Theobald von Bethmann Hollweg, im obigen Titelbild dritter von rechts …

In der historischen Betrachtung zur Geschichte des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges ist nicht nur die komplette diplomatische Konfusion von Bedeutung, die der Autor in “The Little Drummer Boy“, basierend auf den Quellen Luigi Albertinis beschrieben hat, und die Christopher Clark in seinem Bestseller “Die Schlafwandler” 2013 in ihrer ganzen Unfähigkeit wiederauferstehen ließ, sondern auch die sachlichen Irrtümer und/oder Illusionen, denen die Hauptdarsteller in den entscheidenden Momenten unterlagen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen.

Ob der Streit zwischen den Militärs und den Zivilisten über die Kriegserklärungen tatsächlich am 1. August entbrannte, ist fraglich. Fest steht jedoch, dass er am 2. August seine volle Schärfe erreichte. In einer Nachtsitzung, die von unge­fähr 2.30 bis 5.30 Uhr dauerte, wurde zwischen der zivilen und der militärischen Reichsspitze über diese Frage diskutiert.2969 Zunächst einmal ging es darum, ob man sich eigentlich mit Russland im Krieg befinde. Man hatte wohl aus St. Pe­tersburg noch keine Nachricht erhalten, ob die deutschen Kriegserklärung den Russen bereits übergeben worden sei. Zum anderen wurde über den Zeitpunkt der Kriegserklärung an Frankreich gestritten. Tirpitz setzte sich entschieden für eine Verzögerung dieser Maßnahme ein. Den Abgesandten des Heeres erschien eine formelle Kriegserklärung eher überflüssig: „Kriegsminister kam, war etwas brüsk gegen den Kanzler, der Krieg sei ja nun da und die Frage der Kriegserklä­rung an Frankreich sei gleichgültig. Moltke kam und sagte, das sei einerlei, der Krieg sei ja da.”2970 Ein Hinweis Bethmanns auf das Völkerrecht führte zu ei­nem heftigen Zusammenstoß zwischen ihm und Moltke. Beide sahen sich ge­zwungen, sich für ihren Ton zu entschuldigen. Immerhin konnte der General­stabschef mit der Mitteilung, russische Truppen hätten die Feindseligkeiten er­öffnet, die erste Frage der Besprechung klären. In schroffer Form wies Moltke dann Versuche zurück, den Durchmarsch durch Belgien zu streichen. Erbittert notierte Tirpitz, die Armee würde sich zugunsten der Landkriegsführung „rücksichtslos” über alle anderen Erwägungen und Einwendungen hinwegset­zen.2971 Die Reichsleitung machte auf die Militärs bei dieser Sitzung einen denkbar schlechten Eindruck, wie Tirpitz berichtete: „Allgemeiner Eindruck: gänzliche Kopflosigkeit der politischen Leitung. Dem Reichskanzler sind die Zügel gänzlich aus den Händen geglitten. Durchmarsch durch Belgien ihm offenbar nicht vorher bekannt, versuchte den abzuwenden. […] Es stellte sich her­aus,dass Österreich nicht gefragt war, ob es mit uns gegen Russland kämpfen wollte, das müsste schleunigst nachgeholt werden, Tschirschky Auftrag erhalten. Ebenso hat Italien keine Nachricht von unserer Kriegserklärung gegen Russland bekommen. Politische Leitung offenbar in erheblicher Deroute. Beim Herausge­hen Moltke und Kriegsminister und ich entsetzt über diese Deroute. Moltke meinte, er müsse jetzt die politische Leitung in die Hand nehmen …”2972. Dabei waren ein Teil der Vorwürfe, die Tirpitz hier erhob, unberechtigt. Der Reichs­kanzler kannte den Plan, durch Belgien zu marschieren, bloß hatte er anschei­nend die ganze Logik der deutschen Kriegsplanung nicht begriffen, die diesen Durchmarsch unverzichtbar machte.

anscar jansen, “DEr weg in den ersten weltkrieg”, Tectum Verlag 2005, ISBN 978-3-8288-8898-2, S.474

Wenn wir Clausewitz’s Formel über das Primat der Politik betrachten, so wird in diesem Zusammenhang wiederum klar, dass, wie in anderen Beiträgen schon ausgeführt, eine der wesentlichen Ursachen der Julikrise 1914 in der kompletten Abwesenheit von funktionierendem Krisenkontrollmanagement lag. Wenn Politik und Militär aneinander vorbeireden, passiert genau das, was dann passierte. Irrespektive vom Hollwegs genauen Kenntnissen scheint sich Tirpitz auch nicht sicher zu sein, was jeweils genau angesagt war, und welche Konsequenzen daraus jeweils entstehen.

Kaiser Wilhelm II zeigte ebenfalls Verkennungen der Realität, sei es aufgrund seiner üblichen Unbekümmertheit oder weil er einfach nicht nachfragte.

Schon am 26. Juli vermeinte er, nach der Lektüre der serbischen Antwort auf das österreichische Ultimatum, dass nun “jeder Grund zum Krieg entfallen sei” und schlug vor, Österreich solle sich darauf beschränken, Belgrad zu besetzen, als Unterpfand für zukünftiges serbisches Wohlbetragen. Nicht nur hatte er den wahren Zweck der Note, Serbien unter allen Umständen den Krieg zu erklären, wohl nicht begriffen, sondern wusste nichts von den österreichischen Mobilmachungsplänen, in denen ein solcher Plan schlicht nicht existierte. Jansen (s.o., S. 279) führt hierzu aus: “Ohne das es den Verantwortlichen in Berlin bewusst war, wäre eine Besetzung Belgrads für die Österreicher nur schwer durchzuführen gewesen. Nach deren militärischer Planung sollte der Hauptangriff aus Bosnien und Herzegowina erfolgen. Belgrad hätte so nur nach einem vollständigen Sieg über Serbien besetzt werden können. Die militärischen Planungen in der Donaumonarchie standen so einer friedlichen Lösung im Wege.”

In der Praxis wurde die österreichische Mobilmachung dann zu einem nicht sehr überraschenden Kuddelmuddel:

Obwohl vorherzusehen war, dass Russland nicht untätig bleiben würde, [da die Bündnisverträge zwischen Serbien und Russland bekannt waren – falsch hier, es gab keine, Anmerkung des Verfassers], reagierte Österreich-Ungarn als Antwort auf die serbische Mobilmachung vom 25. Juli 1914 nur mit der Teilmobilmachung und dem nach der am 28. Juli an Serbien erfolgten Kriegserklärung in Kraft gesetzten Plan „B“ [Aufmarsch gegen Serbien, aber an den Flanken, nicht gegen Belgrad]. Nach dem Bekanntwerden der russischen Generalmobilmachung vom 30. Juli 1914 hätte der Plan „R“ unverzüglich umgesetzt werden müssen; dies geschah jedoch nicht. Es gab keine Vorbereitungen dafür, einen einmal angelaufenen Mobilisierungsprozess anzuhalten oder abzuändern. Die dadurch zunächst weiterhin an die Serbische Front rollende „B“-Staffel wäre in Galizien dringend benötigt worden.

https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreich-Ungarns_Heer_im_Ersten_Weltkrieg (von Verfasser korrigiert)

Es gab keinen Plan, Belgrad zu besetzen, doch niemand unterrichtete den Kaiser, der mindestens bis zum 28. Juli, wahrscheinlich aber noch länger, die nicht existente Variante als Lösung des Problems propagierte. Regierung und Militär agierten in zwei verschiedenen Universen.


(© John Vincent Palatine 2020)

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