Illustration aus der Nazi Zeitschrift Der Stürmer
Eine spätere Illustration aus der Nazi Zeitschrift “Der Stürmer”

Video über die Schauplätze des Putsches


Videomontage


Links zu Zeitgenössischen Zeitungsberichten aus der Österreichischen Nationalbibliothek:

Neues 8-Uhr Blatt

Reichspost Wien vom 9. November

Prager Tagblatt vom 10. November


Artikel auf der War-Documentary-Info Webseite


Alfred Rosenberg, Schriftleiter des “Völkischen Beobachters“, Hitler, und Dr. Friedrich Weber, Kommandeur des Freikorps “Bund Oberland” am 4. November, fünf Tage vor dem Putschversuch.

Wie es wohl Tradition bei dramatischen Begebenheiten und letzten Akten ist, hatte eine bleigraue Morgendämmerung den Tag des Putsches begrüßt; es war wieder kalt und vereinzelte Schneeflocken fielen auf die Bürgersteige. Das Morgenlicht hatte kaum die Kraft, die Tiefen des Bürgerbräukellers zu beleuchten, in welchem die Putschisten ein Frühstück aus altem Brot und Käse zu sich nahmen, den Resten des Buffets von gestern Abend.

Die Morgenstunden seitdem hatten keinen besseren Plan ergeben, als in die Innenstadt zu marschieren und an die Unterstützung der Massen zu appellieren. Die Uhr der Kirche schlug zwölf Uhr mittags, als die Sonne, wie eine milchige Scheibe, die Schichten des morgendlichen Nebels zu durchbrechen begann und die Versammlung der Truppen beleuchtete. Sie hatten das Blasmusik aus Mangel an Bezahlung verloren und ein Hauch von Endgültigkeit umgab die Versammlung.

München.- Versammlung der NSDAP im Bürgerbräukeller, etwa 1923
Abmarsch

Endlich wurde der Befehl zum Abmarsch gegeben. Die Vorhut bildete wieder einen Keil; wenn auch etwas zögerlich, bestehend aus Kriegsveteranen und Bannerträgern, die die Hakenkreuzbanner und die schwarzen und weißen Farben des Reiches trugen. In der zweiten Gruppe marschierte die Führung: Hitler wurde links von Ludendorff und rechts von Scheubner-Richter flankiert. An ihren Seiten gingen Hermann Kriebel, Ulrich Graf (Hitlers persönlicher Leibwächter), und Hermann Göring, der das modische Highlight der Prozession beisteuerte: er trug einen Stahlhelm mit einem großen weißen Hakenkreuz bemalt und einem schwarzen Ledermantel, unter dem der starke Kontrast des hellblau leuchtenden Pour Le Mérite nicht übersehen werden konnte. Hitler lehnte den Vorschlag von Göring, einige der verhafteten Stadträte als Geiseln mitzubringen, ab; Märtyrer für die Opposition zu schaffen, war nicht seine Absicht.

Plakat des Putsches

Hinter der Führung bildeten sich drei Gruppen, die jeweils zu viert nebeneinander marschierten. auf der linken Seite die Elite, eine Hundertschaft Hitlers Leibwächter in militärischer Ausstattung mit Gewehren und Handgranaten; in der Mitte das Münchner SA-Regiment, Gewinner vieler Bierkellerkämpfe und rechts der Bund Oberland, Oberst Kriebels Männer.

Hinter diesen paramilitärischen Outfits versuchte eine etwas inkongruente Ansammlung von Männern einen Anschein von antirepublikanischer Einheit zu bilden: ob diese Männer alte Uniformen trugen oder nicht, ob sie Waffen schwangen oder nicht, ob sie ausgebildet waren oder nicht, sie präsentierten als gemeinsames Kennzeichen ein Hakenkreuzband am linken Arm. Einige Infanterie-Kadetten, die dieser bunten Menge als Nachhut folgten, marschierten, leicht unterscheidbar, mit weitaus mehr Schmiss als die Zivilisten. Ein kurzer Appell ergab etwa zweitausend Mann, die langsam ihre Reihen schlossen und sich in Richtung der Ludwigsbrücke bewegten, um die Isar auf dem Weg in die Innenstadt zu überqueren.

Es war nur eine halbe Meile bis zum Fluss und zehn Minuten, nachdem sie abmarschiert waren, stand die revolutionäre Versammlung am Ufer der Brücke einem Zug der Staatspolizei gegenüber. Die Vorhut näherte sich langsam, als der Polizeiführer mit lauter Stimme, um ja nicht überhört zu werden, seinen Männern befahl, scharfe Munition zu laden. Er hatte den Befehl kaum beendet, als ein überraschender Angriff der SA sowohl die Polizei als auch die Putschisten in einen kurzen Kampf verwickelte; die nächste Minute sah die Polizeilinie überrannt und die Putschisten zogen weiter nach Nordwesten in Richtung Stadtmitte.

Der Marschweg: Von der Ludwigsbrücke aus ging es zum Isartor, durch das Tal zum Marienplatz und von dort aus durch die Dienerstraße und Residenzstraße zur Feldherrnhalle auf dem Odeonsplatz. Die gesamte Entfernung beträgt ca. 2,5 km.

Ihr Marsch führte sie durch das östliche Stadtviertel, wo sie von vielen Bürgern und Besuchern, die von den Gerüchten, die sich wie Lauffeuer verbreiteten, mobilisiert worden waren, mit Beifall begrüßt wurden. Der Tausendfüßler wuchs weiter, als müßige Zuschauer sich dem Zug anschlossen und Kinder um die Fahnenträger herumliefen als wäre der Zirkus in der Stadt. Die Männer machten den Verlust der Blaskapellen durch das Singen ihrer Lieblingshymnen gut; vielleicht nicht perfekt, aber mit viel Herz und vielleicht ein bisschen Angst.

Die Truppen passierten das Isartor, das alte östliche Stadttor, und drangen in das Tal ein, die Durchgangsstraße, die zum Marienplatz, dem Stadtzentrum, führte. Das Tal ist immer eine der am dichtesten befahrenen Straßen Münchens und dieser Tag war keine Ausnahme. Die Größe des Lindwurms war merklich angewachsen und als der Zug den Marienplatz, das Herz der Stadt, erreichte, war dieser dicht bevölkert mit Anhängern und Zuschauern. Die Menge unterhielt sich derweilen mit patriotischen Liedern und die Straßenbahnen der Linie 6 steckten hoffnungslos fest. Julius Streicher, der Herausgeber des berüchtigten Nazi-Blattes “Der Stürmer“, stand im Mittelpunkt des Platzes und hielt eine Rede.

Ankunft am Marienplatz
Ankunft am Marienplatz

Plötzlich zögerte der Tausendfüßler; als ob es Verwirrung darüber gäbe, wohin er sich wenden sollte. Oberst Kriebel, der den taktischen Befehl hatte, war nicht sicher, was er tun sollte, aber die Unentschlossenheit endete, als Ludendorff nach rechts in die Weinstraße abbog, die zum Odeonsplatz und zur Feldherrnhalle führte; an jenen Platz, wo Heinrich Hoffmann am 2. August 1914 die Momentaufnahme der jubelnden Menge mit Hitler in ihrer Mitte eingefangen hatte, die die Kriegserklärung feierten.

Alle folgten dem General. Kriebel sagte später, er habe nie darüber nachgedacht: “Wenn Ludendorff dorthin marschiert, gehen wir natürlich mit ihm.” (18)  Ludendorff selbst konnte sich nicht an eine bewusste Entscheidung erinnern: „Manchmal handelt man im Leben einfach instinktiv und weiß nicht warum ….“ (19)

Es ist weniger als eine halbe Meile (ca. 700 Meter) vom Marienplatz bis zum Odeonsplatz. Der Zugang zum Platz war von der Polizei abgeriegelt. Die nächsten sechzig Sekunden verliefen wie in Zeitlupe.

Münchner Stadtzentrum und Odeonsplatz
Münchner Stadtzentrum und Odeonsplatz

Wer genau, stand sich dann gegenüber, an diesem Morgen des 9. November 1923, dem Tag des Hitlerputsches, auf dem Odeonsplatz in München? Die Zahlen finden sich in Harold Gordons „Hitler and the Beer Hall Putsch“, Princeton University Press 1972, ISBN 0-691-10000-4, Seiten 270 – 272:

Die Putschisten konnten auf eine sehr beträchtliche Anzahl von Männern aus München zählen und wurden von Abordnungen aus weiten Teilen des südlichen Bayern verstärkt. Ebenso genossen sie den Vorteil der Unterstützung der Stadtbevölkerung. Viele der Mitglieder ihrer Organisationen und Anhänger waren jedoch kaum von unmittelbarem militärischem Wert. In Bezug auf die tatsächlich präsenten Truppen waren die Stärken in etwa wie folgt:

Putschisten:

SA der NSDAP

  • SA Regiment München – 1500 Offiziere und Mannschaften
  • Stoßtrupp Hitler – etwa 125 Offiziere und Mannschaften
  • SA-Einheiten aus Südbayern – etwa 250 – 300 Mann

Bund Oberland

  • 3 schwache Bataillone – vielleicht 2000 Offiziere und Mannschaften

Reichskriegsflagge

  • 2 Infanterieabteilungen, 1 Maschinengewehrabteilung und 1 Artillerie-Batterie – etwa 200 Offiziere und Mannschaften

Kampfbund München

  • circa 2 Infanteriekompanien – etwa 150 Offiziere und Mannschaften
    Der Kampfbund verfügte also, alles in allem, maximal über rund 4.000 bewaffnete Männer für den Einsatz in dem Putsch.
Ankunft der SA-Truppen aus dem Umland vor dem Bürgerbräukeller in München
Ankunft der SA-Truppen aus dem Umland vor dem Bürgerbräukeller in München

Ihnen standen die folgenden Regierungstruppen gegenüber:

(A) Bayerische Landespolizei

  • Blaue Polizei – Ordnungspolizei – etwa 250 Offiziere und Mannschaften
  • Landespolizei München mit:
  • Personal des Präsidiums und Stabes (Landespolizeiamt) im Armeemuseum (Armeemuseum, ¶)
  • Zentralregiment der Polizeidirektion München in der Ettstrasse
  • Erstes Bataillon (Erster Abschnitt) – etwa 400 Offiziere und Mannschaften (Quartier in der Residenz)
  • Zweites Bataillon (Zweiter Abschnitt) – etwa 400 Offiziere und Mannschaften (Hauptsitz in der Max II Kaserne, an der Ecke Leonrodstraße und Dachauerstraße)
  • Drittes Bataillon (Dritter Abschnitt) – etwa 400 Offiziere und Mannschaften (Maximilianeum und Türkenkaserne)
  • Etwa 1 motorisierte Abteilung (Kraftfahrbereitschaft) – etwa 75 Offiziere und Mannschaften (Türkenkaserne)
  • 1 Panzerwagen-Gruppe mit 12 veralteten Panzerwagen – etwa 75 Offizieren und Mannschaften (Türkenkaserne)
  • 1 Kommunikationstechnisches Bataillon (Türkenkaserne)
  • 1 Bataillon Landespolizei München Land [3] – etwa 400 Offiziere und Mannschaften (Max II Kaserne)
  • 1 berittene Aufklärungsstaffel (Streitstaffel) – etwa 50 Offiziere und Mannschaften (Max II Kaserne) (Außer diesen Einheiten in München selbst waren etwa zwei weitere Regimenter verfügbar, ein Bataillon an der Polizeivorschule in Eichstätt und verschiedene kleinere Einheiten im ganzen Staat verstreut)

(B) Reichstruppen

Im Hauptquartier des Wehrkreis VII und der Siebenten Infanteriedivision (Ludwig- und Schönfeldstraßen):

  • Erstes Bataillon, Neunzehntes Infanterie-Regiment – etwa 300 Männer (Oberwiesenfeldkasernenviertel)
  • Zentrale von Infanterieführer VII und Artillerieführer VII (Ludwig- und Schönfeldstraßen) – vielleicht 100 Mann
  • Siebtes Pionierbattalion – etwa 225 Offiziere und Mannschaften (Oberwiesenfeld, Pionierkaserne I und II)
  • Siebtes Nachrichtenbattalion – etwa 150 Offiziere und Mannschaften (Oberwiesenfeld, Nachrichtenkaserne)
  • Siebtes Motortransport-Bataillon, Hauptquartier und Erste Kompanie – etwa 100 Offiziere und Mannschaften
  • Siebtes Transportbataillon (Beritten), Hauptquartier und Erste und Zweite Kompanie – etwa 125 Offiziere und Männer
  • Siebtes Sanitätsbatallion
  • Fünfte Batterie des Siebenten Artillerie-Regiments – etwa 90 Offiziere und Mannschaften (Oberwiesenfeld)
  • Stadtkommandantur Hauptquartier (Armee-Museum) – circa. 50 Mann
  • Infanterieschule – etwa 350 Offiziere, Kadetten und Männer (Blutenburgstraße am Marsplatz) (Der Rest der Siebten Division und das Siebzehnte Kavallerie-Regiment unter dem Kommando von General von Lossow standen innerhalb 24 Stunden für den Einsatz gegen die Rebellen zur Verfügung, falls die Bahn weiterhin funktionierte), und
  • kleinere verstreute Einheiten der Stadtpolizei, Staatspolizei und der Polizei des Landkreises München.

Aus diesen Zahlen können wir die folgende Schlussfolgerung ziehen: in der schieren Anzahl von Menschen waren die rund 4000 Rebellen überlegen, um so mehr, da viele der Reichswehrsoldaten auf Stabskommandos waren oder auf anderen, nicht für Kampf vorgesehenen Positionen waren, sodass von den vielleicht 1500 theoretisch verfügbaren Männern nur vielleicht 800 einsatzbereit waren. Die Infanterie- und Pionierschulen waren nicht einmal unter bayerischem Befehl, sondern unterstanden Berlin.

Die beiden Gruppen standen sich nun, nur vielleicht zwanzig Meter auseinander, gegenüber.

Wo es geschah …

Am Odeonsplatz blockierte eine Linie der Stadtpolizei den Weg. Aber die Putschisten stürmten vorwärts und sangen: “0 Deutschland hoch in Ehren.” Frau Winifred Wagner sah aus ihrem Hotelzimmer herab, erstaunt ihr Idol Hitler zu sehen, der in der engen Residenzstraße neben Ludendorff marschierte. Auf der Straße war höchstens Platz für acht Personen in einer Linie.

Hitler hakte sich bei Scheubner-Richter ein, um sich auf Schwierigkeiten vorzubereiten, aber Ludendorff blieb frei stehen, in höchster Zuversicht, dass niemand auf ihn schießen würde. Direkt voraus befand sich ein Kordon der Staatspolizei unter Leutnant Michael Freiherr von Godin. Angesichts des herannahenden Pöbels rief Godin: “Zweite Kompanie, Marsch!” Die Staatspolizei rannte vorwärts, aber die Putschisten brachen nicht ab und stellten sich dem Feind mit vorgehaltenen Bajonetten und Pistolen. Godin benutzte sein Gewehr, um zwei Bajonettstöße zu parieren, als auf einmal ein Schuss krachte. Godin hörte die Kugel an seinem Kopf vorbeifliegen; sie tötete einen Wachtmeister. “Für einen Bruchteil einer Sekunde stand meine Kompanie wie eingefroren. Dann, noch bevor ich den Befehl erteilen konnte, eröffneten meine Männer das Feuer mit einer Salve.”

Eine Fotomontage des Hitlerputsches von Heinrich Hoffmann, dem Parteifotografen
Eine Fotomontage des Hitlerputsches von Heinrich Hoffmann, dem Parteifotografen

Die Putschisten erwiderten das Feuer und Panik brach aus, als sowohl die Marschierenden als auch die Zuschauer sich in Sicherheit brachten. Einer von den ersten, die fielen, war Scheubner-Richter, in die Lunge getroffen. Ein anderer war Graf, der vor Hitler gesprungen war, um das halbe Dutzend Kugeln abzufangen, die für ihn bestimmt waren. Beim Sturz umklammerte der Leibwächter Hitler und riss ihn so stark nach unten, dass sein linker Arm ausgerenkt wurde. Auf der anderen Seite half der zusammenbrechende Scheubner-Richter ebenfalls, Hitler auf den Bürgersteig zu ziehen. Ludendorffs treuer Diener, dem befohlen worden war, nach Hause zu gehen, blutete auf dem Asphalt. Sein Freund Aigner, der Diener des sterbenden Scheubner-Richter, kroch zu ihm. Er war tot. Jemand trat über Aigner. General Ludendorff marschierte aufrecht, seine linke Hand in der Jackentasche, in die Schusslinie. [5]

[5] Viele der ersten Berichte gaben dies so wieder; sie lobten Ludendorff für seinen Mut, auf den Beinen zu bleiben, und kritisierten Hitlers Ausweichen als Feigheit, obwohl er auf die Straße gefallen war und seine Armverrenkung klar darauf hindeutete, dass er niedergerissen wurde. Zweifellos hätte Hitler als erfahrener Frontsoldat natürlich Deckung auf dem Boden gesucht – Zeuge Robert Murphy bezeugte später: “Sowohl Ludendorff als auch Hitler verhielten sich exakt wie die erfahrenen Soldaten, die sie waren. Beide fielen flach, um dem Kugelhagel zu entgehen.“ Ein anderer Augenzeuge, ein Wachtmeister, bestätigte, dass sich auch Ludendorff auf den Boden warf und Deckung “hinter einer Leiche oder einem verwundeten Mann” fand. Ein zweiter Wachmann bekräftigte ebenfalls  die Tatsache, dass niemand nach der Salve noch stand. (21)

Als Hitler auf dem Boden lag und glaubte, er sei auf der linken Seite getroffen worden, versuchten die Kameraden, ihn abzuschirmen. Achtzehn Männer lagen tot auf der Straße: vierzehn Anhänger Hitlers und vier von der Staatspolizei. Nur die, die vorne in der Marschkolonne standen, wussten was passiert war. Die Menge, die sich dahinter erstreckte, hörte nur Explosionen wie von Feuerwerkskörpern, und dann ein Gerücht, dass beide, Hitler und Ludendorff getötet worden waren. Wer konnte, machte sich davon.

Ludendorff marschierte durch die Polizeikette in die Arme eines Leutnants, der ihn festnahm und ihn in die Residenz brachte [dem ehemaligen Stadtschloss der Wittelsbacher]. Hitler rappelte sich auf und hielt seinen verletzten Arm. Er war in Qualen, als er sich langsam von dem Schlachtfeld entfernte, blass und mit Haaren über dem Gesicht. Er wurde begleitet von Dr. Walter Schultze, Chef der Sanitätstruppe der Münchner SA, einem hochgewachsenen jungen Mann. Sie stießen auf einen kleinen Jungen, der stark blutend am Straßenrand lag. Hitler wollte ihn mitnehmen, aber Schulze rief dem Cousin seiner Frau zu – einem Botanikstudenten genannt Schuster – den Jungen zu versorgen.

Am Max-Joseph-Platz erreichten sie schließlich Hitlers alten grauen Selve 6-20, der mit medizinischen Hilfsgütern beladen war. Ein älterer Sanitäter namens Frankel setzte sich mit dem Fahrer auf den Vordersitz, während Hitler und der Arzt auf den Rücksitzen Platz nahmen. Schuster stand auf dem Trittbrett und hielt den verwundeten Jungen. Hitler befahl dem Fahrer zum Bürgerbräukeller zu fahren, damit er herausfinden konnte, was los war. Aber am Marienplatz kamen sie unter schweres Maschinengewehrfeuer und mussten mehrmals die Richtung wechseln. Sie fanden die Ludwigsbrücke blockiert und drehten um.

Selve 6-20

Zu dieser Zeit hatte der Junge das Bewusstsein wiedererlangt und Schuster stieg ab, damit er den Jungen nach Hause mitnehmen konnte. Das Auto fuhr weiter in Richtung Sendlinger Torplatz. Hier begegneten sie einem weiteren Feuerstoß in der Nähe des Alten Südfriedhofs. Da es unmöglich schien, zur Bierhalle zurückzukehren, blieb nichts anderes übrig als weiter nach Süden in Richtung Salzburg zu fahren.

Görings Pour-Le-Mérite Orden hatte ihn nicht gerettet und er lag mit einer Kugel in seinem Oberschenkel auf dem Gehsteig. Frau Ilse Ballin, die aus dem Haus gestürzt war, um den Verletzten zu helfen, fand ihn stark blutend. Mit der Hilfe ihrer Schwester schleppte sie die schwere Last ins Haus. Die Schwestern verbanden Görings Wunde und wollten gerade einen Krankenwagen rufen, als er sie bat, ihm zu helfen, zu einer Privatklinik zu gelangen. Er wollte die Entwürdigung einer Verhaftung nicht ertragen. Frau Ballin, die Frau eines jüdischen Kaufmanns, hatte Mitleid mit ihm, und so entkam er dem Gefängnis. (20)

Es besteht jedoch Anlass, einige Details des obigen – traditionellen -Berichtes zu bezweifeln, insbesondere die Geschichte des verwundeten Jungen. In den Jahren nach 1933 hatte die Hagiografie der Partei die Geschichte soweit ausgeschmückt, dass Hitler den Jungen in seinen eigenen Armen aus der Gefahr trug; eine Tat, die sich, angesichts seiner verrenkten Schulter, als veritables Wunder qualifiziert hätte. Niemand bot jemals eine vertrauenswürdige Bestätigung an und leider wurde der Junge nie gefunden. Darüber hinaus mag die Geschichte einer Flucht mit dem Auto durch einen Hagel von Maschinengewehrgeschossen vor allem die eher leichtgläubige Bevölkerung angesprochen haben.

Heinrich Himmler, mit Fahne, auf Posten vor der Armeekommandantur

Die Konsequenzen des Fehler Hitlers, die Macht des Staates herauszufordern, waren jedoch sofort klar: in weniger als einer Minute hatte sich die Revolution in einen Exodus verwandelt, die geplante nationale Kampagne war in einer einzigen Salve von Kugeln zusammengebrochen. Vier Jahre von Träumen, Verschwörungen und Aufregung waren für nichtig erklärt. Die zweitausend Männer der Putschistenkolonne waren nach der Salve fast vollständig geflohen; die Blume der Rebellion suchte ihr Heil in der Flucht.

Aufräumen

Das Aufräumen beschäftigte die Polizei den größten Teil des Tages; sie fanden Putschisten, die sich an so seltsamen Orten versteckten wie unter den Mehlsäcken einer Bäckerei, öffentlichen Toiletten auf Friedhöfen und etwa ein Dutzend in den Schränken einer Akademie für junge Frauen. Bis zum Abend wurden über hundert Verhaftungen gezählt. Die nachgeordneten Ebenen der Bewegung, die die Sicherheit des Bierkellers dem Risiko der Straße vorgezogen hatten, hatten keine Lust, ihr Schicksal mit einer verlorenen Sache in Verbindung zu bringen. Sie stapelten ihre Gewehre auf dem Boden, verließen den Keller und verschwanden in der Menge.

Gedenkplatte vor der Feldherrnhalle

Was geschah mit den anderen Abteilungen der Putschisten, die zurückgeblieben oder mit Sonderaufträgen unterwegs waren?

Zwischen dem Bürgerbräukeller und der Innenstadt hielt die SA-Einheit von Gregor Strasser immer noch die Ludwigsbrücke, unter den immer noch feindseligen Blicken der Polizei. Die Nachricht vom Fiasko am Odeonsplatz erreichte sie bald und informierte sie darüber, dass Ludendorff tot sei und Hitler verwundet und gefangengenommen worden sei. Gregor Strasser zeigte nun einige der Erfahrungen, die er im Krieg gesammelt hatte. Da er keine Ambitionen hatte, als Märtyrer einer gescheiterten Sache zu enden, führte er seine Männer in einen taktischen Rückzug, der flink genug war, dass die Polizei keine Lücke zum Angriff fand. Die Kolonne marschierte in Richtung des Ostbahnhofs, als sie an einem Waldstück vorbeikamen, wo sie eine Abteilung der Münchner SA trafen, die ihre Gewehre an den Bäumen zertrümmerten – ein Zeitvertreib, den Strasser sofort unterbrach. Die Waffen, sagte er, würden sie an einem anderen Tag brauchen. Als der Bahnhof in Sicht kam, schlossen sie die Reihen, schnappten sich einen Zug und verschwanden.

Eine andere flüchtige Abteilung der SA, die welche die Stadträte verhaftet hatte, war bereits an der Strasse angekommen, die in südöstlicher Richtung von München nach Salzburg und zur österreichischen Grenze führte. Etwa auf halber Strecke, bei einem Wald in der Nähe von Rosenheim, stoppte die Kompanie, und die Gefangenen wurden in den Wald geführt. Sie müssen wohl das Schlimmste angenommen haben und waren deshalb fast ekstatisch dankbar, als sie aufgefordert wurden, sich nur ihrer Kleidung, nicht ihres Lebens, zu entledigen. Die Putschisten kletterten in die feschen Anzüge der Exzellenzen, verschwanden ruckzuck und überließen die ehrenvollen Stadtväter ihren eigenen Gedanken. Die Polizei fand sie irgendwann und brachte sie in ihre Büros zurück.

Die Lage am Tegernsee, wohin die Abordnung von Rudolf Heß den bayerischen Ministerpräsidenten Eugen von Knilling und die anderen Geiseln aus dem Bürgerbräukeller gebracht hatte, erwies sich als katastrophal. Hess hatte die verehrten Diener des öffentlichen Wohls in einer Villa am See verstaut, leider einer ohne Telefon. Heß brach auf, um ein solches zu finden – um seinen Erfolg nach München zu berichten und um weitere Anweisungen zu bitten – aber als er wieder im Gebäude ankam, fand er es verlassen: die Geiseln hatten ihre Wachen überredet, sie nach München zurückzubringen. So verlor Heß nicht nur seine Geiseln, sondern auch den Lastwagen und fand sich vierzig Meilen südöstlich von München, ganz allein.

Auf dem Odeonsplatz hatte das örtliche Rote Kreuz inzwischen die zahlreichen Verwundeten in Krankenwagen verladen. Scheubner-Richters treuer Diener Aigner stellte den Tod seines Arbeitgebers und seines besten Freundes, Ludendorffs Kammerdiener, fest und übernahm es, die Familien zu informieren. Er erinnerte sich später:

Krank und völlig erschüttert war ich in unsere Residenz in der Widenmayerstraße zurückgekehrt.“ Frau Scheubner-Richter fragte, wo sich ihr Mann befand. Aigner log zuerst, aber sie bestand auf der Wahrheit. “Ich kann mich immer noch an ihre Worte erinnern: ‚Das ist schrecklich, aber so ist es, wenn man die Frau eines Offiziers ist.‘”(23)

Der einzige Mann, der momentan nicht im Bild war, war Putzi Hanfstängl. Kurz bevor die revolutionäre Kolonne den Bierkeller verlassen hatte, war er zu einer anderen geheimen Mission geschickt worden: die taktischen Bewegungen von Polizei und Reichswehr im Stadtzentrum zu beobachten und darüber zu berichten.

Wo nur eine Stunde zuvor große Mengen von Bürgern die Parteisprecher in den Innenbezirken umzingelt und sich in Scharen gefreut hatten, zeigten sich die Gesichter der Passanten jetzt zögerlich. Die Mehrheit der Bevölkerung, der Polizei, der Reichswehr und des Kampfbunds hatte gedacht, die Truppen- und Polizeieinsätze in der Innenstadt seien Teil der Vorbereitungen für den ‘Marsch auf Berlin’, aber das Verständnis der traurigen Realität löste jetzt Sorgen aus, und ein Gefühl der Sinnlosigkeit.

Die städtischen Polizisten rissen die von Hitler, Kahr, Lossow und Seisser unterzeichneten Proklamationen des letzten Abends von den Türen und Mauern der Häuser ab und ersetzten sie mit der neueren Anti-Putsch-Erklärung von Kahr. Das Wetter schloss sich der Tristesse an, mit zeitweiligen Schauern aus bleiernem Himmel. In den Büros des Völkischen Beobachters, wohin ich mich zurückgezogen hatte, sah es nicht besser aus. Die vorherrschenden Gefühle waren Verwirrung und Depression und Rosenberg charakterisierte die Stimmung mit den Worten “Die Geschichte ist vorbei.”

Ich stimmte ihm heimlich zu und begann darüber nachzudenken, was ich als Nächstes tun sollte; dann marschierte ich nach Hause. Ich war gerade angekommen, als das Telefon klingelte, und meine Schwester Erna mich aufgeregt darüber informierte, dass Sauerbruch (der berühmte Chirurg) gerade angerufen hatte und mir erzählte, dass Hitler mit Ludendorff und den Männern gerade das Bürgerbräu verlassen hatte und sie über die Ludwigsbrücke in das Tal marschierten.“ (24)

Hanfstängl verließ sein Haus in Richtung Brienner Straße, die ihn in die Stadtmitte führen würde, doch bald darauf traf er zahlreiche flüchtende Männer. Ihm wurde mitgeteilt, dass die Polizei geschossen hatte, dass Hitler, Ludendorff und Göring tot wären und der Tag in “Finis Germaniae” geendet hatte. (25) Er drehte sich auf den Fersen um, um wieder nach Hause zu gehen, traf aber auf halbem Weg Esser, Amann, Eckart und Heinrich Hoffmann, den Fotografen Hitlers, die in einem offenen Wagen die Straße entlang rasten. Hanfstängl schloss sich der Gruppe an, die sich in die Wohnung von Hoffmann zurückzog, welche, wie sie vermuteten, am sichersten vor polizeilicher Durchsuchung  war. Bei der Ankunft begannen sie Vorbereitungen für eine Flucht nach Österreich in der Hoffnung, dass jeder Mann für sich alleine weniger auffällig sein würde als eine Gruppe.

Und so kam es, dass Helene Hanfstängl an diesem Tag in der kürzlich erworbenen Datscha der Familie in Uffing, etwa vierzig Meilen südlich von München, nicht von ihrem Ehemann besucht wurde, sondern von Hitler, ihrem großen Bewunderer. Für den Moment hatte Dr. Schultze bei ihm eine verletzte Schulter diagnostiziert, die, wie er feststellte, in einem kleinen, fahrenden Auto sehr schwer zu behandeln war. Hitler wies den Fahrer an, nach Uffing zu fahren.

Eine Soiree im Hause Hanfstängl, Helene im hellen Kleid, ihr Mann am Klavier

Es kann ein bedeutsames Zeichen sein, wohin ein Mann sich wendet, wenn er verletzt oder bedroht ist; in welche Richtung er seine Hoffnung auf Zuflucht richtet. Man hätte vermuten können, dass Hitler Landshut oder Rosenheim erreichen wolle; Orte, an denen SA-Einheiten existierten und wo die Polizei in lokaler Gleichgültigkeit gegenüber der Staatspolizei sie hätte unterstützen können.

Aber in dieser existenziellen Krise suchte er Schutz bei der Frau, die er am meisten bewunderte und respektierte, und, möglicherweise, unerreichbar liebte; Helene Hanfstängl, der schönen, intelligenten und vernünftigen Prominenten aus New York; einer Frau, die von seinen kleinbürgerlichen, niederösterreichischen Wurzeln so weit entfernt war wie nur vorstellbar. Sie war derjenige, der er das Geheimnis um die persönlichen Gründe seines Antisemitismus anvertraut hatte, und er erschien ständig mit den dümmsten Entschuldigungen in der Stadtwohnung der Hanfstängls; dass er zu müde war, um in seine Wohnung in der Thierschstraße zurückzukehren, dass er auf ein wichtiges Telefonat warten musste (er hatte keins in seiner Bude), oder dass jemand von der Straße ihn zu treffen suchte und bald klingeln würde. Für den Rest seines Lebens war Helene ein bevorzugtes Thema seiner privaten Gespräche. Ein alter Mitarbeiter erinnerte sich einmal daran, dass “er pausenlos über die Übel des Rauchens, Freude am Autofahren, Hunde, die Herkunft von Tristan und Isolde, die Schönheit von Frau Hanfstängl und über Juden laberte“.

Uffing

Die Flüchtlinge erreichten einen kleinen Wald am Rande des kleinen Dorfes Uffing, wo sie beschlossen, das Auto stehenzulassen. Sie gingen zu Fuß zum Häuschen der Hanfstängls, wo sie am späten Nachmittag ankamen. Frau Hanfstängl zeigte keine Überraschung über den plötzlichen Besuch und bewies sogleich, dass sie außer einer Halbgöttin auch eine praktische Frau war. Sie fütterte die Gesellschaft, half Dr. Schulze bei der provisorischen Fixierung von Hitlers Schulter und schickte ihre Gäste früh ins Bett.

Die Genossen fühlten sich immer noch kaum ausgeruht, als der Morgen dämmerte. Niemand hatte gut geschlafen, entweder aufgrund der Schmerzen, wie in Hitlers Fall, oder wegen der Spannung und Angst, mit der sie jede Minute das Auftauchen der Polizei erwarteten. Nach dem Frühstück bat Hitler den Sanitäter, mit dem Zug nach München zurückzukehren, die Bechsteins zu finden und sie zu bitten, ihre Limousine zu schicken, um ihn diskret abzuholen. Dr. Schulze wurde gebeten, das Fluchtfahrzeug nach München zurückzufahren und einen medizinischen Bekannten, einen Assistenten des berühmten Professors Dr. Sauerbruch, um Hilfe zu bitten. Wenn irgend möglich, sollte er ihn nach Uffing bringen, um Hitlers Arm zu versorgen.

Nach dem Abzug der beiden Ärzte versuchte Hitler, seiner Gastgeberin zu versichern, dass ihr Mann in Sicherheit sei [er hatte keine Ahnung, wo er war], und machte sich Sorgen, was mit seinen Kameraden passiert wäre. Falls er in dieser Nacht etwas Schlaf fand, wurde er jedenfalls gleich am nächsten Morgen durch das ohrenbetäubende Gebimmel der nahe gelegenen Kirchglocken aus dem Bett gerissen. Es war Sonntag, der elfte November 1923.

Hitler erschien erst beim Mittagessen. Wegen der Schlinge um seinen Arm konnte er seinen Anzug nicht tragen und hatte Hanfstängls riesigen dunkelblauen Frottee-Bademantel um sich gelegt. Es brachte ein Lächeln in sein hageres Gesicht. Er fühle sich fast wie ein römischer Senator, sagte er und erzählte Helene die Geschichte, wie sein Vater ihn einmal als “Toga-Boy” verspottet hatte. Im Laufe des Nachmittags wurde er unruhig und ging im Wohnzimmer auf und ab. In Bezug auf das Auto der Bechsteins wurde er immer ungeduldiger. Warum die Verzögerung? Es war nur eine Frage von Stunden, vielleicht Minuten, ärgerte er sich, bevor man seine Spur nach Uffing verfolgen würde. In der Abenddämmerung bat er Helene, die Fensterläden zu schließen und die Vorhänge zuzuziehen, dann setzte er sein grüblerisches Herumspazieren fort.” (26)

Die Polizei kam am nächsten Tag, Montag. Ernst Hanfstängl schrieb:

Zuerst kamen sie, um den Bauernhof meiner Mutter, außerhalb des Dorfes, eine gute Stunde lang zu durchsuchen; sogar in das Heu im Dachboden und in die Plumeaus auf den Betten wurden Bajonette hineingestochen. Mein Haus stand klar unter Beobachtung und Hitler wurde bewusst, dass eine Flucht unmöglich war. (27)

Die Konsequenzen, die Hitler aus der Anwesenheit der Polizei zog, waren, wenn wir der Erzählung von Herrn Hanfstängl glauben können, wahrscheinlich dazu geeignet, ein großartiges, wenn auch blutiges Finale zu zelebrieren. Hier müssen wir eine Minute abschweifen. Vor langer Zeit hatte Hanfstängls Musiklehrer in Harvard, Professor Marshall, seinen Schüler zu einem Abendessen im St.-Botholph-Club in Boston eingeladen, und zwar an jenem Abend, an dem ein Gastredner, ein Polizeibeamter aus Boston, eine grundsätzliche Einführung  zu Jiu-Jitsu, der Kunst der japanischen Selbstverteidigung, abhielt.

Als Demonstrationsobjekt des Dozenten ausgewählt, zeigte der Beamte mir einen nützlichen Trick, um einen im Besitz eines Revolvers befindlichen Angreifer zu entwaffnen, eine Bewegung, die ich – Jahre später – meiner Frau beibrachte. … Dann, am Abend des 11. November, stoppten vor der Hütte in Uffing zwei Polizeilastwagen voll grüner, uniformierter Staatspolizei – das Verhaftungskommando. Als meine Frau die Treppe zum Dachboden hinaufeilte, wo Hitler sich versteckt hielt, traf sie ihn im winzigen Vorzimmer mit einer Waffe an . “Dies ist das Ende!”, Schrie er. „Wollen mich diese Schweine verhaften? Da bin ich lieber tot!“ Doch bevor er seinen Plan umsetzen konnte, wendete meine Frau den Jiu-Jitsu-Trick des Bostoner Bullen an, und der Revolver flog in einem hohen Bogen in ein großes Mehlfass, wo er sofort verschwand. (28)

In einem Fragment ihres Tagebuches beschrieb Frau Hanfstängl die Geschichte wie folgt:

Hitler und seine Gefährten stiegen aus und versteckten sich im Wald, während der Chauffeur den Defekt zu beheben suchte. Bald stellte sich heraus, dass man einen Mechaniker benötigen würde. Die drei Männer konnten es sich nicht leisten gesehen zu werden, da sich die Nachricht von den Ereignissen in München auch auf dem Lande wie ein Lauffeuer verbreitete. Sie versteckten sich im Wald. Hitler dachte an unser Haus und sobald es dunkel war, machten sie sich auf den Weg. Auf dem langen, mühsamen Marsch vermied man Hauptstraßen und wählte versteckte Pfade. Da wir einen Seiteneingang haben, blieb ihre Ankunft unbemerkt. Ich holte sie ins Haus, sperrte ab und führte sie in den ersten Stock. Hitler beklagte den Tod seiner Mitstreiter Ludendorff und Ulrich Graf, die, wie er glaubte, an seiner Seite gefallen waren. Graf hatte, als die ersten Schüsse fielen, Hitler mit seinem Körper geschützt, im Fallen seinen Arm ergriffen und dabei verletzt.”  [Am nächsten Tag] … “Kurz nach 5 Uhr nachmittags läutete das Telefon. Es war meine in der Nähe wohnende Schwiegermutter, die uns, bevor sie unterbrochen wurde, hastig erzählte, dass bei ihr eine Hausdurchsuchung stattfinde. ‘Jetzt ist alles verloren!’ rief Hitler. Mit einer schnellen Bewegung ergriff er seinen Revolver, den er auf einem Schrank abgelegt hatte. Ich reagierte sofort, ergriff seinen Arm und nahm die Waffe an mich. ‘Wie können Sie beim ersten Rückschlag aufgeben? Denken Sie an Ihre Anhänger!’ Während er in einen Sessel sank, versteckte ich den Revolver in einem Behälter Mehl. Dann holte ich Papier und Füllfeder und bat ihn, solange noch Zeit wäre, Instruktionen zu verfassen – ein Blatt für jeden sollte genügen.” [1]

Dann begann die Göttin Hitler auszuschimpfen, als wäre er ein Schüler; sie erinnerte ihn an seine Pflichten – seine Männer, die Partei und die Leute – und bot an, sich schnell Notizen zu machen, wenn er seinen engsten Anhängern Nachrichten senden wolle, bevor die Polizei oben ankam. Hitler besann sich auf seine Pflichten, dankte ihr aufrichtig und begann, eine kurze Botschaft an seine Männer zu diktieren.

Rosenberg sollte als geschäftsführender Vorsitzender der NSDAP mit Amann als seinem Stellvertreter fungieren, der auch die Geschäfts- und Finanzangelegenheiten leiten sollte; und zusammen mit Julius Streicher und Hermann Esser ein Quadrumvirat bilden, das sich bis auf Weiteres um die Aktivitäten der Partei kümmern solle. Er ernannte den Ehemann der Göttin zum Hauptbevollmächtigten für die Beschaffung künftiger Beiträge und Spenden, ohne zu wissen, dass dieser gerade auf dem Weg nach Österreich war. Nachdem Frau Hanfstängl all dies notiert und im Mehlfass versteckt hatte, ging sie hinunter, um die Türklingel zu beantworten.

Die Geräusche von Polizeiautos, gebrüllte Kommandos und das Bellen von Hunden erfüllten die Luft des ruhigen Dorfes. Ein Trio von Polizisten erschien schließlich vor der Haustür des Hanfstängl und durfte eintreten. Helene führte die Männer nach oben in das kleine Wohnzimmer, öffnete die Tür und enthüllte Hitler, der noch in Hanfstängls Badekleidung gekleidet war. Ohne viel Aufhebens nahmen die Polizisten ihn in Gewahrsam; so glücklich, endlich ihre Beute gefunden zu haben, dass sie vergaßen, das Haus zu durchsuchen. Sie packten ihre Gefangenen in einen Lastwagen und fuhren sofort nach Weilheim, der Hauptstadt des Regierungsbezirks.

Es war fast zehn Uhr nachts, als sie am dortigen Amtsgericht ankamen, wo Hitler offiziell angeklagt wurde. Es wurde festgestellt, dass hinreichende Gründe vorlagen, ihn wegen Hochverrats anzuklagen. Der Gefangene solle sofort in das Gefängnis von Landsberg überstellt werden, einer kleinen Stadt etwa vierzig Meilen westlich von München. (29)

Ab dem 8. 11. 1933 hielten die Nazis eine jährliche Gedenkfeier ab.

(18) (19) (20) (22) [5] (23) (26) (29) John Toland, Adolf Hitler, Anchor Books 1976, ISBN 1992 0-385-42053-6, Seiten 169 – 176

(24) (25) (27) (28) Ernst Hanfstängl, Zwischen Weißem und Braunem Haus, Piper Verlag, München, 1970, ISBN 3-492-01833-5, Seiten 5-6, 143 – 149

[1] Christoph Schwennike, Süddeutsche Zeitung, 28/29.04.2007

(Übersetzungen und © John Vincent Palatine 2015/19)

Weiter: Im Gefängnis Landsberg

Aufrufe: 2743