Historia Occidentalis

Ein Magazin zur Zentraleuropäischen Geschichte

Schlagwort: Erster Weltkrieg

Kein Land für alte Männer …

Alexander von Kluck mit dem Stab der Ersten Armee
Alexander von Kluck mit dem Stab der Ersten Armee

Aus “The Little Drummer Boy“, Kapitel XVIII, ‘De Bello Gallico

Die Eröffnungsschlachten des Großen Krieges hatten deutlich gemacht, dass dieser Konflikt der Industrienationen keine Ähnlichkeit hatte mit dem kurzen, siegreichen und ehrenvollen Krieg, den Patrioten bejubeln wollten und die Generäle versprochen hatten. Nicht nur hatten die letzteren, in jedem Land, die Ausgaben des modernen Krieges in Bezug auf Munition, Ausrüstung und Proviant ernsthaft unterschätzt, es wurde bald erschreckend klar, dass im Zeitalter des mechanisierten Kriegs Angriffe von Infanterie über weit offene Felder direkt in die Läufe von Maschinengewehren und Artillerie Verluste in Zahlen produzieren würden, die nie zuvor gesehen worden waren. Giftgas wurde bald zu einer weiteren schrecklichen Option um Leid zu produzieren.
Einer der großen Kontraste, die dieser Krieg produzieren würde, war der von Jung und Alt. Während die Industrieländer Europas ihre junge Männer im Alter von zwanzig Jahren oder weniger ins Feld schickten, waren die befehlshabenden Generäle des großen Krieges in geradezu biblischem Alter.

Im Jahre 1914 waren auf der deutschen Seite Moltke 66 Jahre alt, Hindenburg 67 und Kluck und Bülow beide 68. Auf der Seite der Alliierten, Joffre und Sir John French 62 und Gallieni 68. Ihr fortgeschrittenes Alter war nicht ein Resultat des Zufalls, sondern der Ausdruck des Vorkriegsglaubens an die “Erfahrung” als den herausragenden Wert in dem, was Stefan Zweig vor dem Krieg die “Welt der Sicherheit‘ nannte.

Diese alte Welt, alle ihre Gedanken nur auf den Fetisch der Sicherheit gerichtet, liebte die Jugend nicht; sie misstraute ihr ständig. … Österreich war ein altes Land, von einem alten Kaiser beherrscht, von alten Ministern regiert; ein Staat ohne Ehrgeiz, der sich alleine durch Gegnerschaft zu allen radikalen Veränderungen unversehrt im europäischen Rahmen zu erhalten hoffte. …
Es entstand also die Situation, unverständlich heute, dass Jugend ein Hindernis in jeder Karriere war und Alter alleine von Vorteil. Während heute, in unserer veränderten Situation, die vierzigjährigen suchen wie dreißig auszusehen, und die Sechzigjährigen vom Wunsch beseelt sind wie vierzig zu erscheinen, und Jugend, Energie, Entschlossenheit und Selbstvertrauen einen Mann empfehlen und hervorheben, war in diesem Zeitalter der Sicherheit jeder gezwungen, sich durch alle denkbaren Methoden zu tarnen; zu versuchen, älter zu erscheinen.
Die Zeitungen empfohlen Zubereitungen, die das Wachstum des Bartes beschleunigen sollten, und vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alte Ärzte, die gerade mit ihren Prüfungen fertig waren, trugen mächtige Bärte und goldene Brillen, auch wenn ihre Augen sie keineswegs brauchten, sodass sie den Eindruck von „Erfahrung“ auf ihre ersten Patienten machen konnten. Die Männer trugen lange schwarze Gehröcke, gingen in gemächlichem Tempo, und demonstrierten, so immer möglich, einen leichten Embonpoint; erworben, um die gewünschte Gesetztheit zu verkörpern; und die ehrgeizigen suchten, zumindest nach außen hin, ihrer Jugend Lügen zu strafen, da alle jungen Menschen der Instabilität verdächtigt wurden.

Wie zu erwarten, kam es niemand in den Sinn, dass dies der erste mechanisierte Weltkrieg für jeden war, sowohl Gefreite als auch Generäle.
Aber solange die Generäle auf beiden Seiten darauf bestanden, ungeschützte Männer über offene Felder zum Angriff auf andere Männer zu hetzen, die in geschützten und durch Stacheldraht und Schnellfeuerwaffen verteidigten Stellungen saßen, würden sich Opfer anhäufen. Dies war „die einfache Wahrheit der Grabenkämpfe von 1914 bis 1918.“ Was die Soldaten besonders wurmte, war die olympische Unnahbarkeit, die von einigen der wichtigsten Kommandeure demonstriert wurde.

Paul von Hindenburg und Erich von Ludendorff
Paul von Hindenburg und Erich von Ludendorff

Die teilnahmslosen Ausdrücke der Generäle, die von zeitgenössischen Fotografien auf uns zurückblicken, sprechen nicht von Gewissensbissen angesichts des Abschlachtens, über das sie den Vorsitz führten, noch von gespieltem Bedauern über die Umstände, in denen sie zu leben pflegten: das von der Front weit entfernte Schloss, die polierten Ordonnanzen, die glitzernden Kraftfahrzeuge, Begleitkavallerie; regelmäßige Routine, schwere Abendessen, die ununterbrochenen Stunden des Schlafes; Joffres zweistündige Mittagessen, Hindenburgs Zehn-Stunden-Nächte, Haigs therapeutische Tagesritte entlang gesandeter Straßen – auf dass sein Pferd nicht fehltrete – STAVKAs Diät aus Champagner und Hofklatsch, all dies schien, und war tatsächlich eine ganze Welt weit weg von den kalten Rationen, nassen Stiefeln, dreckigen Uniformen, überfluteten Gräben, verrotteten Unterkünften und der Läuseplage – Umständen unter denen, zumindest im Winter, ihre Untergebenen leben mussten.

Es ist unvermeidlich – früher oder später sucht der Soldat diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für die Bedingungen, denen er nicht nur durch den Feind, sondern auch durch seinen eigenen Vorgesetzten ausgesetzt ist, verantwortlich sind. Alle drei der frühen C-in-Cs der Westfront 1914 wurden eventuell abgelöst, Moltke schon im September 1914 [sein Nachfolger Falkenhayn am Ende des Jahres 1916, ¶], Sir John French im Dezember 1915, und Joseph Joffre wurde im Dezember 1916 wegbefördert, auf die ehrenvolle aber hohle Position eines „Marechal de France“.

Hindenburgs letzte Sünde

Leider neigten auch ihre Nachfolger nicht dazu, sich altersmäßig oder hinsichtlich geistiger Frische besonders hervorzuheben. Die britische Presse nannte das Britischen Expeditionskorps „Löwen, angeführt von Eseln“, und niemand hielt die Generäle für die Löwen. Krieg, so hatte Yeats paraphrasiert, ist „kein Land für alte Männer“, aber der Erste Weltkrieg war es, über den größten Teil seiner Dauer.

(© John Vincent Palatine 2015/19, Zitate etc. siehe The Little Drummer Boy, Kapitel XVIII und Anhänge)

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Die Häresie des Schlieffen-Plans


Update: Dieser und der folgende Beitrag werden demnächst unter Berücksichtigung des neuen Buches “Der Weg in den Ersten Weltkrieg – Das Deutsche Militär in der Julikrise 1914” von Anscar Jansen ergänzt – darin eine erste Analyse des bisher kaum bekannten Memorandums von Erich von Falkenhayn zur Lage 1914.


Folgender Beitrag: Moltkes Kriegsplan 1914


Vielleicht das berühmteste – und am meisten fehlinterpretierte militärische Dokument der Weltgeschichte – aber nicht, wie oft behauptet, die Blaupause für 1914 – ist das sogenannte “Große Memorandum” ( auch als “Schlieffen-Plan” bekannt), des deutschen Generalfeldmarschalls und Generalstabschefs Alfred Graf von Schlieffen – datiert auf 1905, dem Jahre seiner Pensionierung, aber wahrscheinlich erst 1906 fertiggestellt. Es war eine Denkschrift – eine militärpolitische Stellungnahme, die mehrmals das Thema der (Schlieffens Meinung nach) dringend nötigen Vergrößerung des deutschen Heeres behandelte – zu einer Zeit als ein Großteil des Budgets an die Flotte ging. Es war kein aktueller Aufmarsch-, geschweige denn ein Mobilisierungsplan. Link zur PDF – File

Dieses Bild zeigt 1914, nicht den Plan an sich, der lediglich durch die gestrichelten grauen Linien angedeutet wird.

Anmerkung des Verfassers: Der geneigte Leser möge bitte beachten Sie, dass dieser Beitrag das originale Große Memorandum des Grafen Schlieffen von 1905 behandelt – nicht was im Jahr 1914 passierte. “Was wäre, wenn” Betrachtungen a posteriori sind also in diesem Zusammenhang nicht hilfreich.

Die anvisierte Kriegsführung wurde auf beiden Seiten von offensiver Grundhaltung bestimmt – die Generäle glaubten, mit ausreichender Artillerieunterstützung jede Frontlinie durchbrechen zu können.

Der “Schlieffen-Plan” ist, wie jedes andere Dokument, in dem geschichtlichen Rahmen und Zusammenhang zu sehen, indem es entstand. Zwei Argumente sind hierbei besonders zu beachten: (1) Der Plan entstand aus einer bestimmten Tradition – der des preußischen Generalstabs, schnelle Feldzüge für begrenzte Ziele zu planen und durchzuführen, was 1866 und 1870/71 so gut geklappt hatte, und (2) niemand hatte eine Alternative. Holger Herwig, mit dem dieser Autor nicht unbedingt in allem übereinstimmt, argumentierte 2003 in dem Sammelband “The Origins of World War I”, Cambridge University Press, ISBN 0-521-81735-8, S. 155:

Den Kritikern von Schlieffen fehlte es jedoch an einer brauchbaren Alternative. Ihre Vision (oder Angst) eines zwischen sieben und dreißig Jahre andauernden Volkskrieges war inakzeptabel – für Kaiser, Generäle, das Parlament und die Nation. Das Zweite Reich war nicht das Dritte – eine totale Mobilisierung für totalen Krieg war für alle Anathema.
Würde man Schlieffens Blaupause eines kurzen Krieges für begrenzte Ziele – eine Strategie, die vor allem seit den Erfolgen von 1866 und 1870/71, tief in den preußischen militärischen Annalen verwurzelt war – a priori ablehnen, würde das die ganze Existenz und Berechtigung des Kriegshandwerks, wie Historiker Gerhard Ritter es nannte (und auf das der Generalstab so stolz war), ad Absurdum führen. Um es krass auszudrücken, müsse man folglicherweise zugeben, dass der gepriesene preußische Generalstab keine kurzen und erfolgreichen Vernichtungskriege mehr führen könne, was bedeuten würde, dass
Krieg an sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine gangbare Option mehr war. Für eine derart radikale Idee gab es in Deutschland nur wenige Abnehmer.

Also musste es Krieg sein. Nachdem der Erste Weltkrieg jedoch verloren war, wurde in verschiedenen Nachkriegswerken deutscher Offiziere, so von Hermann von Kuhl, Gerhard Tappen, Wilhelm Groener und einer Truppe von Historikern des Reichsarchivs unter der Regie des ehemaligen Oberstleutnants Wolfgang Förster, eine These oder Erzählung entwickelt, die in etwa besagte:

I. Dass, schon ab dem Jahre 1905, der ehemalige Chef des deutschen Generalstabs, Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen, einen Operationsplan für den Krieg im Westen konzipiert hatte, der den Sieg so gut wie garantierte, und

II. Dass das Scheitern von 1914 das Unvermögen seines Nachfolgers als  Generalstabschef, Generaloberst Helmuth von Moltkes des Jüngeren war,  den Plan korrekt auszuführen, was zum Verlust des Weltkrieges führte.

Die  frühe Nachkriegsgeschichte hat die These ohne rechten Widerstand hingenommen, auf Treu und Glauben sozusagen – vielleicht weil der Sieg von 1870/71 viele Theoretiker davon überzeugte, dass was damals gelang, auch 1914 möglich sein müsste. Auf Treu und Glauben jedoch auch, weil der berühmte Plan nie zur Verfügung gestellt wurde – nicht ein Fitzelchen wurde veröffentlicht, das die Vorwürfe unterstützen könnte. Doch im Prinzip – so viel wurde bekannt – sah der Plan einen Angriff auf Nordfrankreich durch Belgien vor und eine darauf folgende Einkreisung und anschließende Belagerung von Paris vor, welche zu der französischen Kapitulation führen sollte – mehr oder weniger wie in der irreführenden West-Point Karte unten dargestellt:

Nachdem die meisten deutschen Militärarchive in den alliierten Bombardierungen des Zweiten Weltkrieges zerstört worden waren, wurde eine Kopie des verloren geglaubten Plans 1953 von dem deutschen monarchistischen Historiker Gerhard Ritter in den National Archives in Washington gefunden. Wie es sich herausstellte, hatte sich das ursprüngliche Dokument gar nicht in irgendeinem militärischen Archiv, sondern in des Grafen Hause befunden – im Nachlass seiner Töchter. Im Jahr 1958 veröffentlichte Ritter das Papier in englischer Sprache, mit einem Vorwort von B.H. Liddell-Hart, unter dem Titel „The Schlieffen Plan – Critique of a Myth“ bei Praeger, New York (die ursprüngliche deutsche Fassung war 1956 bei R. Oldenbourg, München, erschienen). [Keine ISBN Nummer oder Library of Congress – Karte für die englische Ausgabe verfügbar]

Warum ist das Dokument mit Vorsicht zu behandeln? Einige Hinweise: Das Memorandum beschreibt einen Krieg allein gegen Frankreich – keinen Zweifrontenkrieg einschließlich Russlands – und ohne britische Beteiligung. Der Plan setzt alles in allem 94 Divisionen ein – eine Zahl, die nie existierte (Moltke musste sich im Jahre 1914 mit 68 Divisionen behelfen, von denen einige Wachdienst an der Nordseeküste schoben und einige andere die Städte Maubeuge und Brüssel belagerten) – aber von entscheidender Bedeutung sind die zahlreichen logistischen und räumlichen Unmöglichkeiten des Plans. John Keegan analysierte sie gnadenlos in „The First World War“, Vintage Books 2000, ISBN 0-375-40052-4361, und ich darf seine Analyse ausführlich zitieren:

Ritters Buch – Kopie des Autors
Schlieffens Karte 1: Der Aufmarsch

Schlieffens mitternächtliche Haarspalterei hatte sich nicht zum Ziel gesetzt, einen exakten zahlenmäßigen Vergleich zwischen deutscher und französischer Truppenstärke zu liefern, sondern die maximale Kapazität der belgischen und französischen Straßennetze zu eruieren. Solche Berechnungen gehörten zu den Grundlagen der Ausbildung an den Kriegsschulen; wo Studenten aus vorbereiteten Tabellen die Länge von Marschkolonnen bestimmten  – neunundzwanzig Kilometer für ein Korps, zum Beispiel – um auf Straßenkarten zu messen, wie viele Truppen einen gegebenen Sektor mit welcher Geschwindigkeit passieren könnten.

Da zweiunddreißig Kilometer die Grenze eines Eilmarsches war,  wäre dies der maximale Vormarsch eines Korps auf einer einzigen Straße; aber das Ende einer neunundzwanzig Kilometer langen Säule würde sich am Ende des Tages immer noch nahe oder am Abmarschpunkt selbst befinden.

Gäbe es zwei parallel verlaufende Straßen, würden die Enden die halbe Distanz vorrücken, wenn vier, drei Viertel, und so weiter. Idealerweise würden die Einheiten eines Korps nicht als Kolonne, sondern in Linie nebeneinander voranziehen, sodass alle Mann am Ende des Tages zweiunddreißig Kilometer weiter ankämen; in der Praxis, wie Schlieffen selbst in einer Korrektur zugab, waren parallele Straßen bestenfalls alle ein bis zwei Kilometer auseinander zu finden.

Geplante Situation am 22. Tag – alle Korps nummeriert und alle Straßen proppenvoll …

Während sich seine große Kreisbewegung sich auf einer Front von dreihundert Kilometern mit etwa dreißig Korps nach vorn bewegte, würde jedes Korps nur über ungefähr zehn Kilometer Front zum Vorrücken verfügen, an denen es bestenfalls sieben parallele Straßen gäbe. Das war nicht genug, um der Nachhut zu erlauben, am Ende des Tages zur Vorhut aufzuschließen. Der Nachteil war nicht zu korrigieren; er verbot absolut jeden Versuch, mehr Truppen in den Radius des Rades zu pressen. Sie hätten keinen Raum zum Manövrieren, es gab einfach nicht genug Platz.

Hier kommen wir nun zu der Frage, auf welchen Straßen die sechs (nicht existenten) Ersatz-Corps, die wie der aufmerksame Leser bemerkt, plötzlich aus der Luft in Karte 3 erscheinen, nach Paris marschiert sind?

Am 31. Tag erscheinen plötzlich die (nicht existenten) sechs Ersatzkorps (d.h. 12 Divisionen, markiert in Grün), wie von Scotty hingebeamt, um Paris …

Es ist an dieser Stelle, dass der aufmerksame Leser des Großen Memorandum den Plan auseinanderfallen sieht: Karte 3 zeigt in keiner Weise, wie die neuen Korps sich „Paris, dem zentralen Stützpunkt der großen Festung, die Schlieffens Frankreich war“, überhaupt erreichen könnten, geschweige denn die Stadt belagern. Das Korps erscheinen einfach auf der Karte, ohne Hinweis darauf, wie sie den Stadtrand von Paris erreichen. Die „Kapazität der Bahn“ ist irrelevant; in Schlieffens Plan war die Eisenbahn nur dazu da, die Angreifer bis zur deutschen Grenze von Belgien und Frankreich zu bringen. Danach war es das weiterführende Straßennetz und die Stiefel der Infanterie, die die Geschwindigkeit des Vormarsches bestimmen würden.

Schlieffen selbst berechnete die durchschnittliche Marschleistung mit 12 Meilen (ca. 19 km) pro Tag. In der Krise vom August und September 1914, würden sowohl deutsche wie auch französische und britische Einheiten dies überbieten, manchmal Tag für Tag – das 1. Bataillon des Gloucestershire Regiments legte gemittelt sechzehneinhalb Meilen während des großen Rückzugs von Mons nach der Marne zurück, vom 24. August bis 5. September und schaffte dreiundzwanzig bzw. einundzwanzig Meilen am 27. und 28. August – aber Schlieffens Mittelwert war nicht weit von der Marke. Von Klucks Armee auf dem äußeren Flügel des großen Rades erreichte etwas mehr als 13 Meilen (ca. 21 km) pro Tag zwischen dem 18. August und 5. September 1914, über eine Entfernung von 260 Meilen (ca. 418 km).

Damit die „acht neuen Korps“, die Schlieffen als Clincher für seinen Plan brauchte, in die vorgesehene Position hätten gelangen können, hätten sie tatsächlich nicht nur schneller und weiter als benötigt marschieren müssen, was gegen alle Wahrscheinlichkeit spricht, aber dies entlang denselben Straßen zu tun die schon von anderen Korps besetzt sind ist eine einfache Unmöglichkeit.

Es ist daher nicht verwunderlich, im Text des Großen Memorandum des Autors´Geständnisse begraben zu finden wie, dass „wir zu schwach sind“, um den Plan zu einem Abschluss zu bringen und, in einer späteren Anmerkung, „auf solch einer verlängerten Linie noch größere Kräfte brauchen werden als wir bisher geschätzt haben.“ Er war in eine logistische Sackgasse gelaufen. Die Eisenbahnen würden die Truppen für sein großes Rad positionieren; die belgischen und französischen Straßen würden es ihnen ermöglichen, den Stadtrand von Paris in der sechsten Woche ab dem Tag der Mobilisierung zu erreichen; aber sie würden nicht in der notwendigen Stärke ankommen, um die entscheidende Schlacht zu gewinnen, wenn sie nicht von acht Korps begleitet wären – 200.000 Menschen – für die es keinen Raum gab. Sein Plan für den Blitzsieg war in sich selbst fehlerhaft – wurde aber dennoch zum Einsatz vorgemerkt.

In der ursprünglichen 1956er Ausgabe von Gerhard Ritter (siehe obiges Foto) sind die Karten an der Rückseite des Buchs gebunden und von geringer Qualität. Ich habe sie in die relevanten Teilen des Textes platziert und farbig gekennzeichnet, um dem Memorandum besser folgen zu können.

Das Problem des Plans, so wie er vorliegt, ist seine Interpretation. Nachdem der Praktiker Terence Zuber (ehemaliger Offizier der US Army und in Würzburg promovierter Historiker) ab 1999 in verschiedenen Veröffentlichungen argumentierte, dass der Plan eben nur eine Denkschrift sei, und es keine Anzeichen dafür gäbe, dass er jemals Grundlage von Manövern oder auch nur einer nachvollziehbaren fachlichen Diskussion war (im Gegenteil – in den 1990ern wurden Dokumente über die tatsächlichen Übungen, die sein Nachfolger Moltke bis 1914 abhielt, aus Beständen der ehemaligen DDR gefunden), gab es ein großes Geschrei der etablierten Historiker, weil nicht sein kann was nicht sein darf. Siehe Zuber, Terence, “The Real German War Plan 1904-14“, The History Press 2001, ISBN 978-0-7524-5664-5.

Es wurden eigens internationale Tagungen einberufen, um die Häresie zu unterbinden, jedoch macht Zuber’s Kritik, deren Eckpunkte man vielleicht am besten in dem Artikel der englischen Wikipedia nachlesen kann, durchaus Sinn. Das Problem der konservativen Gegenkritik- also des Status Quo – das leider praktisch nie angesprochen wird – ist, das man davon ausgehen müsste, dass der deutsche Generalstabschef bis 1905 sich Planungen hingab, die seit dem französisch-russischen Bündnis seit 1890 völlig unrealistisch waren – es würde keinen Einfrontenkrieg geben, worauf Terence Holmes ebenfalls hinwies.

Es wird argumentiert dass die Denkschrift die kurzzeitige militärische Schwächung Russlands nach der Katastrophe des russisch-japanischen Kriegs miteinbezieht. Dies ist jedoch eher irrelevant, da in diesem Krieg die Hauptverluste Russlands ihre Flotte betrafen, die die deutsche Marine sowieso nicht interessierte – die Hochseeflotte rüstete gegen England.

Das Hauptproblem der bisherigen Gegenkritik ist, dass sie eben die Geschehnisse von 1914 argumentiert – nicht wirklich das Memorandum von 1905 an sich. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) hat 2007 “Der Schlieffenplan: Analysen und Dokumente“, editiert von Michael Epkenhans, Hans Ehlert and Gerhard P. Groß. Das Buch ist nun angekommen und wird ausgewertet und für die englische Version dieses Beitrags übersetzt. Es enthält auch vier großformatige Kartenblätter.

Erster Eindruck [Update 05.06.2019]: Das Problem des Kompendiums liegt wohl in der Organisation der zugrundeliegenden Konferenz vom 30. September bis 1. Oktober 2004. Der Grund für die Einberufung der Konferenz war die grundlegende Kritik von Terence Zuber gewesen – siehe oben. In der Durchführung wurde dies aber nicht zum Thema gemacht, sondern es erhielten verschiedene Teilnehmer die Gelegenheit, ihre eigenen Thesen zum “Schlieffenplan” vorzutragen – aber nicht, wie oben angesprochen, auf die Denkschrift von 1906 einzugehen, sondern ihre eigene, bisher unveröffentlichten Meinungen zu den Entwicklungen der deutschen Aufmarschpläne 1905 – 1914 bzw. den Geschehnissen von 1914 kund zu geben.

Man muss hier differenzieren: Als Zuber nach 2000 den Schlieffenplan als “Mythos” bezeichnete, meinte er nicht dass der Plan nicht existierte – die Denkschrift liegt ja vor – sondern er wies auf die Inkongruenz der Denkschrift (siehe John Keegan’s Analyse der taktischen Undurchführbarkeit und die “Geisterdivisionen”) mit der nach 1918 entwickelten Legende hin, dass Schlieffen einen perfekten Plan vorgelegt habe, den der jüngere Moltke nicht begriff, oder durch Planänderungen “verwässerte”.

Dieser Beitrag betrifft die Denkschrift von 1905/6, wie oben angeführt, nicht die Ereignisse von 1914 oder die Vorbereitungen und eventuellen Planungen unter Moltke. Dies war jedoch nicht das Thema der Konferenz. Annika Mombauer entwickelt Thesen zu etwas, das sie den “Moltkeplan” nennt, also zur Geschichte des immer noch unbekannten tatsächlichen Kriegsplans von 1914. Andere Beiträge behandeln die Situationen, Planungen und politischen Realitäten in Österreich-Ungarn (Günter Kronenbitter), Frankreich (Stefan Schmidt), Russland (Jan Kusber), Großbritannien (Hew Strachan), Belgien (Luc De Vos) und der Schweiz (Hans Rudolf Fuhrer und Michael Olsansky). Ungeachtet der Qualitäten dieser Beiträge stellt sich dabei die Frage der Relevanz.

Ein weiteres Kernproblem ist dass die Frage der Kriegsschuld, die grundsätzlich eine politische, keine militärische Frage ist, unauslöschlich mit der Diskussion vermengt wird – manchmal entsteht der unausgesprochene Eindruck “offensiv” wäre synonym mit “böse” oder “schuldig” und “defensiv” bedeute “gut”. Fakt ist dass alle Großmächte 1914 offensive planten und daher dürfte sich diese Frage im Militärbereich nicht stellen.

Die Kernthese Zubers war, dass der “Schlieffenplan” (in der Form der vorliegenden Denkschrift) kein tatsächlich durchführbarer Plan war und nichts dafür spricht, dass er tatsächlich die Grundlage für die Planung von 1914 bildete.

Ein weiteres schwerwiegendes Beispiel für die taktische Undurchführbarkeit des Plans, das John Keegan wohl aus Platzmangel ausließ, wäre die Umzingelung von Paris, wie geplant von der 1. Armee (und sechs nicht existierenden Ersatzkorps). Wenn wir einen Einschließungsring in der Linie Compiègne – Pontoise – Plaisir – Orsay – Évry – Brie-Comte-Robert zugrunde legen – siehe Grafik – bedeutet dies eine zusätzliche Frontlänge von über 400 Kilometern (zweiseitige Einschließungsfront wie in Alesia) ohne jede Flankensicherung oder Rückendeckung – die die Franzosen geradezu zu einer katastrophalen Einkesselung des Westteils einladen würde.

Angenommene Belagerungslinie von Paris
Das Risiko einer Einkesselung

Folgender Beitrag: Moltkes Kriegsplan 1914


(© John Vincent Palatine 2019)

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Aufbau einer Division im Ersten Weltkrieg

Das 76. Füsilierbataillon in the Schlacht von Loigny am 2. Dezember 1870

Relevante Beiträge:

Die Organisation des Heeres

Die Preußischen Armeereformen


Wenn wir über moderne Kriegsführung nach 1800 sprechen, fällt immer der Ausdruck “Division “. Aber was genau ist eine „Division“? Untersuchen wir dieses Konzept am Beispiel des Ersten Weltkriegs:

Notabene: Dieser Beitrag bezieht sich auf „Division“, wie das Wort im Landkrieg verwendet wird. Es kann in anderen Zusammenhängen sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Bei Seestreitkräften hat die Benutzung des Begriffes „Division“ oft eine ganz andere Bedeutung, die sich auf entweder eine administrative oder funktionelle Untereinheit einer Abteilung (z.B. die Feuerkontrolldivision der Waffenleitstelle) an Bord von Marine oder Küstenschutzschiffen beziehen kann, oder auf Marineflieger-Einheiten, zu einer Untereinheit von mehreren innerhalb einer Flotte oder Fliegerstaffel, oder auf zwei oder drei Gruppierungen von Flugzeugen unter einem bestimmten Kommandoführer. Einige Sprachen wie Russisch, Serbokroatisch und Polnisch, verwenden das ähnliche Wort „Divizion“ bzw. „Dywizjon“ für ein Bataillon als größte Artillerie oder Kavallerie-Formation der jeweiligen Einheit.

Die Aufteilung der Armeen in ‚Divisionen‘ wurde Praxis während der beiden Französischen Koalitionskriege (Frankreich gegen das konterrevolutionäre Österreich, Russland und Preußen) in den 1790er Jahren und der anschließenden napoleonische Ära, in denen Armeen aufgeteilt werden mussten, um sich gegen oder Angriff mehr als eines Feindes zu verteidigen oder zu bestimmten Zeitpunkten taktische Aufgaben zu erfüllen, wie Flankenangriffe oder Einkesselungsmanöver. Im Gegensatz zu den Kabinettskriegen des vorherigen Jahrhunderts, die zumeist lokal begrenzt waren, musste die französische Revolutionsarmee an verschiedenen fronten zugleich operieren, wodurch sich die Schaffung einer zusätzlichen Kommandoebene zwischen Armeeführung und Regiment als notwendig erwies.

Das System zeigte Kinderkrankheiten – manchmal gelang es, Divisionen von ihren Nachbarn zu trennen und einzeln zu vernichten und so wird es im allgemeinen Napoleon zugeschrieben, das Armeekorps als weiter übergeordnete Führungsebene eingeführt zu haben.

Die Definition einer ‚Division” ist, dass es die kleinste Untereinheit einer Armee ist, die unabhängigen Aufgaben erfüllen kann, d.h. die kleinste Einheit, die alles besitzt, um einen eigenen kleinen Krieg zu führen. Daraus folge, dass eine Division mehr als Soldaten, Waffen und Munition haben muss: sie muss einen Führungsstab haben, Ingenieure bzw. Pioniere, Signal- bzw. Nachrichtentruppen, Versorgungstruppen, einen Sanitätsdienst, ein Krankenhaus, ein Postamt, Küchen, Wäschereien, einen Kartenraum und so weiter.

Organisationsplan

Bis 1915 waren in der deutschen Armee die Spezialtruppen – Fernsprech-Abteilungen, Flak-Züge, Pionier-Bataillone, Minenwerfer-Kompanien, Sanitäts-Kompanien, Feldlazarette, Kraftwagen-Kolonnen, Pferde-Lazarette, Jäger, Fußartillerie und Train etc. – nicht der Division direkt, sondern dem übergeordneten Armeekorps als Korpstruppen unterstellt. Dies erwies sich im Kriegsfall jedoch als unpraktisch, und wurde geändert. Ebenfalls stellte sich im Weltkrieg, zumindest im Stellungskrieg an der Westfront, schnell heraus dass Kavallerie dort im Prinzip überflüssig war – die vorhandenen Einheiten wurden verkleinert bzw. an die Ostfront verlegt, wo ihre traditionelle Funktion der Aufklärung eher noch verwendet werden konnte. Aufgrund der allerhöchsten Wünsche seiner Majestät Wilhelm II wurden noch bis in die Kaisermanöver von 1913 unsinnige Kavallerieangriffe geübt, die sich in der Praxis ab 1914 jedoch als Massenselbstmord per Maschinengewehr erwiesen.

Kavallerieattacke Kaisermanöver 1913

Es gab durchaus, zumindest anfangs, seltsame Bräuche. Die Garde der preußischen Divisionen wurde z.B. nach Körpergröße geordnet.

Die Zahlen gaben die Körpergröße über 1 Meter an …

Im Ersten Weltkrieg bestand ab 1915 eine voll ausgerüstete deutsche Infanteriedivision, zumindest theoretisch, aus folgenden Truppen:

4 Infanterieregimentern mit jeweils 3000 Mann; jedes Regiment bestehend aus 3 Bataillonen von jeweils 1000 Mann; jedes Bataillon bestehend aus 4 Kompanien von jeweils 250 Mann; insgesamt 12.000 Infanteristen;

1 Artillerieregiment, bestehend aus 12 Feldbatterien von je 6 x 135 mm Kanonen und 2 schweren Batterien mit jeweils 4 x 155 mm Kanonen (einige Divisionen hatten ein zusätzliches Schweres Haubitzen-Bataillon mit 16 x 150 mm Haubitzen);

2 Kavalleriebrigaden mit jeweils 680 Säbeln, manchmal unterstützt durch zwei eigene Geschützbatterien und einer Kompanie mit 6 schweren Maschinengewehren; da sich die Kavallerie an der Westfront als eher überflüssig erwies, wurde sie dort stark verkleinert – oft blieb nur eine Eskadron übrig. Mache Kavallerietruppen wurden aufgelöst und die Pferde den Nachschubtruppen zugeteilt. Kavallerie spielte eigentlich nur an der Ostfront als Aufklärungstruppe eine Rolle.

1 Staffel Aufklärungsflugzeuge mit sechs Maschinen, Piloten und Mechanikern;

1 Artillerie-Brigade zbV. nach dem Ermessen des Divisionskommandeurs (54 leichte 77 mm Kanonen und 18 135 mm Geschütze);

1 schwere MG-Kompanie mit 6 MGs;

1 Haubitzenbataillon mit 18 105 mm Geschützen;

Dazu Divisionstruppen und Unterstützungspersonal:

1 Battalion Pioniere;
1 Signal- und Nachrichtenabteilung mit 2 Kompanien;

1 Quartiermeisterzug mit 2 Kompanien;

1 Verwaltungskompanie;

2 Küchenkompanien (Metzger, Bäcker, Köche);

1 Feldpostamt;

1 Sanitätskorps, bestehend aus 2 Krankenhauskompanien und 4 Transportkompanien;

1 Veterinärkompanie;

1 Divisionsstabskompanie mit 4 Stäben: Kommandant, Operationsoffizier (Ia), Versorgungsoffizier (Ib) und Nachrichtenoffizier (lc);

1 Kartenraum;

1 Musikkorps und

1 Kompanie Feldpolizei (MP).

Infanterie zu Beginn des Krieges

Eine komplette Infanteriedivision bestand also aus rund 20.000 Menschen, 7.000 Pferden und einem Zug von 1.200 Versorgungswagen. Doch eine Division, die alle diese Truppen tatsächlich besaß, müsste sich in der Tat glücklich nennen – nach der ersten Schlacht mussten sich die meisten Divisionen mit der Hälfte dieser Zahlen behelfen – oder weniger. In der Praxis – nach den großen Verlusten der ersten Wochen – stellten Generalstäbe gleich ganze Korps ab, um die unabhängigen taktischen Rollen zu übernehmen, die einzelnen Divisionen vor der Schlacht zugewiesen worden waren.

Offiziere an der Ostfront

In Bezug auf die vertikale Zusammensetzung bildeten zwei Divisionen ein Korps und zwei Korps eine Armee. In der Praxis, als sich der Krieg hinzog und viele Einheiten mit kleineren Zahlen auskommen mussten, neigten Korps zu rascher Vergrößerung, manchmal bis zu vier Divisionen. Verluste hatten die durchschnittlichen Divisionsstärken schnell halbiert. Wenn ganze Divisionen nicht verfügbar waren oder aufgeteilt werden mussten, wurden Infanteriebrigaden gebildet, halbe Divisionen – zwei Regimenter Infanterie und was immer an Artillerie zur Verfügung stand.

Jedes Land wich von der Regelung in charakteristischer Weise ab. Französische Divisionen waren mit einer ganzen Brigade aus vorher festgelegten Reserven ausgestattet und während ihre Feldartillerie, die 75 – mm – Kanone , sich als ausgezeichnet erwies – besser als das deutsche 77 mm Modell – waren sie in der Regel in den größeren Artilleriekalibern schwächer. Britische Divisionen waren etwas größer und kompensierten einen anfänglichen Mangel an Maschinengewehren mit ausgezeichneter infanteristischer Treffsicherheit. Russische Divisionen – zumindest während der frühen Feldzüge – waren riesig, da sie nicht nur drei, sondern vier Infanterie-Regimenter besaßen, also sechzehn Bataillone statt zwölf. Amerikanische Divisionen waren in der Tat kolossal, etwa doppelt so groß wie deutsche.


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(© John Vincent Palatine 2015/19)

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