem Kaiser gegenüber mutmaßte, dass eine “schwächliche Haltung unsere Stellung Deutschland gegenüber diskreditieren könnte” und dass es im Grunde genommen darauf ankäme, die praktische Kontrolle über Serbien ausüben zu können. Jeder fürchtete, der andere könnte nachgeben und “weich werden” wollen. Weiterhin wurde nur an Krieg gedacht, und auch das Deutsche Reich drängte unentwegt. Botschafter von Tschirschky wurde nunmehr zum stetigen Mahner und Übermittler von Botschaften Berlins (des deutschen Außenministeriums, Anm.), die in zahllosen Varianten von Wien nur eines forderten: Krieg, so schnell wie möglich!

S. 108-109

Der dritte gemeinsame Minister, Finanzminister Leon Ritter von Biliński, war zumindest Anfangs eine Taube und warnte den Kaiser eindringlich, das Ultimatum werde zu einem Krieg führen. Ziehen wir dazu noch in Betracht dass, entgegen allen Usancen, Franz Joseph vor seiner endgültigen Entscheidung weder den Kronrat noch den Reichsrat zusammenrief, noch einen informellen “Kriegsrat” abhielt, und auch keine letzten Rücksprachen mit den engsten Mitarbeitern hielt, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Entscheidung auf das Anraten Berchtolds zurückzuführen ist, der ja auch als Vorsitzender des Ministerrates der Chef der Exekutive war. Die Militärs waren sowieso dafür.

Die Diplomaten mussten wohl die Morgenzeitungen lesen.


Beitrag Österreichisches Staatsarchiv


Das Ultimatum im Wortlaut


Der Verfasser steht in Kontakt mit dem österreichischen Staatsarchiv, um eine Kopie der Erinnerungen Musulins zu beschaffen. (© John Vincent Palatine 2019)

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Die Häresie des Schlieffen-Plans


Update: Dieser und der folgende Beitrag werden demnächst unter Berücksichtigung des neuen Buches “Der Weg in den Ersten Weltkrieg – Das Deutsche Militär in der Julikrise 1914” von Anscar Jansen ergänzt – darin eine erste Analyse des bisher kaum bekannten Memorandums von Erich von Falkenhayn zur Lage 1914.


Folgender Beitrag: Moltkes Kriegsplan 1914


Vielleicht das berühmteste – und am meisten fehlinterpretierte militärische Dokument der Weltgeschichte – aber nicht, wie oft behauptet, die Blaupause für 1914 – ist das sogenannte “Große Memorandum” ( auch als “Schlieffen-Plan” bekannt), des deutschen Generalfeldmarschalls und Generalstabschefs Alfred Graf von Schlieffen – datiert auf 1905, dem Jahre seiner Pensionierung, aber wahrscheinlich erst 1906 fertiggestellt. Es war eine Denkschrift – eine militärpolitische Stellungnahme, die mehrmals das Thema der (Schlieffens Meinung nach) dringend nötigen Vergrößerung des deutschen Heeres behandelte – zu einer Zeit als ein Großteil des Budgets an die Flotte ging. Es war kein aktueller Aufmarsch-, geschweige denn ein Mobilisierungsplan. Link zur PDF – File

Dieses Bild zeigt 1914, nicht den Plan an sich, der lediglich durch die gestrichelten grauen Linien angedeutet wird.

Anmerkung des Verfassers: Der geneigte Leser möge bitte beachten Sie, dass dieser Beitrag das originale Große Memorandum des Grafen Schlieffen von 1905 behandelt – nicht was im Jahr 1914 passierte. “Was wäre, wenn” Betrachtungen a posteriori sind also in diesem Zusammenhang nicht hilfreich.

Die anvisierte Kriegsführung wurde auf beiden Seiten von offensiver Grundhaltung bestimmt – die Generäle glaubten, mit ausreichender Artillerieunterstützung jede Frontlinie durchbrechen zu können.

Der “Schlieffen-Plan” ist, wie jedes andere Dokument, in dem geschichtlichen Rahmen und Zusammenhang zu sehen, indem es entstand. Zwei Argumente sind hierbei besonders zu beachten: (1) Der Plan entstand aus einer bestimmten Tradition – der des preußischen Generalstabs, schnelle Feldzüge für begrenzte Ziele zu planen und durchzuführen, was 1866 und 1870/71 so gut geklappt hatte, und (2) niemand hatte eine Alternative. Holger Herwig, mit dem dieser Autor nicht unbedingt in allem übereinstimmt, argumentierte 2003 in dem Sammelband “The Origins of World War I”, Cambridge University Press, ISBN 0-521-81735-8, S. 155:

Den Kritikern von Schlieffen fehlte es jedoch an einer brauchbaren Alternative. Ihre Vision (oder Angst) eines zwischen sieben und dreißig Jahre andauernden Volkskrieges war inakzeptabel – für Kaiser, Generäle, das Parlament und die Nation. Das Zweite Reich war nicht das Dritte – eine totale Mobilisierung für totalen Krieg war für alle Anathema.
Würde man Schlieffens Blaupause eines kurzen Krieges für begrenzte Ziele – eine Strategie, die vor allem seit den Erfolgen von 1866 und 1870/71, tief in den preußischen militärischen Annalen verwurzelt war – a priori ablehnen, würde das die ganze Existenz und Berechtigung des Kriegshandwerks, wie Historiker Gerhard Ritter es nannte (und auf das der Generalstab so stolz war), ad Absurdum führen. Um es krass auszudrücken, müsse man folglicherweise zugeben, dass der gepriesene preußische Generalstab keine kurzen und erfolgreichen Vernichtungskriege mehr führen könne, was bedeuten würde, dass
Krieg an sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine gangbare Option mehr war. Für eine derart radikale Idee gab es in Deutschland nur wenige Abnehmer.

Also musste es Krieg sein. Nachdem der Erste Weltkrieg jedoch verloren war, wurde in verschiedenen Nachkriegswerken deutscher Offiziere, so von Hermann von Kuhl, Gerhard Tappen, Wilhelm Groener und einer Truppe von Historikern des Reichsarchivs unter der Regie des ehemaligen Oberstleutnants Wolfgang Förster, eine These oder Erzählung entwickelt, die in etwa besagte:

I. Dass, schon ab dem Jahre 1905, der ehemalige Chef des deutschen Generalstabs, Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen, einen Operationsplan für den Krieg im Westen konzipiert hatte, der den Sieg so gut wie garantierte, und

II. Dass das Scheitern von 1914 das Unvermögen seines Nachfolgers als  Generalstabschef, Generaloberst Helmuth von Moltkes des Jüngeren war,  den Plan korrekt auszuführen, was zum Verlust des Weltkrieges führte.

Die  frühe Nachkriegsgeschichte hat die These ohne rechten Widerstand hingenommen, auf Treu und Glauben sozusagen – vielleicht weil der Sieg von 1870/71 viele Theoretiker davon überzeugte, dass was damals gelang, auch 1914 möglich sein müsste. Auf Treu und Glauben jedoch auch, weil der berühmte Plan nie zur Verfügung gestellt wurde – nicht ein Fitzelchen wurde veröffentlicht, das die Vorwürfe unterstützen könnte. Doch im Prinzip – so viel wurde bekannt – sah der Plan einen Angriff auf Nordfrankreich durch Belgien vor und eine darauf folgende Einkreisung und anschließende Belagerung von Paris vor, welche zu der französischen Kapitulation führen sollte – mehr oder weniger wie in der irreführenden West-Point Karte unten dargestellt:

Nachdem die meisten deutschen Militärarchive in den alliierten Bombardierungen des Zweiten Weltkrieges zerstört worden waren, wurde eine Kopie des verloren geglaubten Plans 1953 von dem deutschen monarchistischen Historiker Gerhard Ritter in den National Archives in Washington gefunden. Wie es sich herausstellte, hatte sich das ursprüngliche Dokument gar nicht in irgendeinem militärischen Archiv, sondern in des Grafen Hause befunden – im Nachlass seiner Töchter. Im Jahr 1958 veröffentlichte Ritter das Papier in englischer Sprache, mit einem Vorwort von B.H. Liddell-Hart, unter dem Titel „The Schlieffen Plan – Critique of a Myth“ bei Praeger, New York (die ursprüngliche deutsche Fassung war 1956 bei R. Oldenbourg, München, erschienen). [Keine ISBN Nummer oder Library of Congress – Karte für die englische Ausgabe verfügbar]

Warum ist das Dokument mit Vorsicht zu behandeln? Einige Hinweise: Das Memorandum beschreibt einen Krieg allein gegen Frankreich – keinen Zweifrontenkrieg einschließlich Russlands – und ohne britische Beteiligung. Der Plan setzt alles in allem 94 Divisionen ein – eine Zahl, die nie existierte (Moltke musste sich im Jahre 1914 mit 68 Divisionen behelfen, von denen einige Wachdienst an der Nordseeküste schoben und einige andere die Städte Maubeuge und Brüssel belagerten) – aber von entscheidender Bedeutung sind die zahlreichen logistischen und räumlichen Unmöglichkeiten des Plans. John Keegan analysierte sie gnadenlos in „The First World War“, Vintage Books 2000, ISBN 0-375-40052-4361, und ich darf seine Analyse ausführlich zitieren:

Ritters Buch – Kopie des Autors
Schlieffens Karte 1: Der Aufmarsch

Schlieffens mitternächtliche Haarspalterei hatte sich nicht zum Ziel gesetzt, einen exakten zahlenmäßigen Vergleich zwischen deutscher und französischer Truppenstärke zu liefern, sondern die maximale Kapazität der belgischen und französischen Straßennetze zu eruieren. Solche Berechnungen gehörten zu den Grundlagen der Ausbildung an den Kriegsschulen; wo Studenten aus vorbereiteten Tabellen die Länge von Marschkolonnen bestimmten  – neunundzwanzig Kilometer für ein Korps, zum Beispiel – um auf Straßenkarten zu messen, wie viele Truppen einen gegebenen Sektor mit welcher Geschwindigkeit passieren könnten.

Da zweiunddreißig Kilometer die Grenze eines Eilmarsches war,  wäre dies der maximale Vormarsch eines Korps auf einer einzigen Straße; aber das Ende einer neunundzwanzig Kilometer langen Säule würde sich am Ende des Tages immer noch nahe oder am Abmarschpunkt selbst befinden.

Gäbe es zwei parallel verlaufende Straßen, würden die Enden die halbe Distanz vorrücken, wenn vier, drei Viertel, und so weiter. Idealerweise würden die Einheiten eines Korps nicht als Kolonne, sondern in Linie nebeneinander voranziehen, sodass alle Mann am Ende des Tages zweiunddreißig Kilometer weiter ankämen; in der Praxis, wie Schlieffen selbst in einer Korrektur zugab, waren parallele Straßen bestenfalls alle ein bis zwei Kilometer auseinander zu finden.

Geplante Situation am 22. Tag – alle Korps nummeriert und alle Straßen proppenvoll …

Während sich seine große Kreisbewegung sich auf einer Front von dreihundert Kilometern mit etwa dreißig Korps nach vorn bewegte, würde jedes Korps nur über ungefähr zehn Kilometer Front zum Vorrücken verfügen, an denen es bestenfalls sieben parallele Straßen gäbe. Das war nicht genug, um der Nachhut zu erlauben, am Ende des Tages zur Vorhut aufzuschließen. Der Nachteil war nicht zu korrigieren; er verbot absolut jeden Versuch, mehr Truppen in den Radius des Rades zu pressen. Sie hätten keinen Raum zum Manövrieren, es gab einfach nicht genug Platz.

Hier kommen wir nun zu der Frage, auf welchen Straßen die sechs (nicht existenten) Ersatz-Corps, die wie der aufmerksame Leser bemerkt, plötzlich aus der Luft in Karte 3 erscheinen, nach Paris marschiert sind?

Am 31. Tag erscheinen plötzlich die (nicht existenten) sechs Ersatzkorps (d.h. 12 Divisionen, markiert in Grün), wie von Scotty hingebeamt, um Paris …

Es ist an dieser Stelle, dass der aufmerksame Leser des Großen Memorandum den Plan auseinanderfallen sieht: Karte 3 zeigt in keiner Weise, wie die neuen Korps sich „Paris, dem zentralen Stützpunkt der großen Festung, die Schlieffens Frankreich war“, überhaupt erreichen könnten, geschweige denn die Stadt belagern. Das Korps erscheinen einfach auf der Karte, ohne Hinweis darauf, wie sie den Stadtrand von Paris erreichen. Die „Kapazität der Bahn“ ist irrelevant; in Schlieffens Plan war die Eisenbahn nur dazu da, die Angreifer bis zur deutschen Grenze von Belgien und Frankreich zu bringen. Danach war es das weiterführende Straßennetz und die Stiefel der Infanterie, die die Geschwindigkeit des Vormarsches bestimmen würden.

Schlieffen selbst berechnete die durchschnittliche Marschleistung mit 12 Meilen (ca. 19 km) pro Tag. In der Krise vom August und September 1914, würden sowohl deutsche wie auch französische und britische Einheiten dies überbieten, manchmal Tag für Tag – das 1. Bataillon des Gloucestershire Regiments legte gemittelt sechzehneinhalb Meilen während des großen Rückzugs von Mons nach der Marne zurück, vom 24. August bis 5. September und schaffte dreiundzwanzig bzw. einundzwanzig Meilen am 27. und 28. August – aber Schlieffens Mittelwert war nicht weit von der Marke. Von Klucks Armee auf dem äußeren Flügel des großen Rades erreichte etwas mehr als 13 Meilen (ca. 21 km) pro Tag zwischen dem 18. August und 5. September 1914, über eine Entfernung von 260 Meilen (ca. 418 km).

Damit die „acht neuen Korps“, die Schlieffen als Clincher für seinen Plan brauchte, in die vorgesehene Position hätten gelangen können, hätten sie tatsächlich nicht nur schneller und weiter als benötigt marschieren müssen, was gegen alle Wahrscheinlichkeit spricht, aber dies entlang denselben Straßen zu tun die schon von anderen Korps besetzt sind ist eine einfache Unmöglichkeit.

Es ist daher nicht verwunderlich, im Text des Großen Memorandum des Autors´Geständnisse begraben zu finden wie, dass „wir zu schwach sind“, um den Plan zu einem Abschluss zu bringen und, in einer späteren Anmerkung, „auf solch einer verlängerten Linie noch größere Kräfte brauchen werden als wir bisher geschätzt haben.“ Er war in eine logistische Sackgasse gelaufen. Die Eisenbahnen würden die Truppen für sein großes Rad positionieren; die belgischen und französischen Straßen würden es ihnen ermöglichen, den Stadtrand von Paris in der sechsten Woche ab dem Tag der Mobilisierung zu erreichen; aber sie würden nicht in der notwendigen Stärke ankommen, um die entscheidende Schlacht zu gewinnen, wenn sie nicht von acht Korps begleitet wären – 200.000 Menschen – für die es keinen Raum gab. Sein Plan für den Blitzsieg war in sich selbst fehlerhaft – wurde aber dennoch zum Einsatz vorgemerkt.

In der ursprünglichen 1956er Ausgabe von Gerhard Ritter (siehe obiges Foto) sind die Karten an der Rückseite des Buchs gebunden und von geringer Qualität. Ich habe sie in die relevanten Teilen des Textes platziert und farbig gekennzeichnet, um dem Memorandum besser folgen zu können.

Das Problem des Plans, so wie er vorliegt, ist seine Interpretation. Nachdem der Praktiker Terence Zuber (ehemaliger Offizier der US Army und in Würzburg promovierter Historiker) ab 1999 in verschiedenen Veröffentlichungen argumentierte, dass der Plan eben nur eine Denkschrift sei, und es keine Anzeichen dafür gäbe, dass er jemals Grundlage von Manövern oder auch nur einer nachvollziehbaren fachlichen Diskussion war (im Gegenteil – in den 1990ern wurden Dokumente über die tatsächlichen Übungen, die sein Nachfolger Moltke bis 1914 abhielt, aus Beständen der ehemaligen DDR gefunden), gab es ein großes Geschrei der etablierten Historiker, weil nicht sein kann was nicht sein darf. Siehe Zuber, Terence, “The Real German War Plan 1904-14“, The History Press 2001, ISBN 978-0-7524-5664-5.

Es wurden eigens internationale Tagungen einberufen, um die Häresie zu unterbinden, jedoch macht Zuber’s Kritik, deren Eckpunkte man vielleicht am besten in dem Artikel der englischen Wikipedia nachlesen kann, durchaus Sinn. Das Problem der konservativen Gegenkritik- also des Status Quo – das leider praktisch nie angesprochen wird – ist, das man davon ausgehen müsste, dass der deutsche Generalstabschef bis 1905 sich Planungen hingab, die seit dem französisch-russischen Bündnis seit 1890 völlig unrealistisch waren – es würde keinen Einfrontenkrieg geben, worauf Terence Holmes ebenfalls hinwies.

Es wird argumentiert dass die Denkschrift die kurzzeitige militärische Schwächung Russlands nach der Katastrophe des russisch-japanischen Kriegs miteinbezieht. Dies ist jedoch eher irrelevant, da in diesem Krieg die Hauptverluste Russlands ihre Flotte betrafen, die die deutsche Marine sowieso nicht interessierte – die Hochseeflotte rüstete gegen England.

Das Hauptproblem der bisherigen Gegenkritik ist, dass sie eben die Geschehnisse von 1914 argumentiert – nicht wirklich das Memorandum von 1905 an sich. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) hat 2007 “Der Schlieffenplan: Analysen und Dokumente“, editiert von Michael Epkenhans, Hans Ehlert and Gerhard P. Groß. Das Buch ist nun angekommen und wird ausgewertet und für die englische Version dieses Beitrags übersetzt. Es enthält auch vier großformatige Kartenblätter.

Erster Eindruck [Update 05.06.2019]: Das Problem des Kompendiums liegt wohl in der Organisation der zugrundeliegenden Konferenz vom 30. September bis 1. Oktober 2004. Der Grund für die Einberufung der Konferenz war die grundlegende Kritik von Terence Zuber gewesen – siehe oben. In der Durchführung wurde dies aber nicht zum Thema gemacht, sondern es erhielten verschiedene Teilnehmer die Gelegenheit, ihre eigenen Thesen zum “Schlieffenplan” vorzutragen – aber nicht, wie oben angesprochen, auf die Denkschrift von 1906 einzugehen, sondern ihre eigene, bisher unveröffentlichten Meinungen zu den Entwicklungen der deutschen Aufmarschpläne 1905 – 1914 bzw. den Geschehnissen von 1914 kund zu geben.

Man muss hier differenzieren: Als Zuber nach 2000 den Schlieffenplan als “Mythos” bezeichnete, meinte er nicht dass der Plan nicht existierte – die Denkschrift liegt ja vor – sondern er wies auf die Inkongruenz der Denkschrift (siehe John Keegan’s Analyse der taktischen Undurchführbarkeit und die “Geisterdivisionen”) mit der nach 1918 entwickelten Legende hin, dass Schlieffen einen perfekten Plan vorgelegt habe, den der jüngere Moltke nicht begriff, oder durch Planänderungen “verwässerte”.

Dieser Beitrag betrifft die Denkschrift von 1905/6, wie oben angeführt, nicht die Ereignisse von 1914 oder die Vorbereitungen und eventuellen Planungen unter Moltke. Dies war jedoch nicht das Thema der Konferenz. Annika Mombauer entwickelt Thesen zu etwas, das sie den “Moltkeplan” nennt, also zur Geschichte des immer noch unbekannten tatsächlichen Kriegsplans von 1914. Andere Beiträge behandeln die Situationen, Planungen und politischen Realitäten in Österreich-Ungarn (Günter Kronenbitter), Frankreich (Stefan Schmidt), Russland (Jan Kusber), Großbritannien (Hew Strachan), Belgien (Luc De Vos) und der Schweiz (Hans Rudolf Fuhrer und Michael Olsansky). Ungeachtet der Qualitäten dieser Beiträge stellt sich dabei die Frage der Relevanz.

Ein weiteres Kernproblem ist dass die Frage der Kriegsschuld, die grundsätzlich eine politische, keine militärische Frage ist, unauslöschlich mit der Diskussion vermengt wird – manchmal entsteht der unausgesprochene Eindruck “offensiv” wäre synonym mit “böse” oder “schuldig” und “defensiv” bedeute “gut”. Fakt ist dass alle Großmächte 1914 offensive planten und daher dürfte sich diese Frage im Militärbereich nicht stellen.

Die Kernthese Zubers war, dass der “Schlieffenplan” (in der Form der vorliegenden Denkschrift) kein tatsächlich durchführbarer Plan war und nichts dafür spricht, dass er tatsächlich die Grundlage für die Planung von 1914 bildete.

Ein weiteres schwerwiegendes Beispiel für die taktische Undurchführbarkeit des Plans, das John Keegan wohl aus Platzmangel ausließ, wäre die Umzingelung von Paris, wie geplant von der 1. Armee (und sechs nicht existierenden Ersatzkorps). Wenn wir einen Einschließungsring in der Linie Compiègne – Pontoise – Plaisir – Orsay – Évry – Brie-Comte-Robert zugrunde legen – siehe Grafik – bedeutet dies eine zusätzliche Frontlänge von über 400 Kilometern (zweiseitige Einschließungsfront wie in Alesia) ohne jede Flankensicherung oder Rückendeckung – die die Franzosen geradezu zu einer katastrophalen Einkesselung des Westteils einladen würde.

Angenommene Belagerungslinie von Paris
Das Risiko einer Einkesselung

Folgender Beitrag: Moltkes Kriegsplan 1914


(© John Vincent Palatine 2019)

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