Historia Occidentalis

Ein Magazin zur Zentraleuropäischen Geschichte

Kategorie: Weltenbrand

Die Blonde die aus der Kälte kam …

Hilde Krüger

Video – Movie Clip 1 – Movie Clip 2


Katharina Mathilde Krüger kam entweder am 9. November 1912 in Köln-Kalk zur Welt oder, wie andere Quellen behaupten, am 11. September 1914 in Berlin. Ihre wohl erste erhaltene Filmrolle zeigt sie in dem antisemitischen UFA-Streifen Nur nicht weich werden, Susanne! woraufhin Joseph Goebbels zu ihrem Gönner oder auch Liebhaber wurde – der “Bock von Babelsberg” nahm es mit der Trennung von dienstlichen und privaten Dingen nicht immer so genau.

Obwohl sie in ca. einem Dutzend anderer UFA – Produktionen weitere Rollen spielte, ging sie 1940 nach Hollywood und mietete sich im Hotel Beverly Wilshire ein, wo, wie der Tratsch es besagte, ihr erster Gönner J. Paul Getty die Rechnungen bezahlte. Ihr Lover war der reichste Mann der Welt, fünfmal verheiratet und offensichtlich kein Kostverächter. Nazi-Sympathisant war er auch.

Aber die Schauspielerei hob nicht recht ab. Ihr Englisch liess zu wünschen übrig, ihre Schauspielerei vielleicht auch. Sie freundete sich ersatzweise mit einem Herrn Gert von Gontard an, der als Erbe der Brauerei Budweiser ebenfalls über das nötige Kleingeld verfügte und lebte mit ihm ein Jahr lang.

Wir wissen nicht was dann genau geschah – vielleicht wurden dem Paar die Nachstellungen der amerikanischen Polizei zu lästig oder es gab Beziehungsstress – aber irgendwann 1940 wurde sie von der deutschen Abwehr angeworben und nach Mexiko geschickt, das aufgrund seines Öls für die deutsche Kriegswirtschaft interessant war. Da 1938 Mexikos Präsident Lazaro Cárdenas in niederträchtiger Weise alle ausländischen Ölfirmen verstaatlicht hatte, hatten die ehemaligen Besitzer, England, die USA und Holland ein Embargo auf mexikanisches Rohöl verhängt und seither gingen zwei Drittel der Produktion nach Deutschland.

Ihr Grenzpassierschein vom 9.2.1941

So kam es, dass Frau Krüger am 9. Februar 1941 am Grenzübergang Nuevo Laredo auftauchte, in ihrem Gepäck ein Empfehlungsschreiben von ihrem guten Freund Mr. Getty. In Nullkommanix hatte sie sich in der besten Gesellschaft der Hauptstadt eingelebt und die Generäle, Wirtschaftsmanager und Politiker des Landes fielen der wasserstoffblonden Nazi-Geheimwaffe reihenweise zu Füßen. Ihre erste Eroberung war Ramón Beteta, Staatssekretär im Finanzministerium, doch bald wurde sie die Geliebte des Innenministers und späteren mexikanischen Präsidenten Miguél Alemán. Der gute Herr
Alemán besorgte ein Liebesnest und besuchte sie fast jede Nacht, was die FBI-Agenten peinlich genau notierten. Ebenfalls unterhielt Hilde Kontakte zu dem General Juán Almazán und Außenminister Ezekiel Padilla. Die Regierung fraß ihr aus der Hand. Als Quid pro Quo arrangierten ihre Gönner Rollen in mehreren mexikanischen Filmen.

Nach einem Jahr wurde sie auf Betreiben der USA festgenommen, kam aber jedoch bald durch die Fürsprache ihrer Gönner wieder frei. Sie heiratete kurzerhand einen Herrn Nacho de la Torre, den Enkel des ehemaligen Präsidenten Porfirio Díaz und umging dadurch die Ausweisung.

Liebhaber: Getty, Betana, Alemán, Padilla, Andreu, Almazán

Und die Spionage? Der Innenminister gab ca. 300 Visa an deutsche Spione aus, kriegswichtiges Quecksilber wurde im Hafen von Veracruz auf deutsche U-Boote verladen und soviel Öl über Panama geschmuggelt wie die Pumpen nur förderten.

Julio Lobo Olavarría

Bis 1946 lebte sie mit ihrem Mann in Saus und Braus, doch bald, nachdem ihr alter Freund Alemán Präsident wurde, tauschte sie ihren Playboy Torre gegen ein schwereres Kaliber ein, den Venezolaner Julio Lobo Olavarría, den Zuckerkönig von Kuba, mit dem sie nach Spanien ging. Aber die nachfolgende Ehe hielt nur ein Jahr lang. 1958 tauchte sie noch einmal im deutschen Kino auf, in der Schweizer Schmonzette “Eine Rheinfahrt, die ist lustig“.

UFA Filmplakat 1935

Auf YouTube existiert eine Dokumentation der Nazi-Spionage in Mexiko, “La red nazi en México” von Sebastián Gamba, Mexiko 2010, leider nur im spanischen Original (Link).

Sie starb 1991 bei einem Heimatbesuch oder 2008 in New York, niemand weiß es genau. Insgesamt machte sie vierzehn Filme in Deutschland, vier in Mexiko und einen in der Schweiz.

(© John Vincent Palatine 2019)

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Die Deutsche Revolution von 1918

Der Gipfel menschlicher Entwicklung …

Videos mit Originalaufnahmen: Kurt Eisner / Doku Revolution


Schon Anfang Januar 1918 hatten Industriearbeiter in Berlin begonnen, für ein Ende des Krieges zu streiken und ihr Protest brachte die SPD dazu, ihre Position zu überdenken. In der anfänglichen Begeisterung des Augusts 1914 hatte die Partei Kaiser Wilhelms Aufruf zu nationaler Einheit in Zeiten der Gefahr akzeptiert und für die Kriegskredite gestimmt, aber die Entbehrungen der Lebensmittelrationierung, die Anstrengungen der Kriegsproduktion und die wachsende Inflation belastete die Treue ihrer Anhänger schwer. In vielen Fabriken waren Arbeitstage von 12 bis 14 Stunden die Norm – an sieben Tage der Woche. Wären die Löhne angemessen gewesen, oder vielmehr, hätte es Waren zum Erwerb gegeben, hätten die Arbeiter den Härten mit mehr Toleranz begegnen können, aber unter dem Trauma des vierten Kriegswinters fühlten sogar gemäßigte Sozialisten Handlungsbedarf. Ihr Unmut über die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen, die weitgehend die Folge von Hindenburgs und Ludendorffs Vernachlässigung des Agrarsektors waren, wurde von den liberalen bürgerlichen Parteien geteilt, die auch die Arroganz kritisierten, mit der die Generäle das Land regierten. Eine Stimmung des Protestes erhob sich langsam in den Schützengräben von Frankreich und Belgien, die sich bald …

Streik der Munitionsarbeiterinnen, Berlin, Januar 1918

… nach Deutschland selbst weiterverbreitete, das viele Monate lang unter einer virtuellen Militärdiktatur gelitten hatte, und am Montag, den 28. Januar 1918, begannen Arbeiter in ganz Deutschland zu streiken. Ihre Hauptforderung war Frieden, aber auch ein Mitspracherecht der Arbeitnehmervertretungen bei den Verhandlungen mit den Alliierten, erhöhte Lebensmittelrationen, die Abschaffung des Kriegsrechts und die Schaffung einer demokratischen Regierung für ganz Deutschland. In München und Nürnberg marschierten zwar nur ein paar tausend Arbeiter durch die Straßen und forderten sofortigen Frieden ohne Annexionen, aber in Berlin verließen 400.000 Arbeiter ihre Arbeitsplätze, um ein Streikkomitee zu organisieren.

Berliner Streikposten

Sie wurden zwar innerhalb einer Woche zurück an die Arbeit gezwungen, aber der Geist der Rebellion blieb in der Hauptstadt lebendig und es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis eine ausgewachsene Revolution ausbrechen würde. Die Nachricht von dem Generalstreik wurde an der Front mit gemischten Gefühlen empfangen. Viele der Soldaten waren zwar kriegsmüde und genauso angewidert wie die Bevölkerung, aber fast genauso viele fühlten sie sich durch die Zivilisten betrogen.

Für Hitler war es „die größte Schikane des ganzen Kriegs“ und er erzürnte sich über die „ roten Faulenzer.“  Wofür kämpfte die Armee, wenn die Heimat selbst nicht mehr den Sieg wollte? Für wen dann die immensen Opfer und Entbehrungen? „Von den Soldaten wird erwartet für den Sieg zu kämpfen und dann fängt die Heimat an, gegen sie zu streiken.“ [John TolandAdolf Hitler, Anchor Books 1992, ISBN 0-385-42053-6, S. 69]

Hitlers erster Fronturlaub in Berlin hatte ein paar Wochen vor dem Streik stattgefunden und als er zum zweiten Mal durch die Hauptstadt spazierte, um den 19. November 1918 herum, war die Aufregung der vergangenen Wochen bereits abgeklungen.

Die Massaker des 6. Dezember waren noch mehr als zwei Wochen in der Zukunft. Bei diesem Vorfall fand sich eine Demonstration von Spartakisten, die um eine Straßenecke bogen, plötzlich einer Reihe von Maschinengewehren gegenüber, besetzt von Soldaten aus dem wegen ihrer Abzeichen  „Maikäfer“ genannten Garde-Füsilier-Regiments des Gardekorps, die fünf Minuten lang auf alles feuerten, was sich bewegte, bevor sie sich auf den Rückzug in die Sicherheit und Anonymität ihrer Kaserne machten und die Toten und Verwundeten ihrem Schicksal überließen. Es wurde nie herausgefunden, wer die Mörder waren. 

Hitler jedoch war kurz vorher sicher nach München zurückgekehrt, musste aber zu seinem Erstaunen erkennen, dass sich seit dem 7. Dezember vieles verändert hatte.

Während des Krieges hatte sich die bayerische sozialistische Bewegung aufgespalten, wie in den meisten anderen Bundesländern, und zwar in einen großen gemäßigten Flügel, der den Namen SPD beibehielt, und eine kleinere radikale Gruppe, die USPD ( „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“). In Bayern war diese Spaltung durch einen bayerischen Delegierten des SPD-Parteitags von Gotha im April 1917, Kurt Eisner, organisiert worden. Bei jenem Parteitag hatten grundsätzliche Streitigkeiten über die Unterstützung des Krieges zu Spaltung geführt, und als Eisner nach München zurückkehrte, wurde er zum Vorsitzenden der bayerischen USPD gewählt. Beide Parteien waren in der Bayerischen Abgeordnetenkammer vertreten, der seit 1819 existierte; der es aber an wirksamer gesetzgebender Gewalt fehlte – welche dem König vorbehalten blieb. Bayern war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein meist ländliches Gebiet, aber durch das Aufblühen der deutschen Industrie in den nächsten 60 Jahren, und vor allem, als sich Munitions-, Fahrzeug- und Eisenwaren-Fabriken während des Krieges multiplizierten, wuchs der Einfluss der sozialistischen Parteien. 

Die bayerischen Sozialisten waren weitaus mutiger als ihre Genossen in Berlin und brachten im September 1917 ein Reformgesetz mit weitreichenden Anliegen ein, das die Abschaffung des Senats (der parlamentarischen Spielwiese des Adels) und des Adels selbst forderte, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die Übertragung der legislativen Befugnisse auf einen Landtag und die Trennung von Kirche und Staat.

Kurt Eisner

Diese Gesetzesvorlage starb natürlich schnell durch königliches Veto, aber in den landesweiten Streiks vom Januar 1918 gelang es der bayerischen USPD, die Straßen in einem Grad zu mobilisieren, den die Regierung für viel zu gefährlich hielt. Die führenden Persönlichkeiten der USPD wurden daher kurzerhand verhaftet, darunter der unbeugsame  Kurt Eisner.

Stadtzentrum – Neuhauser Straße

Die meiste Zeit seines Berufslebens war Eisner ein Theaterkritiker gewesen. Während des Krieges gründete er die Unabhängige Sozialistische Partei in Bayern und im Januar 1918 übernahm er eine führende Rolle bei den Streiks, die München plagten. Verhaftet und ins Gefängnis geworfen, wurde er in den letzten Tagen des Krieges freigelassen. Sein Freund Ernst Toller [der Dramatiker, ¶] beschrieb ihn als einen Mann, der sein Leben lang arm, selbstgenügsam und zurückhaltend gewesen war. Er war klein und schmächtig; graue Haare, die einst blond gewesen waren fielen unordentlich über seinen Mantelkragen und ein ungepflegter Bart wucherte über seine Brust; kurzsichtige Augen schauten ruhig aus seinem tief gefurchten Gesicht. Er hatte einen Sinn für Dramatik, ätzenden Witz und war völlig ohne Arroganz. [Robert Payne, The Life and Death of Adolf Hitler, Praeger Publishers 1973, Lib. Con. 72-92891, S. 122]

Kurt Eisner privat in seinem Garten in der Haderner Lindenallee 8 – v.l.n.r. Josef Belli, Freia Eisner, Ilse Eisner (Tochter aus Eisners erster Ehe), Kurt und Else Eisner, Thekla Belli

Er wurde beschuldigt, ein Bolschewik zu sein, was er schon mal gar nicht war. Er war, was sein Parteiausweis angab – ein unabhängiger Sozialist: weniger ein Anhänger strenger marxistischer Lehre als ein Mann der die inkompetente Herrschaft des Adels und des Systems, das unter seiner sozialen Ungerechtigkeit und den Entbehrungen von vier Jahren Krieg auseinander zu brechen drohte, durchschaute. Als die rechtsextreme Presse ihn als einen bolschewistischen Aktivisten hinstellte, der zehn Millionen Goldrubel von Lenin persönlich zur Förderung der deutschen Revolution erhalten hatte, nahm er die Reporter mit zu seiner Bank und zeigte ihnen eine Kopie seines Spesenkontos: seine Unkosten für die „Bayerische Revolution“ belief sich auf siebzehn Reichsmark. Die Annalen der Menschheit kennen keine billigere Revolution.

König Ludwig III war sich der Vorboten des Aufruhrs in den letzten Tagen des Krieges wohl bewusst. In einem verspäteten Versuch, die Monarchie zu retten, stimmte der König einem reformerischen Gesetzentwurf zu, der ein paar liberale aber weitgehend kosmetische Veränderungen mit sich brachte. Fünf Tage später, am Vormittag des 7. November 1918, traten Vertreter der SPD, der katholischen Bauernpartei und der Demokratischen Partei zum ersten Mal der Königlich Bayerischen Regierung bei.

Das Hofbräuhaus – Zentrum des bekannten Universums

Obwohl die bayerische Polizei vor revolutionären Verschwörungen gewarnt hatte, erlaubte die Münchner Justiz am selben Nachmittag eine gemeinsame Demonstration von SPD und USPD auf der Theresienwiese, der großen Fläche, wo das jährliche Oktoberfest stattfindet. Die Truppen der Münchner Garnison wurden als zuverlässig monarchistisch und patriotisch genug eingeschätzt, sodass die öffentliche Sicherheit gewährleistet schien. Die Veranstaltung begann um 15.00 Uhr und bald füllten mehr als 80.000 Zuhörer das große Oval. Am Schluss der Veranstaltung, zwei Stunden später, verließen die Gemäßigten das Gelände, um in die Innenstadt zu marschieren, während die extremeren Elemente, insbesondere Kurt Eisners USPD, verharrten, zusammen mit vielen radikalen Soldaten und Matrosen, die bereits ihre imperiale Kokarden abgenommen hatten.

Auf der Theresienwiese, 7. Dezember 1918, nachmittags

Eisner erkannte seine Chance. Seine Anhänger befanden sich am nördlichen Ende des Veranstaltungsortes, nahe den Kasernen der Münchner Garnison in Nordwesten der Stadt, wohin er sich, von vielleicht 2000 Mann gefolgt, in Bewegung setzte. Bald wuchs die Menge zu einem revolutionären Lindwurm an, als sich mehr und mehr Soldaten auf dem Weg zu den Kasernen anschlossen. Es gab eine Minute Verwirrung und eine kleine Schießerei an der großen Kaserne Türkenstraße, aber als sich die Mehrheit der dort stationierten Truppen für die Revolution erklärte, hatte Eisner gewonnen. Die Menge, die er jetzt in Richtung Innenstadt zurückführte, war jetzt ungefähr 5000 Mann stark.

Der Kronprinz, Königin Marie Therese und Ludwig III

Bei seinem täglichen Nachmittagsspaziergang im Englischen Garten hatte ein Passant dem König von bedenklichen Vorfällen berichtet, was ihn zur Rückkehr veranlasste. Gegen 7 Uhr abends erschienen revolutionär gestimmte Soldaten auf dem Platz der Residenz, des Wittelsbacher Stadtpalastes, und die besorgte Königsfamilie wurde durch den Kriegsminister Philipp von Hellingrath informiert, dass, da eine große Mehrheit, vielleicht sogar alle der Münchner Garnisonstruppen, sich für die Rebellion erklärt hatten, keine loyalen Einheiten zur Verfügung stünden, um den Thron zu schützen. Die Palastwache war in den frühen Abendstunden auf mysteriöse Weise verschwunden, und der Königs eigenes Garde-Regiment verblieb passiv in den Kasernen, obwohl es dringend alarmiert worden war. Um etwa 22 Uhr verließen der König, seine Familie und die Bediensteten die Hauptstadt, auf Anraten des Hofministers Ritter von Dandl, um Zuflucht auf dem Familienschloss Burg Wildenwart am Chiemsee zu suchen. Ein paar Meilen südlich der Stadt, so die Sage, rutschte des Königs Auto von der Straße ab und endete mit gebrochener Achse in einem Kartoffelfeld. Es war ein, den Umständen entsprechend, durchaus angemessenes Ende der Herrschaft des Hauses Wittelsbach in Bayern.

Inzwischen gingen Delegationen revolutionärer Soldaten daran, die wichtigsten strategische Punkte der Stadt zu besetzen, ohne auf Widerstand zu stoßen: bis zum späten Abend waren der Hauptbahnhof, das Telegrafenamt, das Bayerische Armeekommando und andere wichtige militärische und kommunale Gebäude sowie das Parlament und die Büros der Zeitungen in roten Händen. Die Einheiten von Armee und die Polizei, die nicht zu den Rebellen übergegangen waren, verhielten sich passiv und ließen die Revolution sich selbst in den späten Stunden des Tages mithilfe von Massenveranstaltungen organisieren. Eine vorläufige Versammlung der Rebellen wurde im Franziskaner Bierkeller abgehalten, aber das zweite, entscheidende Treffen fand genau im Herzen der Stadt, im gigantischen Mathäserbräu, einem riesigen Gasthaus, statt, in dem leicht fünftausend Personen Platz fanden –  aber in dieser Nacht waren dort bestimmt doppelt so viele.

Soldaten vor dem Mathäserbräu

Soldaten und Matrosen trafen sich im ersten Stock und wählten einen Rat, während sich die Arbeiter im Erdgeschoss trafen und ihre eigenen Vertreter erkoren. Die Delegierten beider Räte verschmolzen dann und bildeten einen allgemeinen „Arbeiter-, Soldaten- und Bauern Rat“, anfangs geleitet von Franz Schmitt von der SPD. Um etwa 22 Uhr zogen Eisner, Schmitt und die Räte plus eine kleine bewaffnete Wache über die Isar zum Parlamentsgebäude. Den Vorsitz beanspruchend, in dem improvisierten Treffen, und ohne formale Umschweife, nahm Eisner das Amt des Ministerpräsidenten von Bayern auf sich, und ließ, in den frühen Morgenstunden des 8. November 1918, die Freie Bayerische Sozialistische Sowjetrepublik verkünden. Ein paar Stunden später erwachten  die Bürger von München, die in einem Königreich zu Bett gegangen waren, in einer Republik, und dazu noch in einer sozialistischen.

Proclamation of the Free State of Bavaria

Am Nachmittag des gleichen Tages, 8. Dezember, veranstaltete man im Parlamentsgebäude die erste Sitzung des temporären Nationalrates, um eine provisorische Regierung zu etablieren. Der Versammlung gehörten die Stadträte und die ehemaligen  Parlamentsmitglieder der SPD, der bayerischen Bauernpartei und die drei ehemaligen liberalen Abgeordneten an. Das Plenum wurde anfänglich mit Einwänden von den Delegierten der SPD konfrontiert. Die Sozialdemokraten zeigten sich, zu einem gewissen Grad, dem Ancien Régime treu und favorisierten Reformen, nicht Revolution; eine langwierige Debatte war notwendig, um ihre Mitglieder zu überzeugen, der provisorische Regierung beizutreten und diese zu unterstützen. Am nächsten Tag übernahmen Ministerpräsident Eisner und seine frisch gebackenen Minister die Exekutivgewalt in Bayern. Kein einziger Akt der Insubordination wurde bekannt: alle Staatsdiener, Regierungsangestellten, Polizei und Militär befolgten die Anordnungen der neuen Regierung.

München setzte den Standard für das Land.

Die Flammen der – ordentlichen –  Revolution zündeten spontan in ganz Deutschland. In Friedrichshafen bildeten die Arbeiter der Zeppelin-Werke einen Rat. Die Fabrikarbeiter in der Region Stuttgart, darunter die des großen Motorenwerks von Daimler, streikten und erhoben ähnliche Forderungen, angeführt von Sozialisten mit Ansichten, die Eisners ähnelten. Matrosen organisierten einen Aufstand in Frankfurt am Main. In Kassel revoltierte die gesamte Garnison einschließlich des Kommandanten, jedoch völlig gewaltlos.

Es gab ein paar Schüsse in Köln, als die 45000-köpfige Garnison zu den Roten überging, aber schnell setzte wieder Ruhe ein. Ein ziviler Aufstand in Hannover gelang, obwohl Behörden den Truppen befohlen, Gewalt anzuwenden; die Soldaten schlossen sich den Rebellen an. Das gleiche geschah in Düsseldorf, Leipzig und Magdeburg. In ganz Deutschland brach eine Regierung nach der anderen brach zusammen, als Arbeiter- und Soldatenräte die Kontrolle übernahmen. [Toland, p. 72]

Truppenansammlungen auch in den Straßen Nürnbergs während der Novemberrevolution 1918

Schließlich wandten sich die Augen der Nation nach Berlin, in der Erwartung, dass der Erfolg oder Misserfolg einer deutschen sozialistischen Republik dort entschieden werden würde. Anders als in Russland, wo Menschewiki und Bolschewiki sich über die Frage von Reform oder Revolution schon weit vor dem Krieg aufgespalten hatten, hatten sich die deutschen Sozialisten nicht vor 1917 getrennt, als sich der revolutionäre Flügel als USPD etablierte. Doch selbst zusammen mit ihren Gesinnungsgenossen vom Spartakusbund vertraten sie wohl weniger als zehn Prozent des sozialistischen Spektrums, aber ihre schrille Propaganda schien eine Spaltung der sozialistischen Regierung in Berlin anzukündigen. Potenziell schlimmer für die Radikalen waren die für den 19. Januar geplanten landesweiten Wahlen zu einer neuen Nationalversammlung, die den Frauen der Nation zum ersten Mal das volle Wahlrecht gaben – der revolutionäre Flügel hatte keine Illusionen über das mögliche Ergebnis. Nein – wenn sie die Macht erlangen wollten, blieb nur ein Staatsstreich.

“Vorwärts” vom 9. November 1918

Aber so weit waren die Dinge noch nicht geraten. In diesen Tagen des Novembers und Dezembers interessierten sich weitaus die meisten Arbeiter, Soldaten und Matrosen weniger für dogmatischen Streit als für ein Ende des Krieges und des Hungers; sie erwarteten die Wiedervereinigung mit Familien und Angehörigen und mussten Arbeit finden. Da die bisherige Reichsregierung zusammengebrochen war, war Selbsthilfe das Motto des Augenblicks, und so kam es, dass …

… Berlin in einem Zustand der Verwirrung verharrte … verschiedene Gruppen beanspruchten die Regierungsgewalt: der Rat der Volksbeauftragten unter Friedrich Ebert im Kanzleramt (die von den Alliierten anerkannte Regierung), der Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte im Reichstag, die Berliner Arbeiter- und Soldatenräte im preußischen Landtag, Emil Eichhorn (USPD) als selbst ernannter Polizeikommissar von Berlin mit seinem 3.000 Mann starken aber unwilligen (weil kaisertreuem) “Sicherheitsdienst” im Polizeipräsidium am Alexanderplatz, die „Revolutionären Obleute“ und natürlich die alternative spartakistische Regierung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Königspalast, die von einer freiwilligen Truppe von rund 2.000 roten Matrosen unterstützt wurde, die in den königlichen Stallungen kaserniert war und sich selbst als die Volksmarinedivision bezeichnete.

Es gab tägliche Straßendemonstrationen, Massenversammlungen und vereinzelte Schießereien, und praktisch jeden Tag bis Weihnachten marschierte jeweils eine andere aus dem Krieg heimkehrende  Division der regulären Armee durch das Brandenburger Tor und Unter den Linden hinauf, bevor sie sich in der Menge auflöste. [Anthony Read, The World on Fire, Norton Books 2008, ISBN 978-0-393-06124-6, p. 47]

Revolution am Brandenburger Tor

Unabhängig von der politischen Ungewissheit der Zeit setzte die Mehrheit dieser Gremien diejenigen sozialistischen Bestrebungen um, die sie vergeblich von den deutschen Fürsten gefordert hatten. Der Arbeitstag wurde auf acht Stunden begrenzt, die Gewerkschaften erhielten uneingeschränkte Organisations- und Verhandlungsrechte, es wurde eine Arbeitsunfallversicherung eingeführt, die Altersvorsorge erweitert, Kranken- und Arbeitslosenversicherungsprämien entweder gesenkt oder die Leistungen erhöht. Viele dieser Programme befanden sich noch im Entwicklungsstadium, wurden jedoch zu Sprungbrettern proletarischer Emanzipation. Politische Gefangene wurden freigelassen und die Zensur von Presse und Theater aufgehoben. Entgegen der Warnungen kapitalistischer Cassandras, von denen es etliche gab, stellte sich heraus, dass all dies bezahlt werden konnte, sobald eine gewisse Normalität eingeführt war; das heißt, dass die vorgeschriebenen Steuern auch kassiert und die Steuervergünstigungen der Junker und des Adels aufgehoben wurden. Die deutsche Sozialgesetzgebung wurde das Vorbild für Arbeiter weltweit.

Hitler gestand später, dass er diese sozialen Reformen respektierte, die er auf lange Sicht für unvermeidlich hielt, und einige seiner folgenden Aussagen hinterlassen den starken Verdacht, dass er in diesen Tagen einiges Mitgefühl mit den Sozialdemokraten hatte. “Wofür ich den Sozialdemokraten dankbar bin“, sagte er, “ist, dass sie diese Interessen von Hof und Adel entmachtet haben.” [Anton Joachimsthaler, Korrektur einer Biographie, Langen Müller 1989, ISBN 3-7766-1575-3 p. 181]

Die manchmal wirren, aber weitgehend harmlosen Entwürfe der verschiedenen zukünftigen sozialistischen Regierungen und ihrer Ausschüsse und Räte konnten jedoch nur gedeihen, solange echte revolutionäre Gruppen in Schach gehalten werden konnten. Ebert verstand, dass die Exekutivgewalt seiner Regierung ohne bewaffnete Unterstützung fragwürdig blieb, und er kannte seine ehemaligen Kameraden, die zu den Spartakisten gewechselt waren, gut genug um nicht zu glauben, dass sie die revolutionäre Option aufgeben würden – da sie ja nicht hoffen konnten, die Wahl zu gewinnen. Aber sie hatten Gewehre und wenn sie einen Staatsstreich gegen unbewaffnete Gegner versuchten, wer könnte sie aufhalten? Die einzige offensichtliche Alternative war, die Unterstützung der regulären Armee zu erlangen.

Die Sozialdemokraten hatten immer kritischen Abstand zum Militär bewahrt, welches ja oft genug zur Unterdrückung eingesetzt worden war. Nun, da der Krieg verloren gegangen war, anstatt mit dem erwarteten Triumph zu enden, konnte nicht erwartet werden, dass sich die Stimmung der Armee verbessert oder ihre Sympathie für Sozialisten vergrößert habe. Am 10. Dezember kamen die ersten zurückkehrenden Einheiten der Armee in Berlin an; von Ebert begrüßt, der die schwierige Aufgabe hatte, den Soldaten die zwischenzeitlich eingetretenen Veränderungen zu erklären. Die Demobilisierung in Berlin war die gleiche ungeordnete Angelegenheit wie überall sonst, vielleicht schlampiger: Viele Soldaten “vergaßen”, ihre Waffen abzugeben, manche Einheiten vergaßen sogar, ihre Maschinengewehre auszuhändigen – oder sogar ihre Kanonen – oder behaupteten, sie seien auf der Durchreise verloren gegangen. An Waffen fehlte es nirgendwo in der neuen Republik, aber das Angebot in der Hauptstadt war bei weitem das reichste und die Spartakisten hatten große Vorräte angesammelt: Ebert war waffentechnisch unterlegen.

Barrikade an der Friedrichstraße

Am zweiten Tag seiner Kanzlerschaft, am 10. November, erhielt er auf direktem Wege einen Anruf aus dem Generalstabsgebäude. Sein Gesprächspartner war Wilhelm Groener, der neue Generalquartiermeister und Nachfolger von Ludendorff: de facto das militärische Oberhaupt der nur einen Tag alten Republik. Der General wusste genau, worum es ging, und bot Ebert an, dass sich “die Armee seinem Regime zur Verfügung stellen würde, als Gegenleistung für die Unterstützung des Feldmarschalls [Hindenburg] und des Offizierskorps durch das Regime und die Wiederherstellung von Ordnung und Disziplin in der Armee.“ (Read, S. 43) Im bürgerlichen Sprachgebrauch bedeutete dies, dass die Armee Ebert und die Republik – völlig unerwartet – unterstützen würde; um den Preis, die Armee in der preußischen Tradition außerhalb der Politik zu halten und sie sich selbst verwalten zu lassen. Es gab noch eine weitere Bedingung: “Das Offizierskorps fordert vom Regime eine Schlacht gegen den Bolschewismus und ist zu dieser Verpflichtung bereit.” (Read, S. 43)

Ebert befand sich in der Zwickmühle zwischen der spartakistischen Linken und der reaktionären militärischen Rechten – wie Odysseus zwischen Scylla und Charybdis. Am Ende stimmte er Groener zu, vielleicht ein wenig hinters Licht geführt durch einen schlauen Trick des Generals, der seinen eigenen Plan hatte, um mit den Räten fertig zu werden. Groener wusste, dass von der Front zurückkehrende, loyale Truppen und Offiziere ab der zweiten Dezemberwoche eintreffen würden, und deshalb musste er die Ratsherrschaft nur etwa einen Monat überleben. Sein Plan sah also vor, den Räten gerade so viel Freiraum zu geben, um sich selbst aufzuhängen. Er ordnete jeder Einheit an, einen Rat wählen: jeder Zug, jede Kompanie, jedes Bataillon, Regiment und so weiter, ein Verfahren, das ein sofortiges Chaos verursachte, welches Groener die nötige Zeit verschaffte. Bald würde der Großteil der Armee zurückkehren und während die meisten Einheiten sich von selbst demobilisieren würden, würden manche das nicht tun. Groener wusste, dass manche Männer nicht in das bürgerliche Leben zurückkehren konnten, denn die Erfahrung des Krieges hatte ihre Seelen für immer deformiert. Solche Männer bildeten die “Freikorps“.

Vor dem Krieg hatten die kaiserlichen Wehrbehörden vorzugsweise Bauernjungen eingezogen, da sie weniger von Sozialismus durchdrungen waren als die Söhne der städtischen Arbeiter. Daher repräsentierten die Wehrpflichtigen im Gegensatz zu den eher städtischen Hintergründen vieler Unteroffiziere und Regimentsoffiziere hauptsächlich das pastorale Element der deutschen Gesellschaft. Die Städter dagegen waren im Großen und Ganzen bürgerlich oder kleinbürgerlich geprägt, besser ausgebildet und hoffnungslos romantisch. Sie bildeten das Reservoir, aus dem die Freikorps ihre Wölfe bezogen.

Das plötzliche Ende des Krieges löste bei ihnen Entzugserscheinungen aus – das zivile Leben wirkte trostlos, matt und trivial. Darüber hinaus hatte nichts diese zutiefst romantische und leidenschaftlich patriotische Bruderschaft darauf vorbereitet, das Vaterland in der Gefahr einer bolschewistischen Revolution vorzufinden. Sie waren zu ewigen Kriegern geworden, auf der Suche nach einer Pflicht, die sie erfüllen konnten, und keine Aufgabe konnte glorreicher oder wichtiger sein, als diese so seltsam veränderte Heimat von einem kommunistischen Abgrund zu bewahren.

Die Freikorps von 1918 und 1919 waren … freibeuterische Privatarmeen erbitterter ehemaliger Militärs, hauptsächlich zusammengesetzt aus ehemaligen Offizieren und Unteroffizieren, die sich ihrer Auflösung widersetzten, und entschlossen waren, militärische Disziplin und Organisation angesichts der “Unordnung” der Soldatenräte aufrechtzuerhalten. Eingebettet in die harten Traditionen der preußischen Armee, waren sie außerordentlich nationalistisch und gewalttätig antibolschewistisch.

Ihre Bildung war zwar nicht von Groener initiiert, aber ermutigt worden, sowohl als Mittel, um den Ethos des Offizierskorps in diesen unsicheren Zeiten am Leben zu erhalten, als auch um robuste, trainierte Einheiten loyaler Truppen zu schaffen, auf die man sich verlassen konnte die revolutionären Kräfte linker Truppen zu bekämpfen. Ihre genaue Beziehung zur Armee wurde absichtlich vage belassen, aber sie wurden von ihr mit Maschinengewehren, Mörsern und sogar Kanonen wie auch mit Gewehren und Pistolen ausgestattet, und es besteht kaum Zweifel, dass ihre Bezahlung aus Armeemitteln stammte. Viele ihrer Kommandeure waren Offiziere im Regeldienst.

Die erste Aufgabe der Freikorps bestand darin, Deutschlands Ostgrenzen zu den neuen baltischen Staaten und dem neuen unabhängigen und zutiefst feindseligen Polen zu sichern, das nach Jahrhunderten deutscher, russischer und österreichischer Unterdrückung voraussichtlich versuchen würde, so viel Territorium wie möglich für sich zu erobern.

Der Schutz gegen den sich aus dem Osten ausbreitenden Bolschewismus war in diesem Bereich eine sekundäre aber dennoch reale Überlegung, vor allem als Russland 1919 gegen Polen in den Krieg zog. In Berlin und dem übrigen Deutschland war der Kampf gegen dem Bolschewismus in all seinen Formen jedoch die eigentliche, selbsterklärte Daseinsberechtigung der Freikorps. [Read, S. 45 – 46]

Groener hatte bei seinem Deal mit Ebert empfohlen, die politische Überwachung der Streitkräfte dem ehemaligen SPD-Abgeordneten Gustav Noske zu übertragen, dem Mann, der während des Matrosenaufstandes in Kiel gezeigt hatte, dass er mit einem Mob fertig werden konnte. Es war höchste Zeit, Truppen zu organisieren, die dem Ebert’schen Rat der Volkskommissare gegenüber loyal waren, denn die Spartakisten mobilisierten bereits ihre eigenen Truppen in Erwartung der ersten Sitzung des Reichsrätekongresses der Arbeiter- und Soldatenräte. Dieses Gremium, dem Vertreter aus allen Teilen des Landes angehörten, sollte sich ab Montag, dem 16. Dezember, im Gebäude des preußischen Abgeordnetenhauses treffen. Zur Unterstützung der mit Sicherheit erwarteten sozialistischen Revolution organisierten Liebknecht und Luxemburg jede Menge Demonstrationen am selben Tag auf dem Platz vor dem Gebäude und als dies die Delegierten (in denen die Revolutionäre deutlich in der Minderheit waren) nicht sonderlich beeindruckte, schickte er drei Tage später ein Sturmkommando mit der Anweisung, das Gebäude zu besetzen und die Abgeordneten als Geiseln zu nehmen; ein Plan, der gerade noch von einer lokalen Wachtruppe Noskes vereitelt wurde.

Die Beschlüsse des Kongresses, der möglichst bald Ordnung schaffen wollte, enttäuschten die radikale Linke sehr; denn nicht nur weigerten sich die Delegierten, “alle Macht den Sowjets” zu übertragen, wie es die Spartakisten forderten, sondern bestätigten auch die Legitimität der Regierung von Ebert und beschlossen, die Ratsherrschaft langsam abzubauen, um alle weiteren Legislative- und Exekutivbefugnisse der neuen Nationalversammlung zu übertragen, deren Wahl für den 19. Januar 1919, vier Wochen in der Zukunft, festgelegt wurde. [Read, S. 47]

Diese Rückschläge setzten den Spartakisten zumindest einen Stichtag, denn sie mussten wenn, dann vor dem Wahltag die Macht ergreifen – die Wahl gewinnen konnten sie nicht. Am 23. Dezember stürmte die Volksmarinedivision, unter dem Vorwand, sich einen Weihnachtsbonus sichern zu wollen, das Arsenal (das militärische Hauptquartier) und das Kanzleramt, wo sie das Kabinett verhafteten. In dieser Situation „entschied Ebert, dass es an der Zeit war, Groeners Versprechen einzufordern.“ [Read, S. 48]

Das Hauptquartier der Armee in Potsdam schickte, wie vereinbart, ein Bataillon Truppen, und am Morgen des 24. Dezember entwickelte sich eine seltsame Mischung aus militärischem Kampf und Propagandawettbewerben um den Königspalast und die Ställe herum. Die Kämpfe waren hart, aber nur sporadisch und häufig unterbrochen durch Verhandlungen oder von Liebknechts revolutionäre Ermunterungen, die sich an die Tausende von Zuschauern richteten, die, nachdem sie ein bisschen das Gemenge beobachtet hatten, zum Weihnachtsmarkt oder zum nahegelegenen Einkaufsviertel weitergingen, wo das Geschäft wie üblich lief. Es war vielleicht dieser Mangel an Aufmerksamkeit, der dazu führte, dass die Schlacht am frühen Nachmittag durch das Verschwinden der Truppen beider Seiten in den Weihnachtsmassen endete. Ein wütender Groener entschied jedoch, dass er beim nächsten Mal verlässlichere Truppen brauchte, und benachrichtigte die Anführer der aufstrebenden Freikorps. [Read, S. 48]

Der Weihnachtstag brachte die regelmäßige Demonstration der Spartakisten, deren Aktivisten das Gebäude besetzten, in dem die SPD-eigene Zeitung „Vorwärts“ gedruckt wurde, und ihre eigene Weihnachtsausgabe erstellten – natürlich auf rotem Papier. Nach dem Eintreffen der Polizei und der Vertreibung der Besatzer gab die Zeitung alle sozialistische Solidarität auf, die sie bis zu diesem Tag gezeigt hatte, und orientierte sich ab jetzt entschlossen anti-spartakistisch.

Davon unbeeindruckt beendete Liebknecht das Jahr mit einer Einladung von rund hundert Spartakisten zu einer am 29. Dezember beginnenden Konferenz im Festsaal des preußischen Abgeordnetenhauses. Nach zwei Tagen voll zänkischer Auseinandersetzungen stimmten sie für einen vollständigen Bruch mit der Sozialdemokratie und dafür, sich eindeutig an Sowjetrussland auszurichten, indem sie sich in Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) umbenannten.

Unter den Gästen befand sich auch Karl Radek, der nach Deutschland geschmuggelt worden war, um den Bürgerkrieg zu schüren, der ein so wesentlicher Bestandteil einer bolschewistischen Revolution war. In einer langen Rede bestritt er, dass das Regime in Russland ein Terrorregime sei, und behauptete, der Bürgerkrieg sei nicht so schlimm, wie manchmal gedacht wurde: ein ganzes Jahr Bürgerkrieg in Russland habe weniger Menschen getötet und weniger Eigentum zerstört als ein einzelner Tag des internationalen (kapitalistischen) Krieges.

Was wir jetzt in Russland in die Tat umsetzen“, erklärte er, “ist nichts anderes als die große, unverfälschte Lehre des deutschen Kommunismus. Einst wird der Rat der Volkskommissare Europas in Berlin tagen. Spartakus wird siegen. Er ist dazu bestimmt, die Macht in Deutschland zu ergreifen.“ Liebknecht antwortete begeistert mit einem Aufruf zu den Waffen:„ Wir wollen keine Limonadenrevolution. Wir müssen die Internationalisierung des Bürgerkriegs beschleunigen.“ [Read, S.49]

Die Spione Groeners und Eberts berichteten ihren Meistern umgehend über die Ergebnisse und über den Jahreswechsel bereiteten sich beide Seiten auf den großen Zusammenprall vor, den sie noch vor dem Wahltag am 19. Januar erwarteten.

Die anhaltende Feindschaft zwischen sozialdemokratischen, d.h. reformistischen und kommunistischen Parteien auf der ganzen Welt in den siebzig Jahren zwischen 1919 und 1989, war das Resultat dieser Spaltungen in Berlin 1918 und den Ereignissen, die kurz danach folgten. Von 1914 bis 1918 hatte die SPD das Ancien Régime unterstützt, mit Ausnahme von Liebknecht, indem sie Wilhelms Kriegskredite im Reichstag genehmigten, während sich eine außerparlamentarische Oppositionsbewegung von Pazifisten in der Mutterpartei formte, wuchs und sich schließlich 1917 lossagte. Dieser Ableger, die USPD, appellierte an die internationale Solidarität der Arbeiterklasse, die Krieg unmöglich machen konnte, wenn sie sich weigerte, Rüstungsgüter herzustellen, und sie war die einzige politische Fraktion in Deutschland, die sich öffentlich gegen den Krieg aussprach.

Sie beschuldigten die Moderaten des Verrats; dass sie durch kapitalistische Interessen korrumpiert worden waren und als Ebert die reaktionären Freikorps zu Hilfe rief, wurde er des Brudermordes angeklagt und des Verrats am Erbe von Karl Marx und Friedrich Engels. Von diesem Tag an betrachteten kommunistische Parteien die Sozialdemokraten als ihren schlimmsten Feind: während der Widerstand der Kapitalisten zu erwarten war und verstanden werden konnte, hatte das Gift der Mäßigung die Solidarität der Bruderschaft der Arbeiter zerstört. In Erinnerung an die Praktiken der Jakobiner konnte es für die  Verräter an der Revolution keine Gnade geben.

Währenddessen festigte die Regierung der Bayerischen Sozialistischen Republik ihre lokale Macht und begann, die bayerische Nachkriegsökonomie zu organisieren. Es war vielleicht die größte Überraschung für Ministerpräsident Eisner, dass die reguläre bayerische Armee ohne großen Aufstand kooperierte; während das Militär das Chaos der Räteherrschaft offensichtlich ablehnte, erkannte die Truppe, dass Ordnung die Forderung des Tages war, und der ranghöchste Offizier, General Max Freiherr von Speidel, appellierte an die Truppen, “dem Volksstaat zu dienen.” (Joachimsthaler, S. 183) Am 13. November traf König Ludwigs schriftliche Abdankungserklärung im Rat ein und am selben Tag wurde Albert Rosshaupter (SPD) als erster ziviler Verteidigungsminister in der Geschichte des Landes vereidigt.

Die Bavaria auf der Theresienwiese

So entwickelte sich die bayerische Sowjetrepublik weit weniger revolutionär, als sie begonnen hatte. Zu einem gewissen Grad sah sich Eisners Regierung nur als provisorische Verwaltung an und verzögerte entscheidende Reformen für die Zeit nach den Wahlen vom 12. Januar, durch die sie hofften, eine parlamentarische Mehrheit und damit ein unstrittiges Mandat für die Schaffung eines echten sozialistischen Staates zu bekommen. In seiner öffentlichen Ansprache vom 15. Dezember konnte Eisner revolutionäre Rhetorik weitgehend vermeiden und die wesentliche Forderung nach Sozialisierung der Industrie wurde auf später verschoben. Zwar wurde die Arbeitslosenhilfe verbessert und der achtstündige Arbeitstag eingeführt, aber es wurde nichts unternommen, um die Angestellten und Funktionäre des Staates zu ersetzen, die das Land weiterhin auf altmodische, monarchistische Weise verwalteten. Noch wurde die Wirtschaft reformiert: Industrie, Banken und Versicherungen funktionierten weiter wie gewohnt. Die einzige bemerkenswerte Änderung war die Säkularisierung der Schulen durch die Abschaffung der Aufsichtsrechte der katholischen Kirche.

In einem waren sich alle Münchner einig …

Die Wahl endete in einer Katastrophe für die radikalen Sozialisten. Gewinner wurden die Bayerische Volkspartei, die Nachfolgerin der katholischen Zentrumspartei (BVP, 35 %, 66 Sitze) und die SPD (33 %, 61 Sitze). Ergebnisse mehr oder weniger im erwarteten Bereich erzielten die Liberalen der DVP (DPP in der Pfalz) mit 14 % und 25 Sitzen und die rechte Deutsche Volkspartei [DNVP, als Mittelpartei in der Pfalz] mit 6 % der Stimmen und 9 Sitzen.

Die Verlierer waren die Parteien der Revolution. Der bayerische Bauernbund, der den Sozialrevolutionären Russlands ähnelte, erhielt 9 % der Stimmen und 16 Sitze, aber die Ergebnisse der USPD waren erbärmlich: nur 2,5 % und drei Sitze. Eisner war jedoch nicht leicht zu überzeugen, seine Regierungsverantwortung aufzugeben, da er, wie er sagte, immer noch Präsident des Soldaten-, Arbeiter- und Bauernrates war, den er als die wahre Regierung des sozialistischen Bayern betrachtete. Leider hatte er seine Popularität in den letzten Wochen nicht gerade gesteigert.

Hauptbahnhof mit Vorplatz, ca. 1905

Jeder hatte einen Grund, ihn zu hassen – man sagte, er sei ein galizischer Jude, ein Berliner, ein Kaffeehaus-Intellektueller, ein linker Sozialist, ein Verräter des wahren Sozialismus, zu radikal, nicht radikal genug, er war ineffektiv oder inkompetent –  die Liste schien endlos. Vor allem wurde er für den Zusammenbruch der Wirtschaft verantwortlich gemacht – Bayern war so gut wie bankrott und litt, wie viele andere Orte auch, an einem riesigen Arbeitsplatzverlust, da die Munitionsproduktion eingestellt worden war und die Soldaten auf der Straße standen. Trotzdem hatte Eisner die Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe erheblich erhöht.

Als er an der ersten Nachkriegskonferenz der Zweiten Sozialistischen Internationale in Bern teilnahm, gelang es Eisner schließlich, praktisch jeden in Bayern zu verärgern. Als einziger amtierender Regierungschef wurde er mit großem Respekt und mit einiger Ehrfurcht behandelt, vor allem, als er die deutsche Verantwortung für den Ersten Weltkrieg öffentlich anerkannte und Wilhelm Hohenzollern, den früheren Kaiser, als den Mann benannte, der am meisten an dem viereinhalb Jahre lang dauernden Blutbad schuld war. Er kritisierte ruhig und bestimmt alle Aspekte des Preußentums, verurteilte die harte Behandlung Deutschlands von französischen Zivilisten und alliierten Kriegsgefangenen, und appellierte an deutsche Gefangene, beim Wiederaufbau der verwüsteten Regionen Frankreichs und Belgiens mitzuhelfen. All das wurde zwar von den Genossen in Bern gut aufgenommen, aber in München galt es als Verrat und er wurde als Verräter dargestellt. [Read, S. 113 – 114]

In Bayern weitete sich die Spaltung zwischen Revolutionären und Reformern aus, und SPD-Chef Erhard Auer nutzte seine Autorität als Eisners Stellvertreter und des Chefs Abwesenheit, um den bayerischen Landtag zu einer konstituierende Sitzung für den 21. Februar 1919 einzuberufen, in der eine neue Regierung mit parlamentarischer Mehrheit gewählt werden sollte.

In Erwartung einer Gegenreaktion des radikalen Flügels hatte Auer Max Levien, den Vorsitzenden der KPD in Schwabing, verhaften lassen und Verteidigungsminister Albert Roßhaupter aufgefordert, alles zu tun, um eine quasi-militärische Heimatverteidigung zu bilden, die der künftigen Regierung treu ergeben sein sollte – erwartet wurde die eine oder andere Koalition der SPD mit den Katholiken und Liberalen, welche leicht die Unterstützung von 70 % oder mehr der Landtagsabgeordneten genießen würde.

Die Linke schlug am 15. Februar mit der Ad-hoc-Gründung des “Revolutionären Arbeiterrates” zurück, einem exzentrischen Gremium aus den radikalsten Mitgliedern von USPD, Spartakisten und Bolschewiki unter der Führung der Anarchisten Gustav Landauer und Erich Mühsam. Die erste Resolution der ehrenwerten Körperschaft rief für den nächsten Tag zu einer Massendemonstration von Arbeitern und Soldaten auf der Theresienwiese auf und es ist ziemlich wahrscheinlich, dass der Gefreite Adolf Hitler an diesem Tag in den Reihen der Sozialisten mitmarschierte. Die Order des Tages für sein 2. Infanterieregiment lautete:

Morgen, am 16. Februar 1919, findet eine Demonstration der gesamten Arbeiterschaft und aller Einheiten der Garnison statt. Das Regiment, einschließlich des Demobilisierungsbataillons, wird um 12.15 Uhr auf dem Kasernenplatz des 1. Bataillons auf dem Oberwiesenfeld antreten. Die Soldatenräte werden die Truppen kontrollieren, um Disziplin und Ordnung zu gewährleisten. Die Kompaniekommandeure werden sicherstellen, dass das gesamte dienstfreie Personal an der Versammlung teilnimmt.“ [Joachimsthaler, p. 197 – 198]

Pro-Eisner Demonstration am 16. Februar 1919

So marschierten am 16. Februar gegen Mittag etwa 10.000 Demonstranten durch die Straßen Münchens. Eisner (zurück aus Bern), Mühsam und Levien, der aus dem Gefängnis entlassen worden war, wandten sich an die Öffentlichkeit mit der Forderung, eine Sowjetrepublik, also Räterepublik, zu gründen. Es stellte sich heraus, dass nur wenige Münchner diesen Wunsch teilten, aber nur drei Tage später gab Eisner eine trotzige Geste ab. In der nächsten (und letzten) Sitzung des Bayerischen Rätekongresses forderte er die zweite Revolution.

Die zweite Revolution wird sich nicht in Plünderungen und Straßenkämpfen ergehen. Die neue Revolution wird eine Zusammenkunft der Massen aus Stadt und Land werden, um das zu vollenden, was die erste Revolution begonnen hat. … Die bürgerliche Mehrheit hat nun die Chance, bürgerliche Politik umzusetzen. Wir werden sehen, ob sie zur Regierung fähig sind. In der Zwischenzeit sollten die Räte ihre eigene Aufgabe erfüllen: die neue Demokratie aufzubauen. Dann wird vielleicht auch der neue Geist in Bayern ankommen. Morgen beginnt der Landtag – morgen sollten auch die Aktivitäten der Räte neu beginnen. Dann werden wir sehen, was die Kraft und Vitalität einer durch den Tod geweihten Gemeinschaft ausrichten kann.“ [Read, S. 115]

Eisner sicherte sich dann eine Erklärung der Versammlung zu, dass sie sich nicht auflösen oder ihre Autorität auf andere Weise abgeben würden, es sei denn, die künftige bayerische Verfassung hätte ihre Vorrechte ausdrücklich anerkannt. Dies war ein offensichtlicher Versuch, die Bildung der parlamentarischen Regierung zu blockieren, die der Landtag am nächsten Tag konstituieren sollte. Wegen seiner kryptischen Andeutungen bezüglich einer zweiten Revolution forderte das Kabinett später Eisners Rücktritt.

Die größten Schwierigkeiten hatte Eisner bei der Sicherstellung der fundamentalen Dienstleistungen und der Zusammenarbeit mit dem Land, insbesondere der regelmäßigen Versorgung mit Lebensmitteln. Er wurde von Mitgliedern seines eigenen Kabinetts wegen organisatorischer Mängel kritisiert – einer seiner Minister sagte zu ihm: “Sie sind ein Anarchist … Sie sind kein Staatsmann, Sie sind ein Dummkopf … Wir werden durch schlechtes Management ruiniert.” [Richard J. Evans, The Coming of the Third Reich, Penguin, New York, 2003, ISBN 0-14-303469-3, S. 158 ff.]

Nachdem Kurt Eisner klar wurde, dass er die Unterstützung des Parlaments verloren hatte, verfasste  er am Morgen des 21. Februar in seinem Büro eine Rücktrittserklärung und eine kurze begleitende Rede und ging zu Fuß Richtung Landtag, um dort seine Botschaft anlässlich der Eröffnungssitzung zu überbringen. Er entließ seine Adjutanten und die beiden bewaffneten Leibwächter und machte sich alleine auf den Weg.

Auf dem Weg zum Rücktritt

Typisch für ihn weigerte er sich, einen anderen Weg als seinen normalen zu gehen, und wies die Bedenken seiner Helfer wegen seiner Sicherheit mit einem Witz ab: “Sie können mich nur einmal totschießen.” Als er um eine Ecke in die Promenadenstraße bog, lief hinter ihm ein junger Mann in einem Trenchcoat hoch, zog eine Pistole heraus und schoss ihn aus nächster Nähe in Kopf und Rücken. Der erste Schuss zerschmetterte seinen Schädel, der zweite durchbohrte eine Lunge. Er fiel tot zu Boden, inmitten einer sich ausbreitenden Blutlache.

Der Attentäter war Graf Anton von Arco auf Valley, ein kleiner Aristokrat, der während des Krieges als Leutnant der bayerischen Kavallerie gedient hatte und der, wie die meisten zurückkehrenden Offiziere, die Erniedrigung erlitten hatte, dass Revolutionäre auf der Straße die Rangabzeichen von seiner Uniform gerissen hatten. Sein genauer Grund, Eisner zu töten, wurde nie klar: Er war voller Verbitterung, weil seine Mitgliedschaft in der ultrarechten Thule-Gesellschaft abgelehnt wurde, weil seine Mutter Jüdin war, seine Freundin ihn als Schwächling verhöhnt hatte und er die Revolution hasste. Warum er Eisner jedoch genau in dem Moment, in dem er zurücktreten wollte, hätte töten wollen, bleibt ein Rätsel. [Read, p. 115 – 116] (In den letzten Jahren wurden Hinweise darauf gefunden, dass möglicherweise eine Verschwörung am Werk war, siehe den deutschen Wiki-Eintrag.)

Das war nur der Anfang des Chaos. Arco wurde niedergeschossen, aber durch eine heroische Operation, ausgeführt von Professor Ferdinand Sauerbruch, dem zu dieser Zeit bedeutendsten Chirurgen der Welt, gerettet. Als die Nachricht den Landtag während seiner Eröffnungssitzung erreichte, wurde diese vertagt, und Erhard Auer, Leiter der bayerischen SPD, dessen einstige Freundschaft mit Eisner Jahrzehnte zurückging, begann eine improvisierte Laudatio. Er hatte nicht mehr als fünf Minuten gesprochen, als ein Mitglied des bereits oben genannten Revolutionären Arbeiterrates, der Metzger Alois Lindner, in das Plenum einbrach, ein Gewehr, das er unter seinem Mantel versteckt hatte, herausholte und Auer aus aller Nähe in die Brust schoss. Dann eröffnete er das Feuer auf die Delegierten der BVP und entkam ungehindert, nachdem er einen Wachmann, der ihn zu entwaffnen suchte, ebenfalls erschossen hatte. Er wurde von einem zweiten Schützen in der Galerie ersetzt, der auf die gleichen Abgeordneten zielte, einen Menschen tötete und ein paar andere verletzte. Die Aufregung war groß und ein Hauch von Südamerika hing über dem ehrwürdigen Gebäude des Landtags. [Read, p. 116]

Eisner – nur wenige Stunden vor seinem Tod noch äußerst unbeliebt – wurde sofort als Heiliger der Sozialisten kanonisiert und da der Landtag im Moment ausgeschaltet war, übernahmen die Räte rasch Legislative und Exekutive, verhängten das Kriegsrecht und erklärten einen dreitägigen Generalstreik, der – wie Anthony Read feststellte – „zweckmäßigerweise genau über das Wochenende fiel“, (40) sowie eine Ausgangssperre ab 19 Uhr. Am darauffolgenden Morgen wählte eine schnell einberufene Ratssitzung einen neuen obersten Ausschuss, den „Zentralrat“. Seine elf Mitglieder repräsentierten eine bunte Mischung verschiedener sozialistischer Überzeugungen, von reformistisch bis hin zu revolutionär. Er besaß auch ländliche, nicht nur städtische Vertreter, und sollte nicht nur München, sondern ganz Bayern regieren. Der Vorsitz der Kommission und damit das Amt des quasi-Ministerpräsidenten fiel dem 28-jährigen Lehrer Ernst Niekisch zu, der, als linkes SPD-Mitglied, ein guter Kompromisskandidat für die Position war.

Niekisch bemühte sich um Unterstützung, indem er an die sozialistische Einheit appellierte und die Einberufung eines Kongresses der Bayerischen Räte forderte, der die zukünftige Form der Regierung entscheiden sollte: entweder parlamentarisch oder durch Räte, d.h.  als eine Sowjetrepublik. Dieser Kongress wurde am 25. Februar eröffnet, musste sich aber schon am nächsten Tag anlässlich des Begräbnisses von Kurt Eisner unverrichteter Dinge vertagen.

Die Trauerfeier für den am 21.2.1919 von Graf Arco ermordeten Bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner gestaltete sich zu einer gewaltigen Demonstration der Münchener Arbeiterschaft.

Was auch immer die Münchner über den lebenden Eisner gedacht hatten, sein Begräbnis zog 100.000 Trauergäste an, die dem Sarg folgten, als dieser in einer ehemaligen königlichen Kutsche feierlich durch die Straßen der Stadt gefahren wurde. Am nächsten Tag nutzte die radikale Linke das öffentliche Interesse an Eisner, um den Kongress dazu aufzurufen, die „Zweite Revolution“ zu erklären und die Gründung einer Sowjetrepublik anzukündigen. Als der Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt wurde, verließen Spartakisten, USPD und Anarchisten den Zentralrat, um ihre segensreichen politischen Veränderungen alleine vorzubereiten. Seiner Führung beraubt, zerstreute sich der Kongress und ein paar Wochen lang beruhigte sich Bayern nach so viel Unruhe.

Die Erinnerung an Kurt Eisner lebt jedoch in dem von ihm gegründeten Freistaat weiter – drei Denkmäler für ihn befinden sich in der Münchner Innenstadt und sein Grab auf dem Ostfriedhof.

Denkmal in der Kardinal-Faulhaber-Straße, dem Ort Eisners Ermordung

Leider sollte es bald noch schlimmer kommen für München.

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Alliierte Kriegsfolklore

Moskauer Siegesfeier 1945

Obwohl seit dem Zweiten Weltkrieg fast siebzig Jahre vergangen sind, behalten Missverständnisse, Falschinformationen und Ungenauigkeiten – beabsichtigt oder nicht – weltweit eine seltsame Popularität. Norman Davies („No Simple Victory“, Penguin Books 2006 – ISBN 978-0-14-311409-3) hat über die vorsätzlichen Missverständnisse geschrieben, die die Folgen politischer Korrektheit und nationaler Mythenbildung sind – also von Propaganda. Er stellt fest:

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind über 60 Jahre vergangen. Und die meisten Leute gehen davon aus, dass die Grundzüge dieses schrecklichen Konflikts längst etabliert wären. Unzählige Bücher wurden zu diesem Thema veröffentlicht und Tausende von Filmen gezeigt, die jeden Aspekt militärischer Ereignisse und ziviler Opfer darstellen. Unzählige Memoiren von bedeutenden und weniger bedeuteten Teilnehmern wurden veröffentlicht. Hunderte von bedeutenden Monumenten und zahlreiche Museen wurden erbaut, um die Erinnerung an den Krieg lebendig zu halten. Man könnte meinen, es gäbe nichts Neues hinzuzufügen. Zumindest ist man versucht, so zu denken, bis man zu prüfen beginnt, was eigentlich gesagt wird und was nicht gesagt wird. [Hervorhebungen im Original]

Als Professor Davis die verschiedenen Galas, Feiern und Feierlichkeiten zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 2005 besuchte, hatte er Grund, sich über mysteriöse Vorkommnisse zu wundern:

… Das neue Denkmal der Vereinigten Staaten für den Zweiten Weltkrieg in Washington, DC, trug als Hauptinschrift: „Zweiter Weltkrieg 1941 – 1945“. Das Monument vergaß, den Besucher darüber informieren, dass die Vereinigten Staaten Verbündete hatten, und scheint zu dem Schluss zu kommen, dass die Vereinigten Staaten den Krieg alleine gekämpft und gewonnen haben, und das in fünf statt sieben Jahren …

… Die britischen Feiern vergaßen seltsamerweise, Delegationen aus den vielen anderen ehemaligen kolonialen Verbündeten Kanada, Südafrika, Indien, Neuseeland oder Australien einzuladen, die alle an Seite der Briten am Kriege teilgenommen hatten…

… Bei der russischen Feier auf dem Roten Platz in Moskau wurde unter anderem vergessen, zu erwähnen, dass die Sowjetunion in den sechs Jahren zwischen 1940 und 1945 die drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen nicht nur einmal, sondern zweimal angegriffen, erobert und besetzt hatte, was jedes Mal mit der Verbannung und/oder Ermordung von Landbesitzern und Intelligentsia einherging. Niemand hielt es für nötig, daran zu erinnern, dass die 1939 mit Deutschland – dem Feind – verbündete Sowjetunion nur wenige Wochen später als Deutschland in Polen und Finnland einmarschiert war –  ebensolche Aggressionskriege wie sie den Nazi-Kriegsverbrechern in Nürnberg vorgeworfen wurden …

… und dass keine dieser Feierlichkeiten an die Leiden der jüdischen und nichtjüdischen Opfer der faschistischen, nationalsozialistischen und kommunistischen Regimes erinnerte, noch an das Schicksal der Millionen, die durch den Krieg zur Flucht gezwungen oder gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben wurden  –  über zehn Millionen Deutsche, fünf Millionen Ukrainer und ungefähr ebenso viele Polen, Weißrussen und kaukasische Minderheiten. Insbesondere die Sowjetunion …

… hatte in großem Stil nationale Gruppen umgesiedelt und dabei Millionen von Menschen entwurzelt. In der unmittelbaren Vorkriegszeit hatten sie rund 500.000 Polen gewaltsam aus den westlichen Bezirken entfernt und in geschlossene Bezirke an der chinesischen Grenze in Kasachstan umgesiedelt.

In den Jahren 1939 bis 1941 fanden massive Deportationen aus allen von der UdSSR annektierten Ländern statt; mit Beginn des „Großen Vaterländischen Krieges“ begannen die strategischen Deportationen mit der Anordnung, alle Finnen aus der Nähe von Leningrad zu entfernen. Später im Jahr 1941 wurde ein langjähriger Plan (der zuerst schon 1915 zu den Akten gelegt worden war) aktiviert, die gesamte Bevölkerung der Autonomen Deutschen Republik Wolga zu deportieren. Rund 2,5 Millionen Deutsche wurden entweder in die Arbeitslager oder nach Kasachstan geschickt, um sich den dorthin verbannten Polen anzuschließen. Innerhalb eines Jahrzehnts war über die Hälfte von ihnen tot. Besonders brutal war die Zwangsabschiebung und Neuansiedlung von sieben muslimischen Völkern in den Jahren 1943/44.

Norman Davies „No Simple Victory“, Penguin Books 2006 – ISBN 978-0-14-311409-3, pbk., Seite 178

In Anbetracht dieses Phänomens selektiver Gedächtnisse verspürte Professor Davies später die Notwendigkeit, gewisse Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, bevor er in seinen Vorträgen den Krieg besprach:

Als Auftakt zu verschiedenen Vorträgen und Vorträgen über den Zweiten Weltkrieg habe ich mich deshalb oft dazu entschieden, einige dieser Probleme anzusprechen, indem ich dem Publikum vier oder fünf einfache Fragen stellte:

  1. Können Sie die fünf größten Schlachten des Krieges in Europa aufzählen? Oder, noch besser, die zehn größten Schlachten?
  2. Können Sie die vier wichtigsten politischen Ideologien mit Namen benennen, die während des Krieges in Europa um die Vorherrschaft kämpften?
  3. Können Sie mir das größte Konzentrationslager nennen, das in den Jahren 1939 bis 1945 in Europa in Betrieb war?
  4. Können Sie mir die europäische Nationalität (oder ethnische Gruppe) nennen, die während des Krieges die meisten Zivilisten verloren hat?
  5. Können Sie mir das Schiff nennen, das bei der größten Seekatastrophe des Krieges mit Rekordverlusten an Menschen versenkt wurde?

Darauf folgte in der Regel eine tödliche Stille und dann großer Trubel mit wilden Vermutungen und Fragen. Den Trubel beendend, sage ich dann meinem Publikum: “Bis wir die richtigen Antworten auf so grundlegende Tatsachenfragen gefunden haben”, sage ich, “sind wir gar nicht in der Lage, weiterführende Fragen oder Probleme zu beurteilen.”

Dass  Nationen an den Chimären vergangener Verdienste festhalten und Versagen zu vergessen neigen, ist in deren Fehlbarkeit durchaus menschlich. In derselben Liga steht die ewige Unterschätzung des Menschen, wie viel Wissen erforderlich ist, um ein Thema beurteilen kann [siehe Dunning-Kruger-Effekt). Vielleicht schafft Unwissenheit Glücksgefühle, wie in Orwells 1984. Paul Fussell, Historiker und Veteran des Zweiten Weltkriegs, der 1945 in Frankreich verwundet wurde, fand zahlreiche Gründe, den polierten Plattitüden der Sieger zu misstrauen und beobachtete bei der Darstellung vieler Gegebenheiten absichtlicher Falschdarstellungen. Die Darstellung des Zweiten Weltkrieg in den amerikanischen Medien betrachtend, fühlte er sich gezwungen zu folgern, dass “der alliierte Kriegsanteil der Jahre 1939/45 von Sentimentalisten, verrückten Patrioten, Unwissenden und Blutdürstigen bis zur Unkenntlichkeit saniert und romantisiert wurde“.

Natürlich gewinnen solche Gruppen ihre redaktionelle Freiheit aus der Tatsache, dass ihre Seite den Krieg gewonnen hat und sich somit moralischen Zweideutigkeiten leicht entziehen kann. Alle sind sich einig, dass die industrielle Tötung von Juden oder Zigeunern mit Zyanid ein Verbrechen war, das in der Geschichte fast ohne Beispiel war. Dies gilt jedoch auch für andere Erfindungen des zwanzigsten Jahrhunderts: Städtevernichtungen mit konventionellen Sprengstoffen wie etwa in Dresden oder Tokio, oder mit Atombomben wie in Hiroshima und Nagasaki. Wäre der Krieg verloren gegangen, wer hätte die moralische Ordnungsmäßigkeit solcher Ereignisse erklären können oder wollen?

Daher hier die Antworten auf die oben gestellten Fragen:

Fünf Schlachten – Verluste: [1] Operation Typhoon, die Schlacht um Moskau 1941/1942 (1.582.000) [2] Fall Blau, die Schlacht um Stalingrad 1942-1943 (973.000) [3] die Belagerung von Leningrad 1941-1944 ( 900.000) (4) Operation Barbarossa, die Offensive Juni 1941 (657.000) [5] Operation Bagration, Sowjetische Offensive 1944 (450.000)

Ideologien: Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus, Liberale Demokratie

Größtes Konzentrationslager: Vorkuta, UdSSR

Verluste nach Nation bzw. Ethnizität: Siehe unteres Diagramm

Seekatastrophe: Deutsche Schiff „Wilhelm Gustloff“, torpediert durch Russisches U-Boot im März 1945, ca. 8000 Tote

[Quellen: Davies, Id., S.25 ff.; Diagramm S.366]

Um Diskussionen vorzubeugen: Dieser Post beschreibt lediglich die alliierte Rezeption der Weltkriegsgeschichte wie von Professor Davies erlebt – Diskussionen um die Zahlen usw. sind also irrelevant.


(© und Übersetzungen – John Vincent Palatine 2015 – 2019)

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Verordnung des Kriegszustands 1914

Signiert von Wilhelm II am 31.Juli 1914

Verordnung des Kriegszustands, 31. Juli 1914
Verordnung des Kriegszustands, 31. Juli 1914

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Skagerrak – Das Grab der Schlachtkreuzer

Übersichtskarte

Video [Englisch] mit grafischer Simulation

Video (Doku, Englisch) mit Originalaufnahmen

Die Flottenprogramme des Reichs hatten erst Befremdung und anschließend die Feindschaft der englischen Admiralität nach sich gezogen und die Suche nach der passenden Antwort beschäftigte die britische Politik zwischen 1890 und 1914 konstant, an zweiter Stelle nach der irischen Frage. Großbritanniens Politik des Überlebens war es, nie eine einzelne Macht den Kontinent beherrschen zu lassen; die Kanalhäfen im Besonderen und im weiteren Sinne die Vorherrschaft der Royal Navy auf den Ozeanen durften nicht gefährdet werden. Daher war es Britannia gewohnt, immer den jeweils mächtigsten Kräften des Kontinent entgegenzutreten und Sache mit den kleineren Nationen zu machen –  „Underdogs“ zu unterstützen bedeutete auch immer exzellente politische Propaganda.

Großbritannien war eine Seemacht und die strategische Sicht ihrer Admiralität in Hinsicht auf mögliche Konflikte mit europäischen Landmächten hing von der Entwicklung des Seekriegs während der Belle Époque ab. Seit Nelsons Sieg über die Französischen und Spanischen Flotten bei Trafalgar im Jahre 1805 hatte die Royal Navy die Meere dominiert. Das British Empire, im Gegensatz zu, sagen wir, Russland, hing in Bezug auf sein wirtschaftliches und politisches Überleben von der Aufrechterhaltung der Überseeverbindungen ab: Macht über die Ozeane sorgte für billigen Transport, schützte die Handels- und Kommunikationsverbindungen und garantierte die Verteidigungsfähigkeit sowohl der Kolonien als auch der heimischen Gewässer. Dies waren die klassischen Aufgaben der Schiffe unter dem White Ensign.

Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts überzeugte eine Clique von Nationalisten, Geschichtsprofessoren und verschiedenen anderen Wahnsinnigen Kaiser Wilhelm II die „Hochseeflotte“ zu bauen, eine gigantische deutsche Armada zur See, die sich mit der Macht der Royal Navy vergleichen konnte, ja, sie zu übertreffen suchte. Da einfach kein sinnvoller strategischer Grund für das exzentrische Unternehmen existierte, konnte Großbritannien dies nicht anders als eine maritime Herausforderung interpretieren, als Beweis für feindliche Absichten. Diese war nur allzu real, wenn man des Kaisers Wilhelm Hass für seine englische Mutter, Kaiserin Victoria, bedenkt.

Das Gleichgewicht der globalen Schlachtflotten oder „Schiffe der Linie“, wie sie genannt wurden, war im Jahre 1906 von der Royal Navy durch die Präsentation des neuen Schlachtschiffs Dreadnought“ komplett auf den Kopf gestellt worden. Ihr Design machte sofort alle bisherigen Schlachtschiffe zu Alteisen. Ihre Erbauer hatten das Durcheinander aus kleinen, mittleren und großkalibrigen Geschützen, welche traditionell von Großkampfschiffen getragen worden waren,  abgeschafft, zugunsten eines einzigen Kalibers von Artillerie, und zwar des größten verfügbaren. „Dreadnoughts“ Armierung bestand aus zehn 12-Zoll [305 mm, ¶] Geschützen, in fünf Doppeltürmen.

HMS Dreadnought, 1906

Die Bedeutung des Kalibers, der Durchmesser der Bohrung des Geschützes, liegt darin, dass – bei gleichen Treibmitteln – der effektive Aktionsradius der Artillerie in erster Ordnung von seinem Kaliber abhängt; je größer das Kaliber – wenn alle anderen Dinge gleich sind – um so weiter fliegt das Projektil und damit wird der Radius größer, in dem das Schiff sein Feuer zur Wirkung bringen kann. Mit anderen Worten, die Geschosse eines 12-Zoll-Geschützes fliegen weiter als die einer 10-Zoll-Kanone, und das Schiff mit den größeren Waffen kann seine Gegner aus sicherer Entfernung versenken, ohne Gegenfeuer ausgesetzt zu sein.

Die zweite Besonderheit des revolutionären Designs der „Dreadnought“  war die Dicke und die Verteilung ihres Panzers: durch den Verzicht darauf,  unwesentliche Systeme des Schiffs zu panzern konnten die Konstrukteure in den wesentlichen Bereichen bis zu elf Zoll dicke Platten verwenden, eine Anordnung, die als „alles-oder-nichts“ Panzerung bekannt wurde. Die Nachteile dieser massiven Metallverkleidungen und der kolossalen Geschütze waren natürlich ihr enormes Gewicht und die daraus resultierende Verminderung der Geschwindigkeit.
Für moderne Großkampfschiffe waren die Dreadnoughts ziemlich langsam, ihre Höchstgeschwindigkeit lag so um die Zwanzig-Knoten-Marke. Das ganze Konzept der Dreadnought-Klasse machte sie äußerst fit für Artillerieduelle gegen andere Linienschiffe; ihre niedrige Geschwindigkeit verbannte sie jedoch von Einsätzen in der anderen Hälfte des Seekriegs, dem Kreuzer-Krieg.

Der Begriff „Kreuzer“ wurde im 18. Jahrhundert geprägt und bezeichnete ursprünglich ein Kriegsschiff, das selbständig als Handelsstörer im Einsatz war. Nach Verbesserungen in Dampfmaschinenbau und der Waffentechnik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen Kreuzer gepanzert zu werden: wenn das Schiff  ein gepanzertes Deck hatte, aber keine Seitenpanzerung, wurde es „geschützter“ Kreuzer genannt, wenn es beides hatte, „gepanzerten“ Kreuzer. Die Bedeutung des Kreuzerkriegs liegt, natürlich, in der Behinderung des Handels und Nachschub des Gegners; der Kreuzer bevorzugte Beute waren dicke Frachter, Kohlenschiffe oder Tanker. Doch die unverzichtbare Notwendigkeit nach der notwendigen Geschwindigkeit einerseits die Beute zu jagen aber andererseits überlegenen Schiffen zu entkommen, begrenzte das Gewicht des Panzers und die Größe der Geschütze im Kreuzer-Design.

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts konzipierten Ingenieure der Royal Navy einen Kompromiss des Kreuzerdesigns, der à la longue “Schlachtkreuzer” genannt wurde. Ein Schlachtkreuzer, so die Idee, würde die Waffen eines Dreadnoughts, wenn auch aus Gewichtsgründen eine geringere Anzahl von ihnen, mit so viel Panzerung wie möglich kombinieren, um dennoch hohe Geschwindigkeiten beibehalten zu können. Der erste britische Schlachtkreuzer wurde 1907, nur ein Jahr nach der Dreadnought, in Auftrag gegeben, und, ganz bescheiden, “Invincible” getauft.

HMS Invincible

Menschliches Genie hat oft versucht, die Vorteile zweier Typen von Waffen zu kombinieren, während gleichzeitig ihre Nachteile zu vermeiden. Die Konstruktion von Schlachtkreuzern war ein solches genial geplantes Unternehmen. Robert Massie erzählt uns die Geschichte in “Dreadnought” (Ballantine Books 1992, ISBN 978-0-345-37556-8, S. 491 ff.):

Frankreich – immer noch der potenzielle Widersacher vor1890  – hatte bei der britischen Admiralität durch den Bau einer Reihe großer Kreuzer, die in der Lage waren, 21 Knoten zu laufen, Bedenken hervorgerufen. Diese Schiffe waren Ausdruck der Idee einer Schule französischer Admiräle, die daran verzweifelten, dass Frankreich nie in der Lage wäre, mit Großbritannien Schiff für Schiff gleichzuziehen, und es daher der beste Weg wäre, um den maritimen Koloss zu Fall zu bringen, eine Flotte schneller, tödlicher Kreuzer und Torpedo-Boote zu entfesseln, die Großbritanniens gefährdeten Überseehandel angreifen und lahmlegen könnten. Britische Admirale reagierten zunächst damit, Anti-Kreuzer-Kreuzer in Auftrag zu geben; Schiffe, die noch schneller, stärker und genug bewaffnet wären, um alles zu jagen und versenken, was die Franzosen aussenden könnten.

Diese Schiffe, nun entworfen um zu kämpfen, nicht mehr nur einfach zu beschatten und Bericht zu erstatten, wurden gepanzert und Panzerkreuzer genannt. Klasse nach Klasse wurde gebaut und in den Seedienst geschickt….. Insgesamt gab es fünfunddreißig solche britische Panzerkreuzer, einige von ihnen so groß, oder größer noch, als die Schlachtschiffe der Royal Sovereign- oder Majestic-Klasse. Doch egal wie groß sie haben oder wie beeindruckend sie aussahen, sie waren nie dazu bestimmt gegen Schlachtschiffe zu kämpfen. …

Das war auch Fishers Verständnis und Plan, zumindest am Anfang.  Admiral Fisher war der Vorsitzende des Design-Komitees der Royal Navy, das die Entwürfe der „Dreadnought“ und anderer Schiffe erstellte. Seine ersten Schlachtkreuzer-Entwürfe sollten die ultimativen Panzerkreuzer werden, so schnell und stark bewaffnet, dass sie alle anderen Kreuzer der Welt überholen und zerstören konnten. … Fisher schrieb im März 1902 an Lord Selbourne, * den First Sea Lord, dass er mit Gard, dem Chefkonstrukteur der Werft von Malta, an einem Entwurf für einen Panzerkreuzer arbeite, der alle bisher vorhandenen Panzerkreuzer obsolet machen würde. [Massie meint hier William Palmer, 2nd Earl of Selbourne]

Fisher nannte sein hypothetisches Schiff „HMS Perfection“, und an der Spitze der Liste ihrer Gestaltungsmerkmale schrieb er „Geschwindigkeit bei voller Kraft von 25 Knoten“, aber des Sea Lords Antwort war nicht alles, was Fisher sich erhofft hatte. Gebaut wurden die „Warrior“– und „Minotaur“-Klassen; große Schiffen mit 9,2-Zoll – Kanonen und einer Geschwindigkeit von 23 Knoten, zwei Knoten weniger als was Fisher für „Perfection“ gefordert hatte.

Inzwischen begannen andere Admiralitäten ebenfalls zu experimentieren. Gegen Ende des Jahres 1904 erreichte die Nachricht London, dass Japan zwei große, 21-Knoten schnelle Panzerkreuzer mit jeweils vier 12-Zoll – Geschützen und zwölf 6-Zoll-Kanonen auf Kiel gelegt hatte. In Italien waren vier von Cuniberti konstruierte Schiffe im Bau, die über zwei 12-Zoll und zwölf 8-Zoll–Geschütze verfügten und ebenfalls 21 Knoten liefen. Ausländer näherten sich dem Konzept der „Perfection“ an.

Im Februar 1905, nachdem Fishers Design-Komitee die Pläne für die „Dreadnought“ abgeschlossen hatte, erschien „Perfection“ auf dem Papier. Jetzt musste Fisher seine Projekte der Admiralität nicht mehr aufdrängen; er selbst war jetzt die Admiralität. [Er war im Jahre 1904 Erste Seelord geworden, ¶] Und in der Fisher-Ära, was er sofort klar machte, würde die britischer Handelsschifffahrt nicht nur durch ein paar auf der ganzen Welt verstreute Panzerkreuzer beschützt werden, sondern durch einige enorm schnelle, leistungsfähige Schiffe, die jeden feindlichen Kreuzer jagen und zerstören konnten, wohin immer er geflohen wäre – wenn nötig, „bis ans Ende der Welt.“

In der Zwischenzeit hatte die präsumptive Bedrohung ihre Nationalität gewechselt; es waren nicht mehr französische Kreuzer, die die Admiralität besorgten, sondern deutsche Ozeandampfer; die großen, schnellen, hochseetüchtigen Windhunde des Norddeutschen Lloyd und der Hamburg-Amerika-Linie, die dafür konstruiert waren, 6-Zoll-Kanonen zu tragen. Entwickelt um Passagiere in fünf oder sechs Tagen über den Nordatlantik zu befördern, konnten sie alle vorhandenen britischen Kreuzer leicht hinter sich lassen.

Geschwindigkeit war die herausragende Anforderung; Geschwindigkeit genug um den Feind zu überholen und auch für des Schiffes eigene Abwehr zu sorgen: es musste in der Lage sein, sich außerhalb der Reichweite von Schlachtschiffen zu halten. Fisher fixierte die minimale absolute Marge bei vier Knoten Unterschied, und da er die Dreadnought für 21 Knoten baute, musste HMS Perfection in der Lage sein, 25 Knoten zu dampfen. Fisher wollte auch maximale Feuerkraft. Die größten verfügbaren Geschütze waren 12 Zoll, wie bereits geschildert bereits auf neuen Panzerkreuzern und schnellen italienischen und japanischen Schlachtschiffen installiert. Nachdem er schon erfolgreich für die nur mit großkalibrigen Geschützen bewaffneten Schlachtschiffe argumentiert hatte, forderte Fisher nun einen eben solchen Panzerkreuzer.

Wieder einmal gab der treue und einfallsreiche Gard dem Admiral, was er wollte. „Perfektion“, woraus die „Invincible“-Klasse von Schlachtkreuzern werden würde, kam aus dem Zeichenbrett mit acht 12-Zoll-Geschütze in vier Doppeltürmen. Fisher war überglücklich. Mit 25 Knoten Geschwindigkeit und acht 12-Zoll-Kanonen, war hier ein Kriegsschiff, welches stark genug war, jedes Schiff, das es einholen konnte schnell genug zu zerstören, und schnell genug, um jedem Schiff zu entkommen, das es selbst bedrohen könnte. Sie konnte ein ganzes Geschwader feindlicher Kreuzer mit der größten Leichtigkeit „aufwischen“, mit ihrer Geschwindigkeit die richtige Position etablieren und mit ihren weitreichenden Waffen den Feind versenken, ohne sich selbst Gegenfeuer auszusetzen.

Sie hatte nur einen einzigen Fehler: ihre Panzerung war zu leicht. Wie Dornröschen, für die das Leben gefahrlos war, solange sie sich von Spindeln fernhielt, konnten „Invincible“ und ihre Schwestern eine glückliche Existenz führen solange sie sich von Schlachtschiffen fernhielten. Ihre Geschwindigkeit war ein kostbares Gut und um einen hohen Preis erworben.

Die drei wesentlichen Merkmale eines Kriegsschiffes – Geschütze, Geschwindigkeit und Panzerung – sind alle miteinander korreliert. Ein Designer kann nicht alles haben: wenn schwere Geschütze und dicke Panzerung erforderlich sind, leidet die Geschwindigkeit; dies war der Kompromiss, der auf alle Schlachtschiffe zutraf. Wird höhere Geschwindigkeit gefordert und schwere Geschütze beibehalten, muss Panzerung geopfert werden. Dies war der Fall bei der „Invincible“ und ihren Schwestern. Um vier kostbare Knoten Geschwindigkeit zu gewinnen, musste „Invincible“ auf einen Turm und damit zwei der zehn 12-Zoll-Geschütze der Dreadnought verzichten.

Das sparte zweitausend Tonnen, die in die Antriebsmaschinen gesteckt werden konnten. Ein gefährlicheres Opfer wurde in Bezug auf die Panzerung gemacht. Der Panzer der “Dreadnought”, dazu bestimmt durch eine Katastrophe explodierender Granaten zu schwimmen, war mittschiffs mit einem elf Zoll dicken Gürtelpanzer ausgestattet, genug um schwerste Einschläge zu überstehen. Um das Mittelschiff der Invincible herum war der Gürtel nur sieben Zoll dick. Wenn es die Mission des Schlachtkreuzers wäre,  auszukundschaften oder feindliche Kreuzer zu bekämpfen, wären sieben Zoll Panzer ausreichend. Aber würde sie sich absichtlich in die Reichweite feindlicher Schlachtschiffe begeben, wären sieben Zoll nicht genug. … Einige Experten sahen die potenzielle Gefahr durchaus. „Brassey‘s Naval Annual“ schrieb: „… Das Problem bei Schiffen dieser enormen Größe und Kosten ist, dass ein Admiral mit Invincibles in seiner Flotte versucht sein wird, sie in die Schlachtlinie zu beordern, wo ihr vergleichsweise leichter Schutz ein Nachteil sein wird, und ihre hohe Geschwindigkeit bedeutungslos.“ Kurz gesagt, weil sie wie ein Schlachtschiff aussah und eines Schlachtschiffes Kanonen besaß, würde früher oder später von Invincible erwartet werden, auch wie ein Schlachtschiff zu kämpfen.

Da bekanntlich keine gute Tat unbestraft bleibt, imitierten die Deutschen das zwittrige Konzept und bauten ihre eigenen Schlachtkreuzer.

Da die beiden Nationen nun 15 Jahre lang und mit enormen Kosten
in hektischer Geschwindigkeit Großkampfschiffe gebaut hatten, erwartete jeder einen gewaltigen Zusammenstoß der Flotten innerhalb der ersten Monate des Krieges. Aber die ersten zwei Jahre des Konflikts brachten nur kleinere Auseinandersetzungen. Am 28. August 1914 trieb eine Squadron von Schlachtkreuzern unter dem Befehl von Admiral Sir David Beatty eine gemischte deutsche Flottille in der Deutschen Bucht bei Helgoland in die Enge und versenkte drei kleine Kreuzer und ein Torpedoboot. Im Januar 1915 führte eine Begegnung zwischen Beattys Flotte und einigen deutschen Schlachtkreuzern an der Doggerbank zum Verlust der deutschen “Blücher“ und schweren Schäden an der “Seydlitz“, während die britischen “Tiger“ und  “Lion“ geringere Beschädigungen erlitten.

Die Deutschen erzielten einen großen Erfolg im Oktober 1914, als eine einzige Mine das brandneue britische Schlachtschiff „Audacious“ versenkte. Etwas kleinere Erfolge wurden durch U-Boote erreicht. U 9 versenkte die drei alten britischen Kreuzer„ Abukir“, „Hogue‘“ und „Cressy“ an einem einzigen Tag im September 1914, und U 24 sank das ältere Schlachtschiff „Formidable“ am 1. Januar 1915.

Untergang von HMS Audacious

Die weitgehende Flaute in der Nordsee endete, als der deutsche Admiral Reinhard Scheer mit dem Kommando der Hochseeflotte im Januar 1916 betraut wurde. Auf der Suche nach einer Lösung für die numerische Überlegenheit der Royal Navy konzentrierte er sich auf Beattys Schlachtkreuzer-Division, die mittlerweile in Rosyth bei Edinburgh vor Anker lag. Wenn er seine Karten gut spielte, hielt er es für möglich, Beattys Schiffe in eine Falle zu locken und zu zerstören, bevor die Home Fleet aus Scapa Flow auf den Orkneyinseln zu ihrer Rettung kommen könne. Scheers Plan berücksichtigte natürlich, dass die Grand Fleet etwa 40 % größer war als die Hochseeflotte, aber die Anzahl ihrer Aufgaben musste sie auch zum Teil über die Ozeane verstreuen. Wenn er für eine Zeitlang überlegene Kräfte gegen einen kleineren Teil der Grand Fleet vereinigen könne, könnte er das numerische Defizit zeitweise ausgleichen und der Sieg möge in Reichweite liegen.

Eine taktische Variable in seinem Plan war sowohl ihm als auch seinen Gegnern auf der britischen Seite unbekannt: die Unsicherheit, wie es den Schlachtkreuzern ergehen würde, wenn sie tatsächlich mit Schlachtschiffen konfrontiert wurden. In Bezug auf eine andere taktische Variable musste er auf sein Glück vertrauen, und zwar darauf, wie früh oder spät der britischen Marine-Geheimdienst sein Auslaufen entdecken würde. Im Mai 1916 konsolidierte er seine Gedanken in dem Plan, Beattys Geschwader, bestehend aus sechs Schlachtkreuzern und vier Schlachtschiffen, nach Süden zu locken, indem er Beatty einen Köder aus ein paar deutschen Schlachtkreuzern offerierte. Da diese Schiffe für die britische Dreadnoughts in Scapa Flow zu schnell waren, hatte nur Beattys Flottille eine Chance, sie zu fangen. Sobald Beatty über die deutsche Vorhut informiert wäre und sich aufmachte sie abzufangen, würden die deutschen Schlachtkreuzern Kurs nach Süden nehmen und Beattys Verband direkt in die Kanonen der deutschen Schlachtflotte führen.

In unserem Fall  bestand Scheers Vorhut aus fünf deutschen Schlachtkreuzern unter dem Kommando von Franz von Hipper sowie verschiedenen Begleitschiffen, die am Morgen des 31. Mai 1916 entlang der Westküste von Dänemark nach Norden fuhren. Scheer folgte etwa 50 Meilen weiter südlich, aber er hatte kein Glück. Der Britische Nachrichtendienst hatte Scheers Pläne für eine große Operation bereits ab Mitte Mai aufgefangen, die deutschen Funkübertragungen entschlüsselt und Admiral John Jellicoe, den Kommandeur der Grand Fleet, informiert. Scheer hatte kaum Helgoland passiert, als Beattys Schlachtkreuzer schon auf dem Weg nach Süden geschickt wurden, gefolgt, in einer Entfernung von etwa 70 Meilen, von den Schlachtschiffen aus Scapa Flow. Die Briten hatten die Rolle von Hund und Hase umgekehrt.

In Bezug auf Tonnage und Waffenkraft wurde das bevorstehende Ereignis das größte der Seekriegsgeschichte. Die Hochseeflotte hatte sechzehn Dreadnoughts mobilisiert, sechs ältere Schlachtschiffe, fünf Schlachtkreuzer, elf leichte Kreuzer und einundsechzig Zerstörer (99 Kampfschiffe). Jellicoes vereinigte Flotte umfasste achtundzwanzig Dreadnoughts, neun Schlachtkreuzer, acht gepanzerte Kreuzer, sechsundzwanzig leichte Kreuzer, achtundsiebzig Zerstörer, einen Wasserflugzeugträger und einen Minensucher (151 Kampfschiffe).

Treffen der Vorhut

Der erste Kontakt erfolgte um gegen 14 Uhr, als beide Zerstörerschirme das gleiche neutrale Handelsschiff untersuchen wollten und so ineinander liefen. Ihre Radios alarmierten die Schlachtkreuzerflotten von Hipper und Beatty, die nun auf Kollisionskurs drehten. Beattys fünf Schlachtkreuzer, die vor den Schlachtschiffen fuhren, sichteten Hippers Flottille um etwa 16.00 Uhr und eröffneten das Feuer. Im Duell der Schlachtkreuzer wurden die Mängel des Konzepts unbarmherzig aufgedeckt. Beatty eigenes Flaggschiff, die “Lion”, wurde schwer durch Treffer von der “Lützow“, Hippers Flaggschiff, beschädigt, aber die Dinge kamen noch schlimmer:

Indefatigable“ – im Duell mit der deutschen „Von der Tann“, erlitt eine innere Explosion, die sie buchstäblich auseinander riss; nur wenige Minuten später explodierte „Queen Mary“ und sank, nach einer Salve von  „Derfflinger“. Nur acht Männer überlebten. Deutsche Schiffe zeigten viel weniger Anfälligkeit für die Auswirkungen britischer Granaten – ob es sich dabei um das Resultat besserer Panzerung oder ein Problem mit den englischen Zündern wird immer noch diskutiert.

Haupttreffen
Die "Queen Mary" explodiert in der Schlacht am Skagerrak
Die “Queen Mary” explodiert in der Schlacht am Skagerrak

Nachträgliche Untersuchungen ergaben, dass deutsche Granaten die schwache Panzerung um die Treibmittellagerräume durchbrochen hatten, wo die instabilen Ladungen offen aufbewahrt wurden, um sie schnell an die Geschütztürme weiterleiten zu können. Die Explosion der Granaten verursachte anschließend die Detonation des Hauptmagazins. Beattys erste Linie war so schnell reduziert, aber die Begeisterung an Bord von Hippers Schiffen war von kurzer Dauer. Als die vier britischen Schlachtschiffe aus den Wolken von Rauch und Regenschauern auftauchten entstanden, war es Hippers Zeit umzukehren, mit Beatty in der Verfolgung.

HMS Indefatigable

Eine halbe Stunde später konnte die britische Vorhut ihrerseits Scheers Schlachtschiffe am Horizont auftauchen sehen – wie erwartet – und jetzt war es an ihnen, wiederum nach Norden umzukehren, um Scheer in Richtung des Hinterhalts von Jellicoes Grand Fleet, die schnell aufgeschlossen hatte, zu führen. Der Schlagabtausch setzte sich durch all diese unterhaltsamen Verfolgungsjagden fort und begünstigte nun die Briten, die jetzt das Feuer der neuen 15-Zoll-Kanonen ihrer Schlachtschiffe zur Geltung bringen konnten. Mehrere Treffer beschädigten „Seydlitz“ erneut schwer – nach ihrer unglücklichen Erfahrung bei der Doggerbank – und erwies zumindest, dass deutsche Schlachtkreuzer gegenüber gut gezielten Schüssen genauso anfällig waren wie die britischen. Die Probleme der„Seydlitz“ ‘ verursachten Unordnung in Scheers Schlachtlinie in genau in dem Moment, als während einer verworrenen Situation, eine deutsche Salve „Invincible“ fand. Sie explodierte und ihre Bruchteile verbanden sich mit denen ihrer jüngeren Schwestern im feuchten Grab der Nordsee. Das war jedoch der letzte Glücksfall für Scheer, der sich mit einem zunehmenden Vorhang aus 15-Zoll Granaten konfrontiert sah. Um etwa sechs Uhr abends, überlegenen Kräften gegenüber, entschied er sich, das Spiel zu beenden.

HMS Warspite and Malaysia in action

So hätte eine bereits unbefriedigende Begegnung – von der britischen Sicht aus –  ergebnislos enden können, Scheer jedoch entschied sich dann umzudrehen, vielleicht um dem beschädigten Leichten Kreuzer „Wiesbaden“, der zurückgelassen worden war, zu Hilfe zu kommen, vielleicht, weil er dachte, dass er achteraus Jellicoes Flotte passieren könne, die ihren Vormarsch in Richtung Helgolands fortsetzte, um so durch den Skagerrak in die Ostsee zu flüchten. Jellicoe jedoch verminderte seine Geschwindigkeit wieder, mit dem Ergebnis, dass die deutschen Dreadnoughts – in Richtung Nordosten fahrend – den britischen Schiffen auf südöstlichem Kurs begegneten – und die Briten ihre Rückseite passieren konnten, um sie von Flucht und Sicherheit abzuschneiden.

Darüber hinaus waren – im Treffmoment der Begegnung – die Briten in Linie nebeneinander, die Deutschen aber in Linie voraus, eine relative Position, die als das “Crossing the T” bekannt ist und stark die britische Flotte begünstigte. Alle ihre Breitseiten konnten gegen das jeweils erste Schiff in der deutschen Linie gleichzeitig eingesetzt werden, das damit auch ein leichtes Ziel darstellte. In zehn Minuten Kreuzfeuer erhielten die Deutschen siebenundzwanzig Treffer großkalibriger Granaten, die Briten nur zwei. Dies überzeugte Scheer wieder in den dunklen östlichen Horizont hineinzudrehen und seine Schlachtkreuzer und leichteren Schiffe als Deckung seines Rückzug in einer „Todesfahrt“ zurückzulassen.

Die Bedrohung durch Torpedos, die Scheer dadurch schuf, veranlasste Jellicoe ebenfalls abzudrehen – wofür er später Vorwürfe erhielt – und bis er wieder zurückdrehte, hatte Scheer 10 Meilen zwischen seine Dreadnoughts und die Verfolger gebracht. Viele deutsche Schiffe blieben zurück, um  Scheer Flucht zu decken, einschließlich seiner Staffel von gefährdeten, alten Pre-Dreadnoughts, die in einer Reihe von Dämmerungs- und Nachtaktionen Verluste erlitten. So geschah es auch den britischen Kreuzer und Zerstörer, die Kontakt hielten. Am Morgen des 1. Juni, als Scheer seine Flotte Zuhause hatte, hatte er einen Schlachtkreuzer verloren, ein Pre-Dreadnought, vier leichte Kreuzer und fünf Zerstörer. Jellicoe – der das Kommando über die Nordsee allerdings behielt – hatte drei Schlachtkreuzer verloren, vier Panzerkreuzer und acht Zerstörer; 6094 britische Seeleute waren gestorben, 2551 Deutsche.

Schäden an SMS Seydlitz

Soweit es taktische Fragen anging, war die „Battle of Jutland“, wie die Royal Navy sie nennt, oder „Skagerrakschlacht“, wie sie in Deutschland heißt, ein großer Erfolg für die junge Hochseeflotte: deutsche Panzerung und Munition hatten sich britischer Rüstung als überlegen erwiesen. Strategisch jedoch blieb die Kontrolle über die Nordsee und damit die Zugänge zum Atlantik bei Großbritannien; für den Rest des Krieges blieb die deutsche Flotte vor Anker und war keine Bedrohung für das Empire mehr. Die internationale Presse beschrieb die Begegnung in Jütland als „Angriff auf den Wärter mit anschließender Rückkehr ins Gefängnis.“ Das folgende friedliche Dahinrosten der deutschen Flotte im Hafen wurde erst wieder im Jahre 1919 gestört, als eine Klausel des Waffenstillstandes die Internierung der Flotte in Scapa Flow anordnete. Die Crews segelten die Schiffe wie gefordert zu den Orkneyinseln, aber versenkten sie bald selbst nach ihrer Ankunft.

Doch für die Idee “Schlachtkreuzer” war es der erste, einzige und gleichzeitig letzte Auftritt – sie verschwanden aus den Flottenregistern der Welt so schnell wie sie erschienen waren.


Der offizielle Bericht von Admiral Scheer an den Kaiser (PDF)


(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Kein Land für alte Männer …

Alexander von Kluck mit dem Stab der Ersten Armee
Alexander von Kluck mit dem Stab der Ersten Armee

Aus “The Little Drummer Boy“, Kapitel XVIII, ‘De Bello Gallico

Die Eröffnungsschlachten des Großen Krieges hatten deutlich gemacht, dass dieser Konflikt der Industrienationen keine Ähnlichkeit hatte mit dem kurzen, siegreichen und ehrenvollen Krieg, den Patrioten bejubeln wollten und die Generäle versprochen hatten. Nicht nur hatten die letzteren, in jedem Land, die Ausgaben des modernen Krieges in Bezug auf Munition, Ausrüstung und Proviant ernsthaft unterschätzt, es wurde bald erschreckend klar, dass im Zeitalter des mechanisierten Kriegs Angriffe von Infanterie über weit offene Felder direkt in die Läufe von Maschinengewehren und Artillerie Verluste in Zahlen produzieren würden, die nie zuvor gesehen worden waren. Giftgas wurde bald zu einer weiteren schrecklichen Option um Leid zu produzieren.
Einer der großen Kontraste, die dieser Krieg produzieren würde, war der von Jung und Alt. Während die Industrieländer Europas ihre junge Männer im Alter von zwanzig Jahren oder weniger ins Feld schickten, waren die befehlshabenden Generäle des großen Krieges in geradezu biblischem Alter.

Im Jahre 1914 waren auf der deutschen Seite Moltke 66 Jahre alt, Hindenburg 67 und Kluck und Bülow beide 68. Auf der Seite der Alliierten, Joffre und Sir John French 62 und Gallieni 68. Ihr fortgeschrittenes Alter war nicht ein Resultat des Zufalls, sondern der Ausdruck des Vorkriegsglaubens an die “Erfahrung” als den herausragenden Wert in dem, was Stefan Zweig vor dem Krieg die “Welt der Sicherheit‘ nannte.

Diese alte Welt, alle ihre Gedanken nur auf den Fetisch der Sicherheit gerichtet, liebte die Jugend nicht; sie misstraute ihr ständig. … Österreich war ein altes Land, von einem alten Kaiser beherrscht, von alten Ministern regiert; ein Staat ohne Ehrgeiz, der sich alleine durch Gegnerschaft zu allen radikalen Veränderungen unversehrt im europäischen Rahmen zu erhalten hoffte. …
Es entstand also die Situation, unverständlich heute, dass Jugend ein Hindernis in jeder Karriere war und Alter alleine von Vorteil. Während heute, in unserer veränderten Situation, die vierzigjährigen suchen wie dreißig auszusehen, und die Sechzigjährigen vom Wunsch beseelt sind wie vierzig zu erscheinen, und Jugend, Energie, Entschlossenheit und Selbstvertrauen einen Mann empfehlen und hervorheben, war in diesem Zeitalter der Sicherheit jeder gezwungen, sich durch alle denkbaren Methoden zu tarnen; zu versuchen, älter zu erscheinen.
Die Zeitungen empfohlen Zubereitungen, die das Wachstum des Bartes beschleunigen sollten, und vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alte Ärzte, die gerade mit ihren Prüfungen fertig waren, trugen mächtige Bärte und goldene Brillen, auch wenn ihre Augen sie keineswegs brauchten, sodass sie den Eindruck von „Erfahrung“ auf ihre ersten Patienten machen konnten. Die Männer trugen lange schwarze Gehröcke, gingen in gemächlichem Tempo, und demonstrierten, so immer möglich, einen leichten Embonpoint; erworben, um die gewünschte Gesetztheit zu verkörpern; und die ehrgeizigen suchten, zumindest nach außen hin, ihrer Jugend Lügen zu strafen, da alle jungen Menschen der Instabilität verdächtigt wurden.

Wie zu erwarten, kam es niemand in den Sinn, dass dies der erste mechanisierte Weltkrieg für jeden war, sowohl Gefreite als auch Generäle.
Aber solange die Generäle auf beiden Seiten darauf bestanden, ungeschützte Männer über offene Felder zum Angriff auf andere Männer zu hetzen, die in geschützten und durch Stacheldraht und Schnellfeuerwaffen verteidigten Stellungen saßen, würden sich Opfer anhäufen. Dies war „die einfache Wahrheit der Grabenkämpfe von 1914 bis 1918.“ Was die Soldaten besonders wurmte, war die olympische Unnahbarkeit, die von einigen der wichtigsten Kommandeure demonstriert wurde.

Paul von Hindenburg und Erich von Ludendorff
Paul von Hindenburg und Erich von Ludendorff

Die teilnahmslosen Ausdrücke der Generäle, die von zeitgenössischen Fotografien auf uns zurückblicken, sprechen nicht von Gewissensbissen angesichts des Abschlachtens, über das sie den Vorsitz führten, noch von gespieltem Bedauern über die Umstände, in denen sie zu leben pflegten: das von der Front weit entfernte Schloss, die polierten Ordonnanzen, die glitzernden Kraftfahrzeuge, Begleitkavallerie; regelmäßige Routine, schwere Abendessen, die ununterbrochenen Stunden des Schlafes; Joffres zweistündige Mittagessen, Hindenburgs Zehn-Stunden-Nächte, Haigs therapeutische Tagesritte entlang gesandeter Straßen – auf dass sein Pferd nicht fehltrete – STAVKAs Diät aus Champagner und Hofklatsch, all dies schien, und war tatsächlich eine ganze Welt weit weg von den kalten Rationen, nassen Stiefeln, dreckigen Uniformen, überfluteten Gräben, verrotteten Unterkünften und der Läuseplage – Umständen unter denen, zumindest im Winter, ihre Untergebenen leben mussten.

Es ist unvermeidlich – früher oder später sucht der Soldat diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für die Bedingungen, denen er nicht nur durch den Feind, sondern auch durch seinen eigenen Vorgesetzten ausgesetzt ist, verantwortlich sind. Alle drei der frühen C-in-Cs der Westfront 1914 wurden eventuell abgelöst, Moltke schon im September 1914 [sein Nachfolger Falkenhayn am Ende des Jahres 1916, ¶], Sir John French im Dezember 1915, und Joseph Joffre wurde im Dezember 1916 wegbefördert, auf die ehrenvolle aber hohle Position eines „Marechal de France“.

Hindenburgs letzte Sünde

Leider neigten auch ihre Nachfolger nicht dazu, sich altersmäßig oder hinsichtlich geistiger Frische besonders hervorzuheben. Die britische Presse nannte das Britischen Expeditionskorps „Löwen, angeführt von Eseln“, und niemand hielt die Generäle für die Löwen. Krieg, so hatte Yeats paraphrasiert, ist „kein Land für alte Männer“, aber der Erste Weltkrieg war es, über den größten Teil seiner Dauer.

(© John Vincent Palatine 2015/19, Zitate etc. siehe The Little Drummer Boy, Kapitel XVIII und Anhänge)

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Aufbau einer Division im Ersten Weltkrieg

Das 76. Füsilierbataillon in the Schlacht von Loigny am 2. Dezember 1870

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Die Organisation des Heeres

Die Preußischen Armeereformen


Wenn wir über moderne Kriegsführung nach 1800 sprechen, fällt immer der Ausdruck “Division “. Aber was genau ist eine „Division“? Untersuchen wir dieses Konzept am Beispiel des Ersten Weltkriegs:

Notabene: Dieser Beitrag bezieht sich auf „Division“, wie das Wort im Landkrieg verwendet wird. Es kann in anderen Zusammenhängen sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Bei Seestreitkräften hat die Benutzung des Begriffes „Division“ oft eine ganz andere Bedeutung, die sich auf entweder eine administrative oder funktionelle Untereinheit einer Abteilung (z.B. die Feuerkontrolldivision der Waffenleitstelle) an Bord von Marine oder Küstenschutzschiffen beziehen kann, oder auf Marineflieger-Einheiten, zu einer Untereinheit von mehreren innerhalb einer Flotte oder Fliegerstaffel, oder auf zwei oder drei Gruppierungen von Flugzeugen unter einem bestimmten Kommandoführer. Einige Sprachen wie Russisch, Serbokroatisch und Polnisch, verwenden das ähnliche Wort „Divizion“ bzw. „Dywizjon“ für ein Bataillon als größte Artillerie oder Kavallerie-Formation der jeweiligen Einheit.

Die Aufteilung der Armeen in ‚Divisionen‘ wurde Praxis während der beiden Französischen Koalitionskriege (Frankreich gegen das konterrevolutionäre Österreich, Russland und Preußen) in den 1790er Jahren und der anschließenden napoleonische Ära, in denen Armeen aufgeteilt werden mussten, um sich gegen oder Angriff mehr als eines Feindes zu verteidigen oder zu bestimmten Zeitpunkten taktische Aufgaben zu erfüllen, wie Flankenangriffe oder Einkesselungsmanöver. Im Gegensatz zu den Kabinettskriegen des vorherigen Jahrhunderts, die zumeist lokal begrenzt waren, musste die französische Revolutionsarmee an verschiedenen fronten zugleich operieren, wodurch sich die Schaffung einer zusätzlichen Kommandoebene zwischen Armeeführung und Regiment als notwendig erwies.

Das System zeigte Kinderkrankheiten – manchmal gelang es, Divisionen von ihren Nachbarn zu trennen und einzeln zu vernichten und so wird es im allgemeinen Napoleon zugeschrieben, das Armeekorps als weiter übergeordnete Führungsebene eingeführt zu haben.

Die Definition einer ‚Division” ist, dass es die kleinste Untereinheit einer Armee ist, die unabhängigen Aufgaben erfüllen kann, d.h. die kleinste Einheit, die alles besitzt, um einen eigenen kleinen Krieg zu führen. Daraus folge, dass eine Division mehr als Soldaten, Waffen und Munition haben muss: sie muss einen Führungsstab haben, Ingenieure bzw. Pioniere, Signal- bzw. Nachrichtentruppen, Versorgungstruppen, einen Sanitätsdienst, ein Krankenhaus, ein Postamt, Küchen, Wäschereien, einen Kartenraum und so weiter.

Organisationsplan

Bis 1915 waren in der deutschen Armee die Spezialtruppen – Fernsprech-Abteilungen, Flak-Züge, Pionier-Bataillone, Minenwerfer-Kompanien, Sanitäts-Kompanien, Feldlazarette, Kraftwagen-Kolonnen, Pferde-Lazarette, Jäger, Fußartillerie und Train etc. – nicht der Division direkt, sondern dem übergeordneten Armeekorps als Korpstruppen unterstellt. Dies erwies sich im Kriegsfall jedoch als unpraktisch, und wurde geändert. Ebenfalls stellte sich im Weltkrieg, zumindest im Stellungskrieg an der Westfront, schnell heraus dass Kavallerie dort im Prinzip überflüssig war – die vorhandenen Einheiten wurden verkleinert bzw. an die Ostfront verlegt, wo ihre traditionelle Funktion der Aufklärung eher noch verwendet werden konnte. Aufgrund der allerhöchsten Wünsche seiner Majestät Wilhelm II wurden noch bis in die Kaisermanöver von 1913 unsinnige Kavallerieangriffe geübt, die sich in der Praxis ab 1914 jedoch als Massenselbstmord per Maschinengewehr erwiesen.

Kavallerieattacke Kaisermanöver 1913

Es gab durchaus, zumindest anfangs, seltsame Bräuche. Die Garde der preußischen Divisionen wurde z.B. nach Körpergröße geordnet.

Die Zahlen gaben die Körpergröße über 1 Meter an …

Im Ersten Weltkrieg bestand ab 1915 eine voll ausgerüstete deutsche Infanteriedivision, zumindest theoretisch, aus folgenden Truppen:

4 Infanterieregimentern mit jeweils 3000 Mann; jedes Regiment bestehend aus 3 Bataillonen von jeweils 1000 Mann; jedes Bataillon bestehend aus 4 Kompanien von jeweils 250 Mann; insgesamt 12.000 Infanteristen;

1 Artillerieregiment, bestehend aus 12 Feldbatterien von je 6 x 135 mm Kanonen und 2 schweren Batterien mit jeweils 4 x 155 mm Kanonen (einige Divisionen hatten ein zusätzliches Schweres Haubitzen-Bataillon mit 16 x 150 mm Haubitzen);

2 Kavalleriebrigaden mit jeweils 680 Säbeln, manchmal unterstützt durch zwei eigene Geschützbatterien und einer Kompanie mit 6 schweren Maschinengewehren; da sich die Kavallerie an der Westfront als eher überflüssig erwies, wurde sie dort stark verkleinert – oft blieb nur eine Eskadron übrig. Mache Kavallerietruppen wurden aufgelöst und die Pferde den Nachschubtruppen zugeteilt. Kavallerie spielte eigentlich nur an der Ostfront als Aufklärungstruppe eine Rolle.

1 Staffel Aufklärungsflugzeuge mit sechs Maschinen, Piloten und Mechanikern;

1 Artillerie-Brigade zbV. nach dem Ermessen des Divisionskommandeurs (54 leichte 77 mm Kanonen und 18 135 mm Geschütze);

1 schwere MG-Kompanie mit 6 MGs;

1 Haubitzenbataillon mit 18 105 mm Geschützen;

Dazu Divisionstruppen und Unterstützungspersonal:

1 Battalion Pioniere;
1 Signal- und Nachrichtenabteilung mit 2 Kompanien;

1 Quartiermeisterzug mit 2 Kompanien;

1 Verwaltungskompanie;

2 Küchenkompanien (Metzger, Bäcker, Köche);

1 Feldpostamt;

1 Sanitätskorps, bestehend aus 2 Krankenhauskompanien und 4 Transportkompanien;

1 Veterinärkompanie;

1 Divisionsstabskompanie mit 4 Stäben: Kommandant, Operationsoffizier (Ia), Versorgungsoffizier (Ib) und Nachrichtenoffizier (lc);

1 Kartenraum;

1 Musikkorps und

1 Kompanie Feldpolizei (MP).

Infanterie zu Beginn des Krieges

Eine komplette Infanteriedivision bestand also aus rund 20.000 Menschen, 7.000 Pferden und einem Zug von 1.200 Versorgungswagen. Doch eine Division, die alle diese Truppen tatsächlich besaß, müsste sich in der Tat glücklich nennen – nach der ersten Schlacht mussten sich die meisten Divisionen mit der Hälfte dieser Zahlen behelfen – oder weniger. In der Praxis – nach den großen Verlusten der ersten Wochen – stellten Generalstäbe gleich ganze Korps ab, um die unabhängigen taktischen Rollen zu übernehmen, die einzelnen Divisionen vor der Schlacht zugewiesen worden waren.

Offiziere an der Ostfront

In Bezug auf die vertikale Zusammensetzung bildeten zwei Divisionen ein Korps und zwei Korps eine Armee. In der Praxis, als sich der Krieg hinzog und viele Einheiten mit kleineren Zahlen auskommen mussten, neigten Korps zu rascher Vergrößerung, manchmal bis zu vier Divisionen. Verluste hatten die durchschnittlichen Divisionsstärken schnell halbiert. Wenn ganze Divisionen nicht verfügbar waren oder aufgeteilt werden mussten, wurden Infanteriebrigaden gebildet, halbe Divisionen – zwei Regimenter Infanterie und was immer an Artillerie zur Verfügung stand.

Jedes Land wich von der Regelung in charakteristischer Weise ab. Französische Divisionen waren mit einer ganzen Brigade aus vorher festgelegten Reserven ausgestattet und während ihre Feldartillerie, die 75 – mm – Kanone , sich als ausgezeichnet erwies – besser als das deutsche 77 mm Modell – waren sie in der Regel in den größeren Artilleriekalibern schwächer. Britische Divisionen waren etwas größer und kompensierten einen anfänglichen Mangel an Maschinengewehren mit ausgezeichneter infanteristischer Treffsicherheit. Russische Divisionen – zumindest während der frühen Feldzüge – waren riesig, da sie nicht nur drei, sondern vier Infanterie-Regimenter besaßen, also sechzehn Bataillone statt zwölf. Amerikanische Divisionen waren in der Tat kolossal, etwa doppelt so groß wie deutsche.


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(© John Vincent Palatine 2015/19)

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