Historia Occidentalis

Ein Magazin zur Zentraleuropäischen Geschichte

Schlagwort: John Toland

Die Deutsche Revolution von 1918

Der Gipfel menschlicher Entwicklung …

Videos mit Originalaufnahmen: Kurt Eisner / Doku Revolution


Schon Anfang Januar 1918 hatten Industriearbeiter in Berlin begonnen, für ein Ende des Krieges zu streiken und ihr Protest brachte die SPD dazu, ihre Position zu überdenken. In der anfänglichen Begeisterung des Augusts 1914 hatte die Partei Kaiser Wilhelms Aufruf zu nationaler Einheit in Zeiten der Gefahr akzeptiert und für die Kriegskredite gestimmt, aber die Entbehrungen der Lebensmittelrationierung, die Anstrengungen der Kriegsproduktion und die wachsende Inflation belastete die Treue ihrer Anhänger schwer. In vielen Fabriken waren Arbeitstage von 12 bis 14 Stunden die Norm – an sieben Tage der Woche. Wären die Löhne angemessen gewesen, oder vielmehr, hätte es Waren zum Erwerb gegeben, hätten die Arbeiter den Härten mit mehr Toleranz begegnen können, aber unter dem Trauma des vierten Kriegswinters fühlten sogar gemäßigte Sozialisten Handlungsbedarf. Ihr Unmut über die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen, die weitgehend die Folge von Hindenburgs und Ludendorffs Vernachlässigung des Agrarsektors waren, wurde von den liberalen bürgerlichen Parteien geteilt, die auch die Arroganz kritisierten, mit der die Generäle das Land regierten. Eine Stimmung des Protestes erhob sich langsam in den Schützengräben von Frankreich und Belgien, die sich bald …

Streik der Munitionsarbeiterinnen, Berlin, Januar 1918

… nach Deutschland selbst weiterverbreitete, das viele Monate lang unter einer virtuellen Militärdiktatur gelitten hatte, und am Montag, den 28. Januar 1918, begannen Arbeiter in ganz Deutschland zu streiken. Ihre Hauptforderung war Frieden, aber auch ein Mitspracherecht der Arbeitnehmervertretungen bei den Verhandlungen mit den Alliierten, erhöhte Lebensmittelrationen, die Abschaffung des Kriegsrechts und die Schaffung einer demokratischen Regierung für ganz Deutschland. In München und Nürnberg marschierten zwar nur ein paar tausend Arbeiter durch die Straßen und forderten sofortigen Frieden ohne Annexionen, aber in Berlin verließen 400.000 Arbeiter ihre Arbeitsplätze, um ein Streikkomitee zu organisieren.

Berliner Streikposten

Sie wurden zwar innerhalb einer Woche zurück an die Arbeit gezwungen, aber der Geist der Rebellion blieb in der Hauptstadt lebendig und es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis eine ausgewachsene Revolution ausbrechen würde. Die Nachricht von dem Generalstreik wurde an der Front mit gemischten Gefühlen empfangen. Viele der Soldaten waren zwar kriegsmüde und genauso angewidert wie die Bevölkerung, aber fast genauso viele fühlten sie sich durch die Zivilisten betrogen.

Für Hitler war es „die größte Schikane des ganzen Kriegs“ und er erzürnte sich über die „ roten Faulenzer.“  Wofür kämpfte die Armee, wenn die Heimat selbst nicht mehr den Sieg wollte? Für wen dann die immensen Opfer und Entbehrungen? „Von den Soldaten wird erwartet für den Sieg zu kämpfen und dann fängt die Heimat an, gegen sie zu streiken.“ [John TolandAdolf Hitler, Anchor Books 1992, ISBN 0-385-42053-6, S. 69]

Hitlers erster Fronturlaub in Berlin hatte ein paar Wochen vor dem Streik stattgefunden und als er zum zweiten Mal durch die Hauptstadt spazierte, um den 19. November 1918 herum, war die Aufregung der vergangenen Wochen bereits abgeklungen.

Die Massaker des 6. Dezember waren noch mehr als zwei Wochen in der Zukunft. Bei diesem Vorfall fand sich eine Demonstration von Spartakisten, die um eine Straßenecke bogen, plötzlich einer Reihe von Maschinengewehren gegenüber, besetzt von Soldaten aus dem wegen ihrer Abzeichen  „Maikäfer“ genannten Garde-Füsilier-Regiments des Gardekorps, die fünf Minuten lang auf alles feuerten, was sich bewegte, bevor sie sich auf den Rückzug in die Sicherheit und Anonymität ihrer Kaserne machten und die Toten und Verwundeten ihrem Schicksal überließen. Es wurde nie herausgefunden, wer die Mörder waren. 

Hitler jedoch war kurz vorher sicher nach München zurückgekehrt, musste aber zu seinem Erstaunen erkennen, dass sich seit dem 7. Dezember vieles verändert hatte.

Während des Krieges hatte sich die bayerische sozialistische Bewegung aufgespalten, wie in den meisten anderen Bundesländern, und zwar in einen großen gemäßigten Flügel, der den Namen SPD beibehielt, und eine kleinere radikale Gruppe, die USPD ( „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“). In Bayern war diese Spaltung durch einen bayerischen Delegierten des SPD-Parteitags von Gotha im April 1917, Kurt Eisner, organisiert worden. Bei jenem Parteitag hatten grundsätzliche Streitigkeiten über die Unterstützung des Krieges zu Spaltung geführt, und als Eisner nach München zurückkehrte, wurde er zum Vorsitzenden der bayerischen USPD gewählt. Beide Parteien waren in der Bayerischen Abgeordnetenkammer vertreten, der seit 1819 existierte; der es aber an wirksamer gesetzgebender Gewalt fehlte – welche dem König vorbehalten blieb. Bayern war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein meist ländliches Gebiet, aber durch das Aufblühen der deutschen Industrie in den nächsten 60 Jahren, und vor allem, als sich Munitions-, Fahrzeug- und Eisenwaren-Fabriken während des Krieges multiplizierten, wuchs der Einfluss der sozialistischen Parteien. 

Die bayerischen Sozialisten waren weitaus mutiger als ihre Genossen in Berlin und brachten im September 1917 ein Reformgesetz mit weitreichenden Anliegen ein, das die Abschaffung des Senats (der parlamentarischen Spielwiese des Adels) und des Adels selbst forderte, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die Übertragung der legislativen Befugnisse auf einen Landtag und die Trennung von Kirche und Staat.

Kurt Eisner

Diese Gesetzesvorlage starb natürlich schnell durch königliches Veto, aber in den landesweiten Streiks vom Januar 1918 gelang es der bayerischen USPD, die Straßen in einem Grad zu mobilisieren, den die Regierung für viel zu gefährlich hielt. Die führenden Persönlichkeiten der USPD wurden daher kurzerhand verhaftet, darunter der unbeugsame  Kurt Eisner.

Stadtzentrum – Neuhauser Straße

Die meiste Zeit seines Berufslebens war Eisner ein Theaterkritiker gewesen. Während des Krieges gründete er die Unabhängige Sozialistische Partei in Bayern und im Januar 1918 übernahm er eine führende Rolle bei den Streiks, die München plagten. Verhaftet und ins Gefängnis geworfen, wurde er in den letzten Tagen des Krieges freigelassen. Sein Freund Ernst Toller [der Dramatiker, ¶] beschrieb ihn als einen Mann, der sein Leben lang arm, selbstgenügsam und zurückhaltend gewesen war. Er war klein und schmächtig; graue Haare, die einst blond gewesen waren fielen unordentlich über seinen Mantelkragen und ein ungepflegter Bart wucherte über seine Brust; kurzsichtige Augen schauten ruhig aus seinem tief gefurchten Gesicht. Er hatte einen Sinn für Dramatik, ätzenden Witz und war völlig ohne Arroganz. [Robert Payne, The Life and Death of Adolf Hitler, Praeger Publishers 1973, Lib. Con. 72-92891, S. 122]

Kurt Eisner privat in seinem Garten in der Haderner Lindenallee 8 – v.l.n.r. Josef Belli, Freia Eisner, Ilse Eisner (Tochter aus Eisners erster Ehe), Kurt und Else Eisner, Thekla Belli

Er wurde beschuldigt, ein Bolschewik zu sein, was er schon mal gar nicht war. Er war, was sein Parteiausweis angab – ein unabhängiger Sozialist: weniger ein Anhänger strenger marxistischer Lehre als ein Mann der die inkompetente Herrschaft des Adels und des Systems, das unter seiner sozialen Ungerechtigkeit und den Entbehrungen von vier Jahren Krieg auseinander zu brechen drohte, durchschaute. Als die rechtsextreme Presse ihn als einen bolschewistischen Aktivisten hinstellte, der zehn Millionen Goldrubel von Lenin persönlich zur Förderung der deutschen Revolution erhalten hatte, nahm er die Reporter mit zu seiner Bank und zeigte ihnen eine Kopie seines Spesenkontos: seine Unkosten für die „Bayerische Revolution“ belief sich auf siebzehn Reichsmark. Die Annalen der Menschheit kennen keine billigere Revolution.

König Ludwig III war sich der Vorboten des Aufruhrs in den letzten Tagen des Krieges wohl bewusst. In einem verspäteten Versuch, die Monarchie zu retten, stimmte der König einem reformerischen Gesetzentwurf zu, der ein paar liberale aber weitgehend kosmetische Veränderungen mit sich brachte. Fünf Tage später, am Vormittag des 7. November 1918, traten Vertreter der SPD, der katholischen Bauernpartei und der Demokratischen Partei zum ersten Mal der Königlich Bayerischen Regierung bei.

Das Hofbräuhaus – Zentrum des bekannten Universums

Obwohl die bayerische Polizei vor revolutionären Verschwörungen gewarnt hatte, erlaubte die Münchner Justiz am selben Nachmittag eine gemeinsame Demonstration von SPD und USPD auf der Theresienwiese, der großen Fläche, wo das jährliche Oktoberfest stattfindet. Die Truppen der Münchner Garnison wurden als zuverlässig monarchistisch und patriotisch genug eingeschätzt, sodass die öffentliche Sicherheit gewährleistet schien. Die Veranstaltung begann um 15.00 Uhr und bald füllten mehr als 80.000 Zuhörer das große Oval. Am Schluss der Veranstaltung, zwei Stunden später, verließen die Gemäßigten das Gelände, um in die Innenstadt zu marschieren, während die extremeren Elemente, insbesondere Kurt Eisners USPD, verharrten, zusammen mit vielen radikalen Soldaten und Matrosen, die bereits ihre imperiale Kokarden abgenommen hatten.

Auf der Theresienwiese, 7. Dezember 1918, nachmittags

Eisner erkannte seine Chance. Seine Anhänger befanden sich am nördlichen Ende des Veranstaltungsortes, nahe den Kasernen der Münchner Garnison in Nordwesten der Stadt, wohin er sich, von vielleicht 2000 Mann gefolgt, in Bewegung setzte. Bald wuchs die Menge zu einem revolutionären Lindwurm an, als sich mehr und mehr Soldaten auf dem Weg zu den Kasernen anschlossen. Es gab eine Minute Verwirrung und eine kleine Schießerei an der großen Kaserne Türkenstraße, aber als sich die Mehrheit der dort stationierten Truppen für die Revolution erklärte, hatte Eisner gewonnen. Die Menge, die er jetzt in Richtung Innenstadt zurückführte, war jetzt ungefähr 5000 Mann stark.

Der Kronprinz, Königin Marie Therese und Ludwig III

Bei seinem täglichen Nachmittagsspaziergang im Englischen Garten hatte ein Passant dem König von bedenklichen Vorfällen berichtet, was ihn zur Rückkehr veranlasste. Gegen 7 Uhr abends erschienen revolutionär gestimmte Soldaten auf dem Platz der Residenz, des Wittelsbacher Stadtpalastes, und die besorgte Königsfamilie wurde durch den Kriegsminister Philipp von Hellingrath informiert, dass, da eine große Mehrheit, vielleicht sogar alle der Münchner Garnisonstruppen, sich für die Rebellion erklärt hatten, keine loyalen Einheiten zur Verfügung stünden, um den Thron zu schützen. Die Palastwache war in den frühen Abendstunden auf mysteriöse Weise verschwunden, und der Königs eigenes Garde-Regiment verblieb passiv in den Kasernen, obwohl es dringend alarmiert worden war. Um etwa 22 Uhr verließen der König, seine Familie und die Bediensteten die Hauptstadt, auf Anraten des Hofministers Ritter von Dandl, um Zuflucht auf dem Familienschloss Burg Wildenwart am Chiemsee zu suchen. Ein paar Meilen südlich der Stadt, so die Sage, rutschte des Königs Auto von der Straße ab und endete mit gebrochener Achse in einem Kartoffelfeld. Es war ein, den Umständen entsprechend, durchaus angemessenes Ende der Herrschaft des Hauses Wittelsbach in Bayern.

Inzwischen gingen Delegationen revolutionärer Soldaten daran, die wichtigsten strategische Punkte der Stadt zu besetzen, ohne auf Widerstand zu stoßen: bis zum späten Abend waren der Hauptbahnhof, das Telegrafenamt, das Bayerische Armeekommando und andere wichtige militärische und kommunale Gebäude sowie das Parlament und die Büros der Zeitungen in roten Händen. Die Einheiten von Armee und die Polizei, die nicht zu den Rebellen übergegangen waren, verhielten sich passiv und ließen die Revolution sich selbst in den späten Stunden des Tages mithilfe von Massenveranstaltungen organisieren. Eine vorläufige Versammlung der Rebellen wurde im Franziskaner Bierkeller abgehalten, aber das zweite, entscheidende Treffen fand genau im Herzen der Stadt, im gigantischen Mathäserbräu, einem riesigen Gasthaus, statt, in dem leicht fünftausend Personen Platz fanden –  aber in dieser Nacht waren dort bestimmt doppelt so viele.

Soldaten vor dem Mathäserbräu

Soldaten und Matrosen trafen sich im ersten Stock und wählten einen Rat, während sich die Arbeiter im Erdgeschoss trafen und ihre eigenen Vertreter erkoren. Die Delegierten beider Räte verschmolzen dann und bildeten einen allgemeinen „Arbeiter-, Soldaten- und Bauern Rat“, anfangs geleitet von Franz Schmitt von der SPD. Um etwa 22 Uhr zogen Eisner, Schmitt und die Räte plus eine kleine bewaffnete Wache über die Isar zum Parlamentsgebäude. Den Vorsitz beanspruchend, in dem improvisierten Treffen, und ohne formale Umschweife, nahm Eisner das Amt des Ministerpräsidenten von Bayern auf sich, und ließ, in den frühen Morgenstunden des 8. November 1918, die Freie Bayerische Sozialistische Sowjetrepublik verkünden. Ein paar Stunden später erwachten  die Bürger von München, die in einem Königreich zu Bett gegangen waren, in einer Republik, und dazu noch in einer sozialistischen.

Proclamation of the Free State of Bavaria

Am Nachmittag des gleichen Tages, 8. Dezember, veranstaltete man im Parlamentsgebäude die erste Sitzung des temporären Nationalrates, um eine provisorische Regierung zu etablieren. Der Versammlung gehörten die Stadträte und die ehemaligen  Parlamentsmitglieder der SPD, der bayerischen Bauernpartei und die drei ehemaligen liberalen Abgeordneten an. Das Plenum wurde anfänglich mit Einwänden von den Delegierten der SPD konfrontiert. Die Sozialdemokraten zeigten sich, zu einem gewissen Grad, dem Ancien Régime treu und favorisierten Reformen, nicht Revolution; eine langwierige Debatte war notwendig, um ihre Mitglieder zu überzeugen, der provisorische Regierung beizutreten und diese zu unterstützen. Am nächsten Tag übernahmen Ministerpräsident Eisner und seine frisch gebackenen Minister die Exekutivgewalt in Bayern. Kein einziger Akt der Insubordination wurde bekannt: alle Staatsdiener, Regierungsangestellten, Polizei und Militär befolgten die Anordnungen der neuen Regierung.

München setzte den Standard für das Land.

Die Flammen der – ordentlichen –  Revolution zündeten spontan in ganz Deutschland. In Friedrichshafen bildeten die Arbeiter der Zeppelin-Werke einen Rat. Die Fabrikarbeiter in der Region Stuttgart, darunter die des großen Motorenwerks von Daimler, streikten und erhoben ähnliche Forderungen, angeführt von Sozialisten mit Ansichten, die Eisners ähnelten. Matrosen organisierten einen Aufstand in Frankfurt am Main. In Kassel revoltierte die gesamte Garnison einschließlich des Kommandanten, jedoch völlig gewaltlos.

Es gab ein paar Schüsse in Köln, als die 45000-köpfige Garnison zu den Roten überging, aber schnell setzte wieder Ruhe ein. Ein ziviler Aufstand in Hannover gelang, obwohl Behörden den Truppen befohlen, Gewalt anzuwenden; die Soldaten schlossen sich den Rebellen an. Das gleiche geschah in Düsseldorf, Leipzig und Magdeburg. In ganz Deutschland brach eine Regierung nach der anderen brach zusammen, als Arbeiter- und Soldatenräte die Kontrolle übernahmen. [Toland, p. 72]

Truppenansammlungen auch in den Straßen Nürnbergs während der Novemberrevolution 1918

Schließlich wandten sich die Augen der Nation nach Berlin, in der Erwartung, dass der Erfolg oder Misserfolg einer deutschen sozialistischen Republik dort entschieden werden würde. Anders als in Russland, wo Menschewiki und Bolschewiki sich über die Frage von Reform oder Revolution schon weit vor dem Krieg aufgespalten hatten, hatten sich die deutschen Sozialisten nicht vor 1917 getrennt, als sich der revolutionäre Flügel als USPD etablierte. Doch selbst zusammen mit ihren Gesinnungsgenossen vom Spartakusbund vertraten sie wohl weniger als zehn Prozent des sozialistischen Spektrums, aber ihre schrille Propaganda schien eine Spaltung der sozialistischen Regierung in Berlin anzukündigen. Potenziell schlimmer für die Radikalen waren die für den 19. Januar geplanten landesweiten Wahlen zu einer neuen Nationalversammlung, die den Frauen der Nation zum ersten Mal das volle Wahlrecht gaben – der revolutionäre Flügel hatte keine Illusionen über das mögliche Ergebnis. Nein – wenn sie die Macht erlangen wollten, blieb nur ein Staatsstreich.

“Vorwärts” vom 9. November 1918

Aber so weit waren die Dinge noch nicht geraten. In diesen Tagen des Novembers und Dezembers interessierten sich weitaus die meisten Arbeiter, Soldaten und Matrosen weniger für dogmatischen Streit als für ein Ende des Krieges und des Hungers; sie erwarteten die Wiedervereinigung mit Familien und Angehörigen und mussten Arbeit finden. Da die bisherige Reichsregierung zusammengebrochen war, war Selbsthilfe das Motto des Augenblicks, und so kam es, dass …

… Berlin in einem Zustand der Verwirrung verharrte … verschiedene Gruppen beanspruchten die Regierungsgewalt: der Rat der Volksbeauftragten unter Friedrich Ebert im Kanzleramt (die von den Alliierten anerkannte Regierung), der Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte im Reichstag, die Berliner Arbeiter- und Soldatenräte im preußischen Landtag, Emil Eichhorn (USPD) als selbst ernannter Polizeikommissar von Berlin mit seinem 3.000 Mann starken aber unwilligen (weil kaisertreuem) “Sicherheitsdienst” im Polizeipräsidium am Alexanderplatz, die „Revolutionären Obleute“ und natürlich die alternative spartakistische Regierung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Königspalast, die von einer freiwilligen Truppe von rund 2.000 roten Matrosen unterstützt wurde, die in den königlichen Stallungen kaserniert war und sich selbst als die Volksmarinedivision bezeichnete.

Es gab tägliche Straßendemonstrationen, Massenversammlungen und vereinzelte Schießereien, und praktisch jeden Tag bis Weihnachten marschierte jeweils eine andere aus dem Krieg heimkehrende  Division der regulären Armee durch das Brandenburger Tor und Unter den Linden hinauf, bevor sie sich in der Menge auflöste. [Anthony Read, The World on Fire, Norton Books 2008, ISBN 978-0-393-06124-6, p. 47]

Revolution am Brandenburger Tor

Unabhängig von der politischen Ungewissheit der Zeit setzte die Mehrheit dieser Gremien diejenigen sozialistischen Bestrebungen um, die sie vergeblich von den deutschen Fürsten gefordert hatten. Der Arbeitstag wurde auf acht Stunden begrenzt, die Gewerkschaften erhielten uneingeschränkte Organisations- und Verhandlungsrechte, es wurde eine Arbeitsunfallversicherung eingeführt, die Altersvorsorge erweitert, Kranken- und Arbeitslosenversicherungsprämien entweder gesenkt oder die Leistungen erhöht. Viele dieser Programme befanden sich noch im Entwicklungsstadium, wurden jedoch zu Sprungbrettern proletarischer Emanzipation. Politische Gefangene wurden freigelassen und die Zensur von Presse und Theater aufgehoben. Entgegen der Warnungen kapitalistischer Cassandras, von denen es etliche gab, stellte sich heraus, dass all dies bezahlt werden konnte, sobald eine gewisse Normalität eingeführt war; das heißt, dass die vorgeschriebenen Steuern auch kassiert und die Steuervergünstigungen der Junker und des Adels aufgehoben wurden. Die deutsche Sozialgesetzgebung wurde das Vorbild für Arbeiter weltweit.

Hitler gestand später, dass er diese sozialen Reformen respektierte, die er auf lange Sicht für unvermeidlich hielt, und einige seiner folgenden Aussagen hinterlassen den starken Verdacht, dass er in diesen Tagen einiges Mitgefühl mit den Sozialdemokraten hatte. “Wofür ich den Sozialdemokraten dankbar bin“, sagte er, “ist, dass sie diese Interessen von Hof und Adel entmachtet haben.” [Anton Joachimsthaler, Korrektur einer Biographie, Langen Müller 1989, ISBN 3-7766-1575-3 p. 181]

Die manchmal wirren, aber weitgehend harmlosen Entwürfe der verschiedenen zukünftigen sozialistischen Regierungen und ihrer Ausschüsse und Räte konnten jedoch nur gedeihen, solange echte revolutionäre Gruppen in Schach gehalten werden konnten. Ebert verstand, dass die Exekutivgewalt seiner Regierung ohne bewaffnete Unterstützung fragwürdig blieb, und er kannte seine ehemaligen Kameraden, die zu den Spartakisten gewechselt waren, gut genug um nicht zu glauben, dass sie die revolutionäre Option aufgeben würden – da sie ja nicht hoffen konnten, die Wahl zu gewinnen. Aber sie hatten Gewehre und wenn sie einen Staatsstreich gegen unbewaffnete Gegner versuchten, wer könnte sie aufhalten? Die einzige offensichtliche Alternative war, die Unterstützung der regulären Armee zu erlangen.

Die Sozialdemokraten hatten immer kritischen Abstand zum Militär bewahrt, welches ja oft genug zur Unterdrückung eingesetzt worden war. Nun, da der Krieg verloren gegangen war, anstatt mit dem erwarteten Triumph zu enden, konnte nicht erwartet werden, dass sich die Stimmung der Armee verbessert oder ihre Sympathie für Sozialisten vergrößert habe. Am 10. Dezember kamen die ersten zurückkehrenden Einheiten der Armee in Berlin an; von Ebert begrüßt, der die schwierige Aufgabe hatte, den Soldaten die zwischenzeitlich eingetretenen Veränderungen zu erklären. Die Demobilisierung in Berlin war die gleiche ungeordnete Angelegenheit wie überall sonst, vielleicht schlampiger: Viele Soldaten “vergaßen”, ihre Waffen abzugeben, manche Einheiten vergaßen sogar, ihre Maschinengewehre auszuhändigen – oder sogar ihre Kanonen – oder behaupteten, sie seien auf der Durchreise verloren gegangen. An Waffen fehlte es nirgendwo in der neuen Republik, aber das Angebot in der Hauptstadt war bei weitem das reichste und die Spartakisten hatten große Vorräte angesammelt: Ebert war waffentechnisch unterlegen.

Barrikade an der Friedrichstraße

Am zweiten Tag seiner Kanzlerschaft, am 10. November, erhielt er auf direktem Wege einen Anruf aus dem Generalstabsgebäude. Sein Gesprächspartner war Wilhelm Groener, der neue Generalquartiermeister und Nachfolger von Ludendorff: de facto das militärische Oberhaupt der nur einen Tag alten Republik. Der General wusste genau, worum es ging, und bot Ebert an, dass sich “die Armee seinem Regime zur Verfügung stellen würde, als Gegenleistung für die Unterstützung des Feldmarschalls [Hindenburg] und des Offizierskorps durch das Regime und die Wiederherstellung von Ordnung und Disziplin in der Armee.“ (Read, S. 43) Im bürgerlichen Sprachgebrauch bedeutete dies, dass die Armee Ebert und die Republik – völlig unerwartet – unterstützen würde; um den Preis, die Armee in der preußischen Tradition außerhalb der Politik zu halten und sie sich selbst verwalten zu lassen. Es gab noch eine weitere Bedingung: “Das Offizierskorps fordert vom Regime eine Schlacht gegen den Bolschewismus und ist zu dieser Verpflichtung bereit.” (Read, S. 43)

Ebert befand sich in der Zwickmühle zwischen der spartakistischen Linken und der reaktionären militärischen Rechten – wie Odysseus zwischen Scylla und Charybdis. Am Ende stimmte er Groener zu, vielleicht ein wenig hinters Licht geführt durch einen schlauen Trick des Generals, der seinen eigenen Plan hatte, um mit den Räten fertig zu werden. Groener wusste, dass von der Front zurückkehrende, loyale Truppen und Offiziere ab der zweiten Dezemberwoche eintreffen würden, und deshalb musste er die Ratsherrschaft nur etwa einen Monat überleben. Sein Plan sah also vor, den Räten gerade so viel Freiraum zu geben, um sich selbst aufzuhängen. Er ordnete jeder Einheit an, einen Rat wählen: jeder Zug, jede Kompanie, jedes Bataillon, Regiment und so weiter, ein Verfahren, das ein sofortiges Chaos verursachte, welches Groener die nötige Zeit verschaffte. Bald würde der Großteil der Armee zurückkehren und während die meisten Einheiten sich von selbst demobilisieren würden, würden manche das nicht tun. Groener wusste, dass manche Männer nicht in das bürgerliche Leben zurückkehren konnten, denn die Erfahrung des Krieges hatte ihre Seelen für immer deformiert. Solche Männer bildeten die “Freikorps“.

Vor dem Krieg hatten die kaiserlichen Wehrbehörden vorzugsweise Bauernjungen eingezogen, da sie weniger von Sozialismus durchdrungen waren als die Söhne der städtischen Arbeiter. Daher repräsentierten die Wehrpflichtigen im Gegensatz zu den eher städtischen Hintergründen vieler Unteroffiziere und Regimentsoffiziere hauptsächlich das pastorale Element der deutschen Gesellschaft. Die Städter dagegen waren im Großen und Ganzen bürgerlich oder kleinbürgerlich geprägt, besser ausgebildet und hoffnungslos romantisch. Sie bildeten das Reservoir, aus dem die Freikorps ihre Wölfe bezogen.

Das plötzliche Ende des Krieges löste bei ihnen Entzugserscheinungen aus – das zivile Leben wirkte trostlos, matt und trivial. Darüber hinaus hatte nichts diese zutiefst romantische und leidenschaftlich patriotische Bruderschaft darauf vorbereitet, das Vaterland in der Gefahr einer bolschewistischen Revolution vorzufinden. Sie waren zu ewigen Kriegern geworden, auf der Suche nach einer Pflicht, die sie erfüllen konnten, und keine Aufgabe konnte glorreicher oder wichtiger sein, als diese so seltsam veränderte Heimat von einem kommunistischen Abgrund zu bewahren.

Die Freikorps von 1918 und 1919 waren … freibeuterische Privatarmeen erbitterter ehemaliger Militärs, hauptsächlich zusammengesetzt aus ehemaligen Offizieren und Unteroffizieren, die sich ihrer Auflösung widersetzten, und entschlossen waren, militärische Disziplin und Organisation angesichts der “Unordnung” der Soldatenräte aufrechtzuerhalten. Eingebettet in die harten Traditionen der preußischen Armee, waren sie außerordentlich nationalistisch und gewalttätig antibolschewistisch.

Ihre Bildung war zwar nicht von Groener initiiert, aber ermutigt worden, sowohl als Mittel, um den Ethos des Offizierskorps in diesen unsicheren Zeiten am Leben zu erhalten, als auch um robuste, trainierte Einheiten loyaler Truppen zu schaffen, auf die man sich verlassen konnte die revolutionären Kräfte linker Truppen zu bekämpfen. Ihre genaue Beziehung zur Armee wurde absichtlich vage belassen, aber sie wurden von ihr mit Maschinengewehren, Mörsern und sogar Kanonen wie auch mit Gewehren und Pistolen ausgestattet, und es besteht kaum Zweifel, dass ihre Bezahlung aus Armeemitteln stammte. Viele ihrer Kommandeure waren Offiziere im Regeldienst.

Die erste Aufgabe der Freikorps bestand darin, Deutschlands Ostgrenzen zu den neuen baltischen Staaten und dem neuen unabhängigen und zutiefst feindseligen Polen zu sichern, das nach Jahrhunderten deutscher, russischer und österreichischer Unterdrückung voraussichtlich versuchen würde, so viel Territorium wie möglich für sich zu erobern.

Der Schutz gegen den sich aus dem Osten ausbreitenden Bolschewismus war in diesem Bereich eine sekundäre aber dennoch reale Überlegung, vor allem als Russland 1919 gegen Polen in den Krieg zog. In Berlin und dem übrigen Deutschland war der Kampf gegen dem Bolschewismus in all seinen Formen jedoch die eigentliche, selbsterklärte Daseinsberechtigung der Freikorps. [Read, S. 45 – 46]

Groener hatte bei seinem Deal mit Ebert empfohlen, die politische Überwachung der Streitkräfte dem ehemaligen SPD-Abgeordneten Gustav Noske zu übertragen, dem Mann, der während des Matrosenaufstandes in Kiel gezeigt hatte, dass er mit einem Mob fertig werden konnte. Es war höchste Zeit, Truppen zu organisieren, die dem Ebert’schen Rat der Volkskommissare gegenüber loyal waren, denn die Spartakisten mobilisierten bereits ihre eigenen Truppen in Erwartung der ersten Sitzung des Reichsrätekongresses der Arbeiter- und Soldatenräte. Dieses Gremium, dem Vertreter aus allen Teilen des Landes angehörten, sollte sich ab Montag, dem 16. Dezember, im Gebäude des preußischen Abgeordnetenhauses treffen. Zur Unterstützung der mit Sicherheit erwarteten sozialistischen Revolution organisierten Liebknecht und Luxemburg jede Menge Demonstrationen am selben Tag auf dem Platz vor dem Gebäude und als dies die Delegierten (in denen die Revolutionäre deutlich in der Minderheit waren) nicht sonderlich beeindruckte, schickte er drei Tage später ein Sturmkommando mit der Anweisung, das Gebäude zu besetzen und die Abgeordneten als Geiseln zu nehmen; ein Plan, der gerade noch von einer lokalen Wachtruppe Noskes vereitelt wurde.

Die Beschlüsse des Kongresses, der möglichst bald Ordnung schaffen wollte, enttäuschten die radikale Linke sehr; denn nicht nur weigerten sich die Delegierten, “alle Macht den Sowjets” zu übertragen, wie es die Spartakisten forderten, sondern bestätigten auch die Legitimität der Regierung von Ebert und beschlossen, die Ratsherrschaft langsam abzubauen, um alle weiteren Legislative- und Exekutivbefugnisse der neuen Nationalversammlung zu übertragen, deren Wahl für den 19. Januar 1919, vier Wochen in der Zukunft, festgelegt wurde. [Read, S. 47]

Diese Rückschläge setzten den Spartakisten zumindest einen Stichtag, denn sie mussten wenn, dann vor dem Wahltag die Macht ergreifen – die Wahl gewinnen konnten sie nicht. Am 23. Dezember stürmte die Volksmarinedivision, unter dem Vorwand, sich einen Weihnachtsbonus sichern zu wollen, das Arsenal (das militärische Hauptquartier) und das Kanzleramt, wo sie das Kabinett verhafteten. In dieser Situation „entschied Ebert, dass es an der Zeit war, Groeners Versprechen einzufordern.“ [Read, S. 48]

Das Hauptquartier der Armee in Potsdam schickte, wie vereinbart, ein Bataillon Truppen, und am Morgen des 24. Dezember entwickelte sich eine seltsame Mischung aus militärischem Kampf und Propagandawettbewerben um den Königspalast und die Ställe herum. Die Kämpfe waren hart, aber nur sporadisch und häufig unterbrochen durch Verhandlungen oder von Liebknechts revolutionäre Ermunterungen, die sich an die Tausende von Zuschauern richteten, die, nachdem sie ein bisschen das Gemenge beobachtet hatten, zum Weihnachtsmarkt oder zum nahegelegenen Einkaufsviertel weitergingen, wo das Geschäft wie üblich lief. Es war vielleicht dieser Mangel an Aufmerksamkeit, der dazu führte, dass die Schlacht am frühen Nachmittag durch das Verschwinden der Truppen beider Seiten in den Weihnachtsmassen endete. Ein wütender Groener entschied jedoch, dass er beim nächsten Mal verlässlichere Truppen brauchte, und benachrichtigte die Anführer der aufstrebenden Freikorps. [Read, S. 48]

Der Weihnachtstag brachte die regelmäßige Demonstration der Spartakisten, deren Aktivisten das Gebäude besetzten, in dem die SPD-eigene Zeitung „Vorwärts“ gedruckt wurde, und ihre eigene Weihnachtsausgabe erstellten – natürlich auf rotem Papier. Nach dem Eintreffen der Polizei und der Vertreibung der Besatzer gab die Zeitung alle sozialistische Solidarität auf, die sie bis zu diesem Tag gezeigt hatte, und orientierte sich ab jetzt entschlossen anti-spartakistisch.

Davon unbeeindruckt beendete Liebknecht das Jahr mit einer Einladung von rund hundert Spartakisten zu einer am 29. Dezember beginnenden Konferenz im Festsaal des preußischen Abgeordnetenhauses. Nach zwei Tagen voll zänkischer Auseinandersetzungen stimmten sie für einen vollständigen Bruch mit der Sozialdemokratie und dafür, sich eindeutig an Sowjetrussland auszurichten, indem sie sich in Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) umbenannten.

Unter den Gästen befand sich auch Karl Radek, der nach Deutschland geschmuggelt worden war, um den Bürgerkrieg zu schüren, der ein so wesentlicher Bestandteil einer bolschewistischen Revolution war. In einer langen Rede bestritt er, dass das Regime in Russland ein Terrorregime sei, und behauptete, der Bürgerkrieg sei nicht so schlimm, wie manchmal gedacht wurde: ein ganzes Jahr Bürgerkrieg in Russland habe weniger Menschen getötet und weniger Eigentum zerstört als ein einzelner Tag des internationalen (kapitalistischen) Krieges.

Was wir jetzt in Russland in die Tat umsetzen“, erklärte er, “ist nichts anderes als die große, unverfälschte Lehre des deutschen Kommunismus. Einst wird der Rat der Volkskommissare Europas in Berlin tagen. Spartakus wird siegen. Er ist dazu bestimmt, die Macht in Deutschland zu ergreifen.“ Liebknecht antwortete begeistert mit einem Aufruf zu den Waffen:„ Wir wollen keine Limonadenrevolution. Wir müssen die Internationalisierung des Bürgerkriegs beschleunigen.“ [Read, S.49]

Die Spione Groeners und Eberts berichteten ihren Meistern umgehend über die Ergebnisse und über den Jahreswechsel bereiteten sich beide Seiten auf den großen Zusammenprall vor, den sie noch vor dem Wahltag am 19. Januar erwarteten.

Die anhaltende Feindschaft zwischen sozialdemokratischen, d.h. reformistischen und kommunistischen Parteien auf der ganzen Welt in den siebzig Jahren zwischen 1919 und 1989, war das Resultat dieser Spaltungen in Berlin 1918 und den Ereignissen, die kurz danach folgten. Von 1914 bis 1918 hatte die SPD das Ancien Régime unterstützt, mit Ausnahme von Liebknecht, indem sie Wilhelms Kriegskredite im Reichstag genehmigten, während sich eine außerparlamentarische Oppositionsbewegung von Pazifisten in der Mutterpartei formte, wuchs und sich schließlich 1917 lossagte. Dieser Ableger, die USPD, appellierte an die internationale Solidarität der Arbeiterklasse, die Krieg unmöglich machen konnte, wenn sie sich weigerte, Rüstungsgüter herzustellen, und sie war die einzige politische Fraktion in Deutschland, die sich öffentlich gegen den Krieg aussprach.

Sie beschuldigten die Moderaten des Verrats; dass sie durch kapitalistische Interessen korrumpiert worden waren und als Ebert die reaktionären Freikorps zu Hilfe rief, wurde er des Brudermordes angeklagt und des Verrats am Erbe von Karl Marx und Friedrich Engels. Von diesem Tag an betrachteten kommunistische Parteien die Sozialdemokraten als ihren schlimmsten Feind: während der Widerstand der Kapitalisten zu erwarten war und verstanden werden konnte, hatte das Gift der Mäßigung die Solidarität der Bruderschaft der Arbeiter zerstört. In Erinnerung an die Praktiken der Jakobiner konnte es für die  Verräter an der Revolution keine Gnade geben.

Währenddessen festigte die Regierung der Bayerischen Sozialistischen Republik ihre lokale Macht und begann, die bayerische Nachkriegsökonomie zu organisieren. Es war vielleicht die größte Überraschung für Ministerpräsident Eisner, dass die reguläre bayerische Armee ohne großen Aufstand kooperierte; während das Militär das Chaos der Räteherrschaft offensichtlich ablehnte, erkannte die Truppe, dass Ordnung die Forderung des Tages war, und der ranghöchste Offizier, General Max Freiherr von Speidel, appellierte an die Truppen, “dem Volksstaat zu dienen.” (Joachimsthaler, S. 183) Am 13. November traf König Ludwigs schriftliche Abdankungserklärung im Rat ein und am selben Tag wurde Albert Rosshaupter (SPD) als erster ziviler Verteidigungsminister in der Geschichte des Landes vereidigt.

Die Bavaria auf der Theresienwiese

So entwickelte sich die bayerische Sowjetrepublik weit weniger revolutionär, als sie begonnen hatte. Zu einem gewissen Grad sah sich Eisners Regierung nur als provisorische Verwaltung an und verzögerte entscheidende Reformen für die Zeit nach den Wahlen vom 12. Januar, durch die sie hofften, eine parlamentarische Mehrheit und damit ein unstrittiges Mandat für die Schaffung eines echten sozialistischen Staates zu bekommen. In seiner öffentlichen Ansprache vom 15. Dezember konnte Eisner revolutionäre Rhetorik weitgehend vermeiden und die wesentliche Forderung nach Sozialisierung der Industrie wurde auf später verschoben. Zwar wurde die Arbeitslosenhilfe verbessert und der achtstündige Arbeitstag eingeführt, aber es wurde nichts unternommen, um die Angestellten und Funktionäre des Staates zu ersetzen, die das Land weiterhin auf altmodische, monarchistische Weise verwalteten. Noch wurde die Wirtschaft reformiert: Industrie, Banken und Versicherungen funktionierten weiter wie gewohnt. Die einzige bemerkenswerte Änderung war die Säkularisierung der Schulen durch die Abschaffung der Aufsichtsrechte der katholischen Kirche.

In einem waren sich alle Münchner einig …

Die Wahl endete in einer Katastrophe für die radikalen Sozialisten. Gewinner wurden die Bayerische Volkspartei, die Nachfolgerin der katholischen Zentrumspartei (BVP, 35 %, 66 Sitze) und die SPD (33 %, 61 Sitze). Ergebnisse mehr oder weniger im erwarteten Bereich erzielten die Liberalen der DVP (DPP in der Pfalz) mit 14 % und 25 Sitzen und die rechte Deutsche Volkspartei [DNVP, als Mittelpartei in der Pfalz] mit 6 % der Stimmen und 9 Sitzen.

Die Verlierer waren die Parteien der Revolution. Der bayerische Bauernbund, der den Sozialrevolutionären Russlands ähnelte, erhielt 9 % der Stimmen und 16 Sitze, aber die Ergebnisse der USPD waren erbärmlich: nur 2,5 % und drei Sitze. Eisner war jedoch nicht leicht zu überzeugen, seine Regierungsverantwortung aufzugeben, da er, wie er sagte, immer noch Präsident des Soldaten-, Arbeiter- und Bauernrates war, den er als die wahre Regierung des sozialistischen Bayern betrachtete. Leider hatte er seine Popularität in den letzten Wochen nicht gerade gesteigert.

Hauptbahnhof mit Vorplatz, ca. 1905

Jeder hatte einen Grund, ihn zu hassen – man sagte, er sei ein galizischer Jude, ein Berliner, ein Kaffeehaus-Intellektueller, ein linker Sozialist, ein Verräter des wahren Sozialismus, zu radikal, nicht radikal genug, er war ineffektiv oder inkompetent –  die Liste schien endlos. Vor allem wurde er für den Zusammenbruch der Wirtschaft verantwortlich gemacht – Bayern war so gut wie bankrott und litt, wie viele andere Orte auch, an einem riesigen Arbeitsplatzverlust, da die Munitionsproduktion eingestellt worden war und die Soldaten auf der Straße standen. Trotzdem hatte Eisner die Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe erheblich erhöht.

Als er an der ersten Nachkriegskonferenz der Zweiten Sozialistischen Internationale in Bern teilnahm, gelang es Eisner schließlich, praktisch jeden in Bayern zu verärgern. Als einziger amtierender Regierungschef wurde er mit großem Respekt und mit einiger Ehrfurcht behandelt, vor allem, als er die deutsche Verantwortung für den Ersten Weltkrieg öffentlich anerkannte und Wilhelm Hohenzollern, den früheren Kaiser, als den Mann benannte, der am meisten an dem viereinhalb Jahre lang dauernden Blutbad schuld war. Er kritisierte ruhig und bestimmt alle Aspekte des Preußentums, verurteilte die harte Behandlung Deutschlands von französischen Zivilisten und alliierten Kriegsgefangenen, und appellierte an deutsche Gefangene, beim Wiederaufbau der verwüsteten Regionen Frankreichs und Belgiens mitzuhelfen. All das wurde zwar von den Genossen in Bern gut aufgenommen, aber in München galt es als Verrat und er wurde als Verräter dargestellt. [Read, S. 113 – 114]

In Bayern weitete sich die Spaltung zwischen Revolutionären und Reformern aus, und SPD-Chef Erhard Auer nutzte seine Autorität als Eisners Stellvertreter und des Chefs Abwesenheit, um den bayerischen Landtag zu einer konstituierende Sitzung für den 21. Februar 1919 einzuberufen, in der eine neue Regierung mit parlamentarischer Mehrheit gewählt werden sollte.

In Erwartung einer Gegenreaktion des radikalen Flügels hatte Auer Max Levien, den Vorsitzenden der KPD in Schwabing, verhaften lassen und Verteidigungsminister Albert Roßhaupter aufgefordert, alles zu tun, um eine quasi-militärische Heimatverteidigung zu bilden, die der künftigen Regierung treu ergeben sein sollte – erwartet wurde die eine oder andere Koalition der SPD mit den Katholiken und Liberalen, welche leicht die Unterstützung von 70 % oder mehr der Landtagsabgeordneten genießen würde.

Die Linke schlug am 15. Februar mit der Ad-hoc-Gründung des “Revolutionären Arbeiterrates” zurück, einem exzentrischen Gremium aus den radikalsten Mitgliedern von USPD, Spartakisten und Bolschewiki unter der Führung der Anarchisten Gustav Landauer und Erich Mühsam. Die erste Resolution der ehrenwerten Körperschaft rief für den nächsten Tag zu einer Massendemonstration von Arbeitern und Soldaten auf der Theresienwiese auf und es ist ziemlich wahrscheinlich, dass der Gefreite Adolf Hitler an diesem Tag in den Reihen der Sozialisten mitmarschierte. Die Order des Tages für sein 2. Infanterieregiment lautete:

Morgen, am 16. Februar 1919, findet eine Demonstration der gesamten Arbeiterschaft und aller Einheiten der Garnison statt. Das Regiment, einschließlich des Demobilisierungsbataillons, wird um 12.15 Uhr auf dem Kasernenplatz des 1. Bataillons auf dem Oberwiesenfeld antreten. Die Soldatenräte werden die Truppen kontrollieren, um Disziplin und Ordnung zu gewährleisten. Die Kompaniekommandeure werden sicherstellen, dass das gesamte dienstfreie Personal an der Versammlung teilnimmt.“ [Joachimsthaler, p. 197 – 198]

Pro-Eisner Demonstration am 16. Februar 1919

So marschierten am 16. Februar gegen Mittag etwa 10.000 Demonstranten durch die Straßen Münchens. Eisner (zurück aus Bern), Mühsam und Levien, der aus dem Gefängnis entlassen worden war, wandten sich an die Öffentlichkeit mit der Forderung, eine Sowjetrepublik, also Räterepublik, zu gründen. Es stellte sich heraus, dass nur wenige Münchner diesen Wunsch teilten, aber nur drei Tage später gab Eisner eine trotzige Geste ab. In der nächsten (und letzten) Sitzung des Bayerischen Rätekongresses forderte er die zweite Revolution.

Die zweite Revolution wird sich nicht in Plünderungen und Straßenkämpfen ergehen. Die neue Revolution wird eine Zusammenkunft der Massen aus Stadt und Land werden, um das zu vollenden, was die erste Revolution begonnen hat. … Die bürgerliche Mehrheit hat nun die Chance, bürgerliche Politik umzusetzen. Wir werden sehen, ob sie zur Regierung fähig sind. In der Zwischenzeit sollten die Räte ihre eigene Aufgabe erfüllen: die neue Demokratie aufzubauen. Dann wird vielleicht auch der neue Geist in Bayern ankommen. Morgen beginnt der Landtag – morgen sollten auch die Aktivitäten der Räte neu beginnen. Dann werden wir sehen, was die Kraft und Vitalität einer durch den Tod geweihten Gemeinschaft ausrichten kann.“ [Read, S. 115]

Eisner sicherte sich dann eine Erklärung der Versammlung zu, dass sie sich nicht auflösen oder ihre Autorität auf andere Weise abgeben würden, es sei denn, die künftige bayerische Verfassung hätte ihre Vorrechte ausdrücklich anerkannt. Dies war ein offensichtlicher Versuch, die Bildung der parlamentarischen Regierung zu blockieren, die der Landtag am nächsten Tag konstituieren sollte. Wegen seiner kryptischen Andeutungen bezüglich einer zweiten Revolution forderte das Kabinett später Eisners Rücktritt.

Die größten Schwierigkeiten hatte Eisner bei der Sicherstellung der fundamentalen Dienstleistungen und der Zusammenarbeit mit dem Land, insbesondere der regelmäßigen Versorgung mit Lebensmitteln. Er wurde von Mitgliedern seines eigenen Kabinetts wegen organisatorischer Mängel kritisiert – einer seiner Minister sagte zu ihm: “Sie sind ein Anarchist … Sie sind kein Staatsmann, Sie sind ein Dummkopf … Wir werden durch schlechtes Management ruiniert.” [Richard J. Evans, The Coming of the Third Reich, Penguin, New York, 2003, ISBN 0-14-303469-3, S. 158 ff.]

Nachdem Kurt Eisner klar wurde, dass er die Unterstützung des Parlaments verloren hatte, verfasste  er am Morgen des 21. Februar in seinem Büro eine Rücktrittserklärung und eine kurze begleitende Rede und ging zu Fuß Richtung Landtag, um dort seine Botschaft anlässlich der Eröffnungssitzung zu überbringen. Er entließ seine Adjutanten und die beiden bewaffneten Leibwächter und machte sich alleine auf den Weg.

Auf dem Weg zum Rücktritt

Typisch für ihn weigerte er sich, einen anderen Weg als seinen normalen zu gehen, und wies die Bedenken seiner Helfer wegen seiner Sicherheit mit einem Witz ab: “Sie können mich nur einmal totschießen.” Als er um eine Ecke in die Promenadenstraße bog, lief hinter ihm ein junger Mann in einem Trenchcoat hoch, zog eine Pistole heraus und schoss ihn aus nächster Nähe in Kopf und Rücken. Der erste Schuss zerschmetterte seinen Schädel, der zweite durchbohrte eine Lunge. Er fiel tot zu Boden, inmitten einer sich ausbreitenden Blutlache.

Der Attentäter war Graf Anton von Arco auf Valley, ein kleiner Aristokrat, der während des Krieges als Leutnant der bayerischen Kavallerie gedient hatte und der, wie die meisten zurückkehrenden Offiziere, die Erniedrigung erlitten hatte, dass Revolutionäre auf der Straße die Rangabzeichen von seiner Uniform gerissen hatten. Sein genauer Grund, Eisner zu töten, wurde nie klar: Er war voller Verbitterung, weil seine Mitgliedschaft in der ultrarechten Thule-Gesellschaft abgelehnt wurde, weil seine Mutter Jüdin war, seine Freundin ihn als Schwächling verhöhnt hatte und er die Revolution hasste. Warum er Eisner jedoch genau in dem Moment, in dem er zurücktreten wollte, hätte töten wollen, bleibt ein Rätsel. [Read, p. 115 – 116] (In den letzten Jahren wurden Hinweise darauf gefunden, dass möglicherweise eine Verschwörung am Werk war, siehe den deutschen Wiki-Eintrag.)

Das war nur der Anfang des Chaos. Arco wurde niedergeschossen, aber durch eine heroische Operation, ausgeführt von Professor Ferdinand Sauerbruch, dem zu dieser Zeit bedeutendsten Chirurgen der Welt, gerettet. Als die Nachricht den Landtag während seiner Eröffnungssitzung erreichte, wurde diese vertagt, und Erhard Auer, Leiter der bayerischen SPD, dessen einstige Freundschaft mit Eisner Jahrzehnte zurückging, begann eine improvisierte Laudatio. Er hatte nicht mehr als fünf Minuten gesprochen, als ein Mitglied des bereits oben genannten Revolutionären Arbeiterrates, der Metzger Alois Lindner, in das Plenum einbrach, ein Gewehr, das er unter seinem Mantel versteckt hatte, herausholte und Auer aus aller Nähe in die Brust schoss. Dann eröffnete er das Feuer auf die Delegierten der BVP und entkam ungehindert, nachdem er einen Wachmann, der ihn zu entwaffnen suchte, ebenfalls erschossen hatte. Er wurde von einem zweiten Schützen in der Galerie ersetzt, der auf die gleichen Abgeordneten zielte, einen Menschen tötete und ein paar andere verletzte. Die Aufregung war groß und ein Hauch von Südamerika hing über dem ehrwürdigen Gebäude des Landtags. [Read, p. 116]

Eisner – nur wenige Stunden vor seinem Tod noch äußerst unbeliebt – wurde sofort als Heiliger der Sozialisten kanonisiert und da der Landtag im Moment ausgeschaltet war, übernahmen die Räte rasch Legislative und Exekutive, verhängten das Kriegsrecht und erklärten einen dreitägigen Generalstreik, der – wie Anthony Read feststellte – „zweckmäßigerweise genau über das Wochenende fiel“, (40) sowie eine Ausgangssperre ab 19 Uhr. Am darauffolgenden Morgen wählte eine schnell einberufene Ratssitzung einen neuen obersten Ausschuss, den „Zentralrat“. Seine elf Mitglieder repräsentierten eine bunte Mischung verschiedener sozialistischer Überzeugungen, von reformistisch bis hin zu revolutionär. Er besaß auch ländliche, nicht nur städtische Vertreter, und sollte nicht nur München, sondern ganz Bayern regieren. Der Vorsitz der Kommission und damit das Amt des quasi-Ministerpräsidenten fiel dem 28-jährigen Lehrer Ernst Niekisch zu, der, als linkes SPD-Mitglied, ein guter Kompromisskandidat für die Position war.

Niekisch bemühte sich um Unterstützung, indem er an die sozialistische Einheit appellierte und die Einberufung eines Kongresses der Bayerischen Räte forderte, der die zukünftige Form der Regierung entscheiden sollte: entweder parlamentarisch oder durch Räte, d.h.  als eine Sowjetrepublik. Dieser Kongress wurde am 25. Februar eröffnet, musste sich aber schon am nächsten Tag anlässlich des Begräbnisses von Kurt Eisner unverrichteter Dinge vertagen.

Die Trauerfeier für den am 21.2.1919 von Graf Arco ermordeten Bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner gestaltete sich zu einer gewaltigen Demonstration der Münchener Arbeiterschaft.

Was auch immer die Münchner über den lebenden Eisner gedacht hatten, sein Begräbnis zog 100.000 Trauergäste an, die dem Sarg folgten, als dieser in einer ehemaligen königlichen Kutsche feierlich durch die Straßen der Stadt gefahren wurde. Am nächsten Tag nutzte die radikale Linke das öffentliche Interesse an Eisner, um den Kongress dazu aufzurufen, die „Zweite Revolution“ zu erklären und die Gründung einer Sowjetrepublik anzukündigen. Als der Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt wurde, verließen Spartakisten, USPD und Anarchisten den Zentralrat, um ihre segensreichen politischen Veränderungen alleine vorzubereiten. Seiner Führung beraubt, zerstreute sich der Kongress und ein paar Wochen lang beruhigte sich Bayern nach so viel Unruhe.

Die Erinnerung an Kurt Eisner lebt jedoch in dem von ihm gegründeten Freistaat weiter – drei Denkmäler für ihn befinden sich in der Münchner Innenstadt und sein Grab auf dem Ostfriedhof.

Denkmal in der Kardinal-Faulhaber-Straße, dem Ort Eisners Ermordung

Leider sollte es bald noch schlimmer kommen für München.

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Jeder für sich und Gott gegen alle – Adolf Hitler als Bettler in Wien

Das unterirdische Obdachlosenasyl “Die Gruft” in der Wiener Mariahilferstrasse im Jahr 2000 – wenig hat sich geändert seit Hitlers Tagen.

Vorhergehende Artikel: Eine Familie in Österreich [Hitlers Eltern]

Die Kindheit eines Kleinbürgers

Adolf Hitler in der Schule

ZDF Doku: Hitler Privat – Das Leben des Diktators

Ein faszinierender Artikel von Peter Rybora über das Leben der Wiener Obdachlosen in www.unterwelt.at

Amerikanischer Video-Clip über den Putsch 1923 und Ein Kuss von einem Fan bei der Olympiade 1936


Adolf Hitlers Meldezettel vom 21. August 1909, diesmal als „Schriftsteller“, in die Sechshauserstrasse 56, 2. Stock, Zimmer 21, bei Frau Antonie Oberlechner, im XIV. Distrikt

Manchmal fühlt sich ein Mann, als ob die wahren Geschicke seines Lebens an einem fragilen Pendel hingen, das durch – zwar rätselhafte und unregelmäßige Bewegungen – doch einem vorbestimmten Schicksal folgt. Es ist dann noch unerklärbarer, noch verwirrender, dass wir zu keinem bestimmten Zeitpunkt unsere eigene Position in diesem kosmischen Maßstab bestimmen können, ohne entweder die Periode der Schwingung oder ihre Richtung zu ändern. Mit anderen Worten, wir können uns zwar bewusst sein, wo wir uns gegenwärtig befinden, aber nicht, ob wir uns nach oben oder nach unten auf dieser Waage des Schicksals bewegen, da jede unserer Handlungen oder Unterlassungen unberechenbare Auswirkungen auf die Zukunft haben kann. Als Adolf Hitler seinen Freund August Kubizek im Herbst 1908 verließ und in den anonymen Massen der Hauptstadt Wien untertauchte, forderte er Fortuna selbst heraus, in Trotz und Zorn.

Adolf Hitlers Meldezettel vom 21. August 1909, diesmal als „Schriftsteller“, in der Sechshauserstrasse 56, 2. Stock, Zimmer 21, bei Frau Antonie Oberlechner, im XIV. Distrikt

Robert Payne porträtiert für uns die Auswirkungen des auf-sich-selbst-gestellt seins in einer großen Stadt:

Wenn ein Mensch in einer großen Stadt in Armut und Elend versinkt, passieren ihm viele seltsame Dinge. Wenn er keine Familie oder Freunde hat, keine Wurzeln, wird er schnell eine Beute von Täuschungen.

In seiner Einsamkeit und zu seinem Schrecken findet er heraus, dass er in einem wilden Land mit seltsamen Sitten und unerklärlichen Grausamkeiten angekommen ist; einem Land, in dem er als Fremder keine Rechte oder Privilegien besitzt, auf Gedeih und Verderb ein gehetztes Tier von jedem und vor allem der Willkür der Beamten ist, und keine Sicherheit fühlt, selbst wenn er in der Nacht in der Dunkelheit seines Zimmers alleine ist.

Mysteriöse Stimmen sprechen ihn an, der Seitenblick eines Fremden auf der Straße erfüllt ihn mit Panik, und er glaubt, ein vom Wind auf seine Füße geblasener Zeitungsfetzen könne eine Nachricht höherer Mächte überbringen.

Bettler in Hannover - Walter Ballhause
Bettler in Hannover – Walter Ballhause

Wir wissen auch, dass Armut ihre eigenen, eingebauten Trostpflaster besitzt. In „Down and Out in Paris und London“, beschreibt George Orwell die seltsame, dumpfe Euphorie, die extreme Armut begleitet.

Wir wissen viel mehr über diese einsamen, entfremdeten Menschen als noch vor fünfzig Jahren, vielleicht weil die moderne Gesellschaft mehr von ihnen hervorbringt. Wir kennen die komplizierten Vorrichtungen die sie erfinden, um ihrem Sinn für menschliche Würde zu bewahren, und wir können Schritt für Schritt verfolgen, wie die Fetzen dieser Menschenwürde von ihnen gerissen oder in unvorhersehbarer Weise gerettet werden.

Diese Männer sind auf Gedeih und Verderb den Jahreszeiten ausgeliefert, denn warme Tage verleihen ihnen künstlichen Mut und Winter reduziert sie zu zitternder Inkohärenz. Sie reden endlos mit sich selbst und klammern sich verzweifelt an ihre Fantasien. Der blaue Fleck an der Wand, der schon vor langer Zeit aufgehobene Stein, die Schnur um den Mittelfinger, diese alle werden zu Fetischen, ohne die das Leben unerträglich wäre.

Man lernt Langeweile kennen und gemeine Verwicklungen und die Anfänge des Hungers, aber man entdeckt auch die große ausgleichende Eigenschaft der Armut: die Tatsache, dass sie die Zukunft negiert

Innerhalb gewisser Grenzen ist es tatsächlich so, dass je weniger Geld Du hast, Dir umso weniger Sorgen machst. Wenn Du nur hundert Franken hast auf der ganzen Welt, wirst Du leicht ein Opfer von Panik. Wenn Du nur drei Franken hast, ist das Dir gleichgültig, denn mit drei Franken wirst Du satt bis morgen und weiter als bis morgen kannst Du nicht denken.

Du bist gelangweilt, aber Angst hast Du nicht. Du denkst vage: „In ein oder zwei Tagen werde ich hungern, shocking, nicht?“ Und dann wandert Dein Geist zu anderen Themen. Eine Diät von Brot und Margarine ist, zu einem gewissen Grad, Ihre eigene Linderung.

Aber es gibt auch Trost in der Armut und sogar Apathie kann einen mit der Zeit erschöpfen. Für einen neunzehnjährigen Jugendlichen [wie Hitler], der immer davon träumte, ein großer Künstler zu werden, war Trost jedoch eher in Fantasien seiner eigenen künstlerische Großtaten zu finden, zum künftigen Unbehagen aller, die seinen Fortschritt behindert hatten.

Nachdem er an den Herbstmanövern seines Regiments teilgenommen hatte, kehrte August Kubizek, Adolfs Freund und Mitbewohner, Ende November 1908 nach Wien zurück. Er hatte den Freund natürlich von seiner Ankunft informiert und war deshalb verblüfft, dass Adolf nicht am Bahnhof auftauchte. Gustl kam zu dem Schluss, dass nur etwas von größter Bedeutung, ohne Zweifel eine Art von Notfall, seines Freundes Abwesenheit erklären könne und hetzte in seine Wohnung in der Stumpergasse.

Frau Zakreys, die Wirtin, hatte keine Ahnung, wo Adolf war. Er hatte ihr seinen Auszug am 18. November mitgeteilt, die Miete bis zum Ende des Monats bezahlt und war verschwunden, ohne ihr eine Nachsendeadresse zu hinterlassen. Sie hatte deshalb bereits einen anderen Mieter genommen. Gustl fand schnell ein neues Domizil in einem Gasthaus und hörte viele Jahre lang nichts mehr von seinem Freund. Als er über die Weihnachtsfeiertage in Linz war, besuchte er die Raubals, aber Angela (Adolfs Halbschwester) teilte ihm fast brüsk mit, dass sie keine Idee hatte, wo Adolf war und schien August irgendwie für Adolfs künstlerische Träume verantwortlich zu machen. Dies war sein letzter Kontakt mit der Familie Hitler für die nächsten fünfundzwanzig Jahre, bis er, im April 1938, seinen Freund, nun Kanzler von Deutschland, in Bayreuth zu den Festspielen wiedertraf.

Zu dieser Zeit, wie bis heute, musste jede Änderung der Adresse zur Aufmerksamkeit der Polizei gebracht werden, hauptsächlich, um die Männer im wehrfähigen Alter im Auge zu behalten. Adolf registrierte seine neue Adresse mit der Polizei am 19. November 1908 als Zimmer # 16, Felberstraße 22, c/o Frau Helene Riedl, im XV. Distrikt, direkt am Westbahnhof, wo er bis zum 21. August 1909 als “Student” lebte.

Umgebung des Westbahnhofs Wien und Felberstraße um 1900

Es war offensichtlich, dass seine zweite Ablehnung an der Kunstakademie ihn im September 1908 schwer getroffen hatte, und es ist durchaus möglich, dass er einfach nicht die Nerven hatte, Gustl das wiederholte Scheitern zu gestehen. Eine Sache in Betreff auf den Umzug bleibt jedoch merkwürdig: das neue Zimmer war größer und kostete somit mehr als sein mit Gustl geteilter Lebensraum bei Frau Zakreys. Es wird spekuliert, dass die plötzliche Flucht aus der Stumpergasse erfolgte um etwas oder jemand vor Gustl zu verstecken, vielleicht ein Mädchen. Aber aufgrund eines Mangels an Hinweisen können wir über Hitlers Gründe nur spekulieren, genauso wie wir es bei der Frage müssen, woher das Geld für die höhere Miete kam.

Die Wiener Kunstakademie, die ihn 1907 und 1908 ablehnte …

Dies ist die Zeit in Hitlers Leben, über die wir am wenigsten wissen. Etwas Entscheidendes muss zusätzlich zu dem zweiten Fiasko an der Kunstakademie passiert ist. Wir wissen, dass er etwa acht Monate in der Felberstraße verbrachte, darunter seinen zwanzigsten Geburtstag am 20. April 1909. Jahrzehnte später meldeten sich einige seiner damaligen Nachbarn, mit trüben Erinnerungen an einem höflichen jungen Mann, der immer etwas distanziert erschien, mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Da war ein Café in der Nähe, welches er wohl zu besuchen pflegte, das Café Kubata und von dorther haben wir einige vage Indikatoren, dass er vielleicht einige Zeit in weiblicher Gesellschaft verbrachte. Maria Wohlrab, geb. Kubata, sagte aus, dass sie ihn oft in Begleitung eines Mädchens sah, das vielleicht auf den Namen „Wetti“ oder „Pepi“ hörte. Frau Christa Schroeder, seit den 1920er Jahren langjährige Privatsekretärin Hitlers, bestand darauf, dass ihr Chef erwähnt hatte – mehr als einmal – dass er zu dieser Zeit eine „Geliebte“ namens „Emilie“ in Wien hatte. Die Kassiererin im Café Kubata erinnerte sich später, dass sie den jungen Mann mochte, da „er sehr zurückhaltend und ruhig war, Bücher las und sehr ernst schien, im Gegensatz zum Rest der jungen Männer.“

Wohnungswechsel Wien
Wohnungswechsel in Wien 1908 – 1909

Die Kosten für die Wohnung in der Felberstraße, ob er sie nun allein benutzte oder nicht, waren jedoch eine zu große Belastung für Hitler Finanzen, die jetzt wahrscheinlich limitiert waren auf die fünfundzwanzig Kronen Waisenunterstützung, die er immer noch monatlich erhielt. Er zog wieder um, am 21. August 1909, diesmal als „Schriftsteller“, in die Sechshauserstrasse 56, 2. Stock, Zimmer 21, c / o Frau Antonie Oberlechner, im XIV. Distrikt. Es war nah an der Felberstraße, aber wahrscheinlich billiger, denn die Sechshauserstrasse war eine Durchgangsstraße mit viel Lärm und Straßenbahnverkehr.

Dies schien seine Situation jedoch nicht zu verbessern; weniger als vier Wochen später, am 16. September 1909, verließ er die Sechshauserstrasse, ohne eine neue Adresse zu registrieren. Er musste wohl nah am Ende des Seils gewesen sein: etwa drei Monate lang verlieren sich seine Spuren in den Massen der Armen, in der Anonymität der Obdachlosen und Bedürftigen.

Die Tage seiner Landstreicherei zwangen ihn, ebenso wie die Myriaden, die sein Schicksal teilten, Schutz vor der Kälte des bevorstehenden Winters in Parks, Alleen, Türen und Gräben zu suchen. Wie bereits im Vorwort erwähnt, war ein beliebter Unterschlupf der Vergnügungspark Prater – im Winter größtenteils inaktiv – der viele Bänke bot, für die intensiver Wettbewerb herrschte. Er mag, wie viele andere auch, versucht haben, in Kaffeehäusern, Bars oder Absteigen zu schlafen, in den Wartezimmern von Bahnhöfen oder den Wärmstuben der städtischen Hilfsorganisationen. In Mein Kampf gab er zu, dass „ich auch jetzt noch schaudere, wenn ich an diese erbärmlichen Höhlen, Unterstände und Wohnheime denke, an finstere Bilder von Schmutz, abstoßendem Dreck und noch schlimmeres.” Seine pekuniäre Not war wohl so groß, dass er seine Kunstmaterialien und das meiste seiner Kleidung zu verkaufen gezwungen war; ein Verkauf, der schlecht zu den abfallenden Temperaturen passte. Um es noch schlimmer zu machen, wurde der Winter 1909/10 der kälteste seit Jahrzehnten und eines Tages war Hitler gezwungen, seine Niederlage gegenüber den Wiener Wettergöttern zuzugeben: Eines kalten Dezemberabends tauchte er in dem Arbeitervorort Meidling auf; genauer gesagt, in der langen Schlange bedauernswerter Elender, die auf Einlass in das dortige “Asyl für Obdachlose“ warteten.

Das Asyl in der Unteren Meidlinger Straße, gebaut 1908

Das Asyl, das „in Anbetracht der Interessen der anständigen Bürger hinter dem Meidlinger Friedhof gebaut wurde, weit weg von den Bewohnern“, aber, recht verkehrsgünstig, in der Nähe des Südbahnhofs, war erst kürzlich eröffnet worden (1908). Zusammen mit einer ähnlichen Institution im 3. Bezirk, wurde es vom Wiener „Asylverein“, betrieben, einer Wohltätigkeitsorganisation, die sich durch private Spenden finanzierte und einen jährlichen Zuschuss von der Stadt erhielt. Doch der Verein musste ständig gegen Windmühlen ankämpfen – gegen die drei zusammenhängenden Probleme, die Obdachlosigkeit verursachten: Armut führte zu Obdachlosigkeit, Obdachlosigkeit zu Krankheit und Krankheit zum Verlust des Arbeitsplatzes. Das kaiserliche Wien war eine Metropole von mehr als zwei Millionen Einwohnern und – wie im Vorwort erwähnt – zu dieser Zeit die sechstgrößte Stadt auf der Erde, in welcher sicherlich mehr als eine Viertelmillion der Bewohner zu ewiger Armut verdammt schienen. Viele der Verlierer kamen aus den äußeren Provinzen des Reiches, dem Osten und Süden, und es fehlte ihnen oft an der nötigen Beherrschung der deutschen Sprache, was wiederum ihre Chancen auf Beschäftigung verringerte. Schlimmer noch, es fehlten vielen die Art von Überlebensinstinkten, die in der Stadt galten, im Gegensatz zu denen ihrer ländlichen Herkunft.

Das Meidlinger Haus war eine robuste Angelegenheit und bot Zuflucht für rund tausend Seelen. Im Gegensatz zu anderen Hilfsorganisationen erlaubte es Insassen den Aufenthalt nur für eine Woche (eine Einschränkung, die leicht umgangen werden konnte), aber es bot einen Vorteil, der den meisten anderen Orten fehlte: es nahm ganze Familien und ihre Kinder auf, nicht nur alleinstehende Männer. Es förderte auch die Selbsthilfe: jeder, dessen Gesundheit es zuließ, wurde aufgefordert, in der Reinigung und Wartung des Gebäudes zu helfen, um die Betriebskosten auf einem Minimum zu halten. Das Gebäude selbst war, aufgrund seiner Neuheit, recht ansprechend; es gab jede Menge Waschgelegenheiten, Duschen und zahlreiche Toiletten, alle makellos sauber. Zwei Mahlzeiten pro Tag wurden ausgegeben, Brot und Suppe, zum Frühstück und Abendessen; die Schlafräume waren von den üblichen militärischen Feldbetten gekennzeichnet, aufgestellt mit der Präzision eines Bataillons auf Parade. Während der Tagesstunden wurde von den Insassen erwartet, das Gebäude – vorzugsweise auf der Suche nach Beschäftigung – zu verlassen; herumzulungern war verpönt und konnte leicht zur Ausweisung führen.

Hitlerbild: Ein Aquarell einer Seelandschaft

So sehr er es hasste, musste Hitler jedoch das Ritual der Zulassung ertragen, um seine Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft des Elends zu etablieren. Die Zitternden begann sich außerhalb des Haupttores aufzureihen als die Dunkelheit hereinbrach, gegen 17.00 Uhr, und als die Türen der Einrichtung geöffnet wurden, bildeten sich leise zwei Reihen von Körpern: die Männer rechts, und die Frauen und Kinder auf der linken Seite. Hitler erhielt, wie alle anderen, ein Ticket, das ihn zur vorgeschriebenen einwöchigen Unterkunft berechtigte und wurde einem Messingbett in einem der Schlafsäle zugeordnet. Für einen Mann, der so viel auf seine Privatsphäre hielt wie Adolf Hitler, muss seine erste Erfahrung, mit öffentlichen Duschen und Entlausung konfrontiert zu werden, sehr ungewohnt gewesen sein. Sein stolzer Sinn für Individualität musste spätestens verschwinden, als er in die Herde der anderen Insassen zum Abendessen in die Messe ging. Wie John Toland beobachtete, “ist es für jeden schwer, außer vielleicht einem anderen Empfänger institutionalisierter Wohltätigkeit, die Schande eines stolzen jungen Mannes an seinem ersten Tag in den Toren einer solchen Einrichtung zu verstehen.“

Für einen Mann, der so an seine Freiheit gewohnt war wie Adolf Hitler, fühlte sich das Asyl sicherlich wie ein Gefängnis an. Man kann sich vorstellen, wie er, völlig verloren, auf einem Feldbett in einem großen Saal mit Hunderten von Fremden saß, von denen ein jeder besser mit der Situation vertraut war als er. Es war vielleicht seine Ähnlichkeit mit einem verlorenen Kätzchen, das seinen Bettnachbarn, einen unregelmäßig beschäftigten Diener und Kellner namens Reinhold Hanisch, veranlasste, sich um ihn zu kümmern und ihn einzuweisen. Obwohl Hanisch sich später als unzuverlässiger Zeuge entpuppte – bevor er Hitler traf, hatte er schon mehr als einmal im Gefängnis gesessen, da er öfters unter falschem Namen mit frisierten Geburtsurkunden gelebt hatte und in späteren Jahren Hitlergemälde fälschte – klingen einige Teile seiner Memoiren, die die amerikanische Zeitschrift „The New Republic“ 1939 unter dem Titel „Reinhold Hanisch: Ich war Hitlers Buddy, posthum veröffentlichte, doch glaubhaft – unter vielem, das sich als falsch oder zumindest irreführend erwiesen hat.

Im Gegensatz zu Hitler war Hanisch ein professioneller Nutzer des wohlfahrtsunterstützten Lebensstils; er war vertraut mit dem Innenleben des Asyls und jedes vergleichbaren Hauses in Wien und auch ein Experte in den allgemeinen Überlebensstrategien von Vagabunden. Er konnte seinen Wert sofort beweisen: einer der ersten Tricks, die er Hitler lehrte, war, wie man die zeitliche Einschränkung des Unterschlupfs umgehen konnte; alles, was man zu tun hatte, war, für ein paar Heller, die ungenutzten Teile der Aufenthaltskarten derjenigen Insassen zu erwerben, die aus einer Vielzahl von Gründen ihre Zuteilung nicht verbraucht hatten. Damit war die erste Gefahr – in die Kälte zurück zu müssen – gebannt und Hitler begann seine neue Bekanntschaft langsam zu schätzen.

Reinhold Hanisch kam aus dem Sudetenland, dem nördlichen, deutschen Teil Böhmens – so glauben es zumindest manche, denn er wird auch oft als in Grünwald bei Gablenz geboren aufgeführt – aber er war viel gereist und konnte seinem neuen Freund viele Geschichten über Deutschland, Adolfs gelobtem Land, erzählen. Hanisch hegte auch ein paar Träume, Künstler zu werden und hatte so eine verwandte Seele in Hitler erkannt. Hanisch hatte viel gesehen und konnte so die Geschichte vieler Städte und Schlösser, Kathedralen und Klöster, Berge und Flüsse erzählen.

Um die Dinge für Adolf unterhaltsamer zu machen, stellte sich heraus, dass Hanisch einige Zeit in Braunau gearbeitet hatte, und sie begannen, Erinnerungen an die Stadt auszutauschen. Wie es häufig der Fall ist, lässt Bekanntes und gemeinsam Erlebtes Vertrauen sprießen, und bald sprachen sie unaufhörlich. Das heißt, bis Hanisch einen neuen Job fand und am 21. Dezember 1909 in die Hermanngasse 16 im II. Bezirk zog und am 11. Februar 1910 weiter, in die Herzgasse 3/4, im X. Bezirk.

Aber nach ein paar Tagen des Zuhörens hatte Hitler die Grundregeln des Straßenlebens auswendig gelernt und sie entwickelten eine Art tägliche Routine. Am Morgen machten sie sich auf den ziemlich langen Spaziergang zum Katharinenkloster in der Nähe von Adolfs alten Jagdgründen am Westbahnhof, um sich in die Warteschlange für die Suppe einzureihen, die die Nonnen mittags ausgaben, und sich dann in einen der wärmenden Räume der philanthropischen Gesellschaften zu begeben, oder in die relative Wärme eines Bahnhofs. Am Nachmittag versuchten sie eine Mahlzeit bei der Heilarmee abzustauben und dann als erste den Weg zurück in die Warteschlange der Anstalt zu finden. Gelegentlich wurden an einem der Bahnhöfe Männer gesucht für einen oder zwei Tage Arbeit – Graben, Schneeschaufeln oder Gepäck schleppen – aber Hanisch hatte schnell erkannt, dass Hitler für solche Nebenjobs zu schwach war. Er hatte auch kein Talent zum Betteln, obwohl er von einem Kameraden die Adressen von leichten Opfern, also potenziellen Spendern, erhielt. Es gab „spezifische Anweisungen für jeden Kunden; zum Beispiel war eine alte Dame auf dem Schottenring mit einem ‚Gelobt sei Jesus Christus‘ zu begrüßen – dann solle er sagen, dass er ein arbeitsloser Kirchenmaler oder ein Schreiner von Heiligenfiguren war. Normalerweise gab sie zwei Kronen für eine solche Geschichte, aber Hitler bekam nur religiöse Plattitüden für seine Mühe.“ Die Nonnen von St. Katharina standen in dem Ruf, eine der wenigen zuverlässigen Adressen in der Stadt zu sein.

Á la longue erkannte Hanisch dass, während praktisch alle Ausgestoßenen der Hauptstadt bettelten, nur sehr wenige malten, und entwickelte den Plan, von Adolfs künstlerischen Fähigkeiten zu profitieren. Wir wissen nicht genau, wann er auf die Idee gekommen ist; entweder während der zwei Monate die Hitler im Meidlinger Asyl verbrachte, oder später im Männerheim in der Meldemannstraße, aber jedenfalls überzeugte Hanisch seinen Freund, dass es der beste Weg sei, einiges dringend benötigtes Geld zu verdienen, kleine Szenen oder Postkarten zu malen und zu verkaufen. Als Hitler einwandte, dass er keine Malutensilien mehr hatte, und zu schäbig aussah, um Verkäufe zu tätigen, wurde der Plan geändert und die Arbeit aufgeteilt: Adolf malte und um den Verkauf kümmerte sich Hanisch, gegen eine Kommission von fünfzig Prozent.

Angela Hitler mit ihre ersten Mann, Leo Raubal

Da war das Problem, dass die beiden potenziellen Unternehmer keine Lizenz hatten, aber Hanisch versicherte seinem Freund, dass solch kleinliche Vorschriften leicht zu umgehen wären, indem sie ihre Verkaufstätigkeit in die dunklen und verrauchten Kneipen der Stadt verlegten, von denen Hanisch, der in vielen dieser Stätten gearbeitet hatte, über ein geradezu enzyklopädisches Wissen verfügte. In Bezug auf die benötigten Malutensilien schlug Hanisch vor, auf die Großzügigkeit von Adolfs Familie zu bauen. Das Café Arthaber, günstig in der Nähe des Bahnhofs Meidling gelegen, war bekannt dafür, Vagabunden Stift und Papier zur Verfügung zu stellen, sobald sie die universelle Aufnahmegebühr – den Preis einer Tasse Kaffee – entrichtet hatten. Adolf schrieb einen Brief, entweder an Tante Johanna oder an seine Halbschwester Angela, und ein paar Tage später kam ein Fünfzigkronenschein – postlagernd. „Das Geld rettete wahrscheinlich sein Leben, denn es gab ihm wieder Hoffnung zu einer Zeit, als er sehr wenig zu hoffen hatte.“

All der wenige Besitz, den er in den vergangenen Jahren angesammelt hatte, war längst verschwunden. Es ist durchaus möglich, dass eine wütende Wirtin einiges statt Miete einbehalten hatte, aber in seiner erbärmlichen Existenz vor dem Asyl hat er vielleicht das meiste davon einfach verloren – aus den Augen, aus dem Sinn. Alle Bücher, Manuskripte, Gemälde, Skizzen, Karten und Zeichnungen waren verschwunden – so wie der schicke Mantel, Hut und Spazierstock. Hätte August die mittellose Figur wiedergetroffen, hätte er ihn vielleicht nicht einmal erkannt. Der junge, fast elegante Bohemien war verschwunden; alles was blieb war ein Stück menschlichen Treibguts, die Trümmer des kleinen Jungen, der seine Gespielen gedrängt hatte, Rothäute zu jagen. Nur Fragmente waren geblieben von dem Sohn, den Klara so geliebt hatte.

Vielleicht hat der Absturz seiner Traumwelt Pulsationen ausgesandt, wie Wellen, an die äußeren Ränder seines Bewusstseins; wo er die Reste seines früheren Selbst in ungewohnter Umgebung gefangen sah – sehend aber nicht erkennend, wie er dort angekommen war. Wie aus einem Winterschlaf erwachend, fand Adolf sich an einem Ort verwirrender Fremdheit und tat sich schwer, den geistigen Zusammenhang von Zeit und Ort wiederherzustellen. In einem Brief von 1913 schrieb er: „Der Herbst 1909 war für mich eine unendlich bittere Zeit. Ich war ein junger Mann ohne Erfahrung, ohne finanzielle Unterstützung, und zu stolz, sie von irgendwem zu akzeptieren, geschweige denn um sie zu bitten.“ Das bittere Gefühl war real genug, aber der letzte Satz war eine Lüge. Sein wahres Problem mit Betteln war, dass es für ihn nicht funktionierte.

Und in gewisser Hinsicht verschwanden die Merkmale dieses Winters nie. In der Beschreibung ihrer Freundschaft, hatte August Kubizek das Porträt eines etwas seltsamen, exotischen, ein wenig umständlichen und manchmal gewalttätigen jungen Mannes gemalt, der dennoch permanent aktiv war, wenn auch nur in egozentrischer Art und Weise; Schreiben, Zeichnen, Malen, eine Oper komponieren und den Neubau von Linz zu planen. Jetzt, weniger als zwölf Monate später, war sein Freund ein Wrack an Geist und Körper. Er hatte Gewicht verloren und seine Gesundheit war mehr als zweifelhaft. Es wurde argumentiert und es erscheint in der Tat wahrscheinlich, dass die unzähligen Beschwerden, groß und klein, die ihn in späteren Jahren plagten, in diesem kalten Winter verwurzelt waren, die sein früheres Lungenleiden verschärft haben können und womöglich auch sein Immunsystem schwächten.

Aber nicht nur war er körperlich erschöpft, auch sein Geist hatte gelitten. Lange Zeit behielt er den unfokussierten Blick, der Visionären und Bettlern gemeinsam ist; Konzentration war sporadisch, Vernunft unzuverlässig, seine Leidenschaften taub, es sei denn ihn störte etwas. Dann konnte er immer noch auflodern, in heftigem, beißenden Crescendo streiten, schimpfen, toben; nur um wieder schnell in die tröstliche Linderung der Apathie zu versinken. Er war am Rande der Aufgabe, als Hanisch ihn auffing, aber nach und nach passte er sich dem Leben der Ausgestoßenen an und  langsam wurde alles besser.

Das Meidlinger Asyl jedoch, Sicherheitsnetz in den Tagen des Unglücks und Irrens, war kein Platz um „Hitler & Hanisch, Postkarten (ohne Lizenz)“ zu beginnen. Ein Ort musste gefunden werden, der nicht nur langjährigen Aufenthalt gestattete, sondern auch über einen Raum verfügte, in dem Hitler tagsüber malen konnte. Hanisch identifizierte einen solchen Ort im Männerheim von Brigittenau, in Wiens neuestem, dem XX. Distrikt.

Das Männerheim, Meldemannstraße 25 – 29, Brigittenau

Wir bitten nun Brigitte Hamann ( „Hitler’s Vienna“, 1. Aufl. Oxford University Press 1999, Tauris Parks 2010, ISBN 978-1-84885-277-8), uns in die Einrichtung einzuführen, in der Adolf Hitler vom 9. Februar 1910 bis zum 24. Mai 1913 lebte:

Das sechsstöckige Männerheim in Wien-Brigittenau, Meldemannstraße 25 bis 29, gehörte zu den modernsten in Europa. Eröffnet im Jahr 1905, wurde es von des Kaisers privater „Franz Joseph I.-Jubiläums-Stiftung für Volkswohnungen und Wohlfahrtseinrichtungen“ betrieben, gemeinsam mit verschiedenen anderen gemeinnützigen Institutionen, die durch Spenden finanziert wurden. Bedeutende Beiträge wurden von jüdischen Familien beigetragen, vor allem von Baron Nathaniel Rothschild und der Familie Gutmann. Die Herberge wurde von der Stadt Wien verwaltet. Die ersten Entwürfe sorgten für Aufsehen während einer Ausstellung im  Künstlerhaus. Es war unüblich für Herbergen, keine gemeinsamen Schlafsäle zu haben, sondern einzelne Abteile für jeden ihrer bis zu 544 Gäste, hervorragende hygienische Bedingungen zu gewährleisten und viele gemeinsame Veranstaltungen anzubieten, um „Bildung und Geselligkeit“ zu fördern.

Brigittenau, am Rande der Stadt gelegen, hatte, aufgrund vieler neuer Industrieanlagen, ein großes Bedürfnis nach Arbeitern und das schnellste Bevölkerungswachstum aller Wiener Bezirke. Die Bevölkerung stieg von 37.000 im Jahr 1890 auf 101.000 im Jahr 1910. Die meisten der neuen Bewohner waren junge alleinstehende Männer, die in den neuen Fabriken arbeiteten und, da es keine billigen Wohnungen gab, sich oft gezwungen sahen, die Nächte als Untermieter in überfüllten Arbeiterwohnungen zu verbringen.

Das neue Männerwohnheim sollte die Anzahl der Untermieter verringern, um dadurch die bedrohte Moral ihrer Gastfamilien zu schützen. Der Treuhänder der Stiftung, Prinz Carl von Auersperg, hatte anlässlich des Besuches von Kaiser Franz Josef im Jahr 1905 darauf hingewiesen dass: “Insbesondere dieses Männerheim ein aktuelles Beispiel sucht, um die … Möglichkeiten aufzuzeigen, effektiv die schädlichen Bedingungen der Unterkunft zu bekämpfen, dem einzelnen Arbeiter statt einer zweifelhaften und überfüllten Schlafstelle nicht nur eine bezahlbare Unterkunft zu bieten, wo er bleiben kann, sondern auch die Möglichkeit Körper und Geist zu stärken.”

Die Miete für einen Schlafplatz betrug nur 2,5 Kronen pro Woche; eine Summe, die sich ein alleinstehender Handwerker oder Handwerker mit einem Jahreseinkommen von 1.000 Kronen durchaus leisten konnte. In Wien wurde die Herberge somit als das „Wunder einer fast göttlichen Unterkunft auf der Erde“ gelobt und als „ein Wunderwerk der Eleganz und Erschwinglichkeit.“ [FN1]

[FN1] Der durchschnittliche Monatslohn im Jahr 1910 betrug 54 Kronen (Österreichische Nationalbank). Werner Maser gibt folgende Beispiele für Gehälter an: „Zu dieser Zeit betrug das Gehalt eines Anwalts nach einjähriger Tätigkeit vor Gericht 70 Kronen pro Monat, das eines Lehrers in den ersten fünf Jahren seiner Karriere 66 Kronen. Ein Postbeamter verdiente 60 Kronen, während ein stellvertretender Lehrer an einer Wiener Sekundarschule vor 1914 ein monatliches Gehalt von 82 Kronen erhielt.“ (Werner Maser, Adolf Hitler: Legende, Mythos und Wirklichkeit, NY 1971, S.43)

Der Wiener Journalist Ernst Kläger verkleidete sich als ein Zuflucht suchender Obdachloser, verbrachte eine Nacht in der Herberge und schrieb einen Artikel darüber. Der Bereich zwischen der Wiener Innenstadt und Brigittenau, jenseits des Donau-Kanals, sei öde, schrieb er. … Schließlich fand er die neue Herberge.

Eine große elektrische Bogenlampe über das Tor zeigte denjenigen den Weg, die über den frischen Hügel ausgegrabenen Bodens stolperten. Im Vergleich zu den anderen, kleinen Häusern rundherum, und den kahlen Fabrikgebäuden im Rücken sieht das Haus stolz aus. Ich öffnete die Tür und fand mich, zu meiner Überraschung, in einem Vorraum wieder, der kein gutes Hotel beschämen würde, und fühlte mich von komfortabel warmer Luft umarmt.“
Das Männerheim hatte sowohl elektrische als auch Gaslampen und wurde durch eine moderne zentrale Niederdruckdampfheizung versorgt. An der Theke hatte der Reporter keine Schwierigkeiten, für dreißig Kreuzer ein Ticket für eine Nacht zu erhalten (30 Kreuzer sind 60 Heller, eine Krone hatte 100 Heller). Kläger beschrieb das Esszimmer im oberen Mezzanin: „Wieder war ich von der Eleganz des Raumes angenehm überrascht, der durch zwei Bogenlampen beleuchtet wurde und dessen Wände auf halber Höhe mit grünen Fliesen bedeckt ware
n.“

Dann kostete er das – spottbillige – Essen und fand die Mahlzeiten „alle sehr gut.“ Die Bewohner der Herberge bezahlten im Durchschnitt nur eine halbe Krone pro Tag für das Essen – zum Frühstück, Abendessen und Snacks – mit anderen Worten, nur ungefähr fünfzehn Kronen pro Monat.

Kläger beobachtete die Mieter: „Die Tür öffnete sich ständig und jemand in einem schlechten Anzug, in der Regel mit einer Tasche unter dem Arm, betrat den Vorraum. Man konnte sagen, dass die meisten Insassen unglaublich müde schienen.“ Weil die meisten von ihnen einen harten Arbeitstag hinter sich hatten, war es am Nachmittag recht ruhig. Doch am Abend war es „lebhaft, gesellig, aber keineswegs ausgelassen, bis etwa 10 Uhr 30“.

Es gab eine Küchenzeile mit Gasflammen und Utensilien für diejenigen, die ihr eigenes Essen zubereiten wollten. Kochteams wurden gebildet: einer der Arbeitslosen würde in der Herberge bleiben, einkaufen gehen, und für einige Arbeiter kochen, und im Gegenzug kostenlos essen. Zunächst erbot sich Hitler ebenfalls als Koch, aber mit wenig Erfolg – Reinhold Hanisch zufolge war die oberösterreichische Milchsuppe, an der er sich stolz versucht hatte, geronnen und hatte eher die Konsistenz von Käse.

Das Treppenhaus

Kläger machte weiter seine Runden durch das Refugium und berichtete: „Direkt neben dem Esszimmer ist ein großer, sehr schön eingerichteter Leseraum mit zwei Abteilen, einem für Raucher und einem für Nichtraucher. Er verfügt über Tageszeitungen und eine schöne Bibliothek, die den Mietern zur Verfügung steht. Die meisten Bücher sind eher leichtverdaulich, Romane und Schriften über populäre Wissenschaft. Darüber hinaus gibt es auch Schreibtische mit den notwendigen Utensilien für Korrespondenz.“ Am Sonntagnachmittag gibt es Unterhaltung sowie die Möglichkeit zur Weiterbildung durch Konzerte und Vorträge. Auf dem unteren Mezzanin gibt es Wasch- und Schuhputzräume, Abstellmöglichkeiten für Gepäck- und Fahrradträger und Schuster und Schneider.

Die hygienischen Verhältnisse waren vorbildlich: Ein Hausarzt praktizierte kostenlos und ambulante Patienten erhielten für kleinere Krankheiten Behandlung in einem Krankenzimmer. Wie in allen Sammelunterkünften gab es einen Desinfektionsraum mit Entlausung für Neuankömmlinge. Neben normalen Toiletten gab es auch einen Rasierraum und ein Duschbad mit sechzehn Duschen, fünfundzwanzig Fußbädern und vier Badewannen. Ein Bad kostete fünfundzwanzig Heller – etwa ein Drittel des Preises in einem öffentlichen Bad. Alle dies zahlte sich aus während des Cholera-Ausbruchs von 1910; die gefürchtete Krankheit verschonte das voll besetzte Männerheim vollständig.

Die Schlafsäle in den vier oberen Etagen wurden um 20:00 Uhr geöffnet und mussten bis 9.00 Uhr geräumt werden. Sie bestanden aus langen Reihen von kleinen, separaten Schlafkabinen, jede mit den Maßen 4,6 x 6,9 Meter. Es gab genug Platz für ein Bett, einen kleinen Tisch, einen Kleiderständer und einen Spiegel. Ständige Gäste bekamen ihre Bettwäsche alle sieben Tage gewechselt und Tagesgäste täglich, wie im Hotel. Als zusätzlichen Komfort hatte jede Kammer eine Tür mit Schloss und eine Glühbirne. Es war wohl das erste Mal, dass Hitler elektrisches Licht in seinem Zimmer hatte.

Schlafkabine, Fensterseite, Meldemannstraße ca. 1930

Hitler vermied es später auffällig, über das Männerheim zu sprechen, denn die Führer-Legende beschrieb ihn als in Parks und Gräben schlafend – was er zwar getan hatte, aber nur wenige Monate lang, bevor er sich in der Herberge vergleichsweise gut aufgehoben fand. Der grundlegende Unterschied zwischen dem Meidlinger Asyl und dem Männerheim in der Brigittenau war psychologischer Natur; das erstere bedeutete die vielleicht letzte Flucht vor dem Verhungern oder Erfrieren, während im letzteren, zumindest der Theorie nach, ein Mensch sich einreden konnte, dass er auf dem Weg in eine bessere Zukunft war. Es konnte einem gerade schlecht gehen, aber es gab einen Strahl der Hoffnung.

Hier müssen wir zu dem Problem der – ab und zu zweifelhaften – Verlässlichkeit der Aussagen Reinhold Hanischs zurückzukehren. Er behauptete, dass er Hitler ein paar Tage später in die Herberge folgte, und da Hitler seine neue Adresse im Männerheim bei der Polizei am 9. Februar eingereicht hatte, musste Hanisch bald darauf angekommen sein. Wir wissen, dass sich Hanisch häufig in der Herberge aufhielt, um Hitlers Gemälde abzuholen und zu verkaufen – aber damals war er noch in der Herzgasse 3/4 im fernen X. Bezirk registriert. Die Aufzeichnungen über Adolf sind klar: mit einer kleinen Unterbrechung blieb er vom 9. Februar 1910 bis zum 24. Mai, 1913 im Männerheim, 39 Monate lang. Er mag kurz für Besorgungen dann und wann abwesend gewesen sein, aber das Gebäude an der Meldemannstraße war mehr als drei Jahre lang seine Heimat – für ungefähr sechs bis sieben Kronen pro Woche. Die Waisenunterstützung von 25 Kronen monatlich, die er weiterhin erhielt, deckte also knapp seine Unkosten. Arm waren die Bewohner ohne Zweifel, aber die Verwaltung war bemüht, ihre Würde zu erhalten. Die Männer konnten Korrespondenzkurse buchen, sich bei der Jobvermittlung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) anmelden, oder die Bibeln lesen, die eine Vereinigung katholischer Arbeitsloser zur Verfügung stellte. „Ruhe und Ordnung“ wurden streng durchgesetzt, genau wie eine Kleiderordnung. Alles in allem bot das Männerheim eine ruhige, fast klösterliche Atmosphäre, in die, mit Ausnahme einiger politischer Diskussionen, Hitler gut hineinpasste.

Ob er jetzt im Männerheim wohnte oder nicht, Hanisch kümmerte sich ums Geschäft. Der erste Schritt war es, Adolf und das Kunstmaterial, das die beiden kürzlich durch die Wohltätigkeit Angelas oder Tante Johannas erhalten hatten, in den Leseraum zu verfrachten – Nichtraucherbereich. Dort stand ein langer Eichentisch nahe dem Fenster, welches das natürliche Licht zur Verfügung stellte, das Adolf zum Malen benötigte. Ihr Unternehmen belieferte nun den „Markt für postkartengroße Gemälde, die in Tavernen oder bei Kunsthändlern verkauft werden, die sie nicht so sehr für ihren künstlerischen Wert erworben, sondern, um leere Rahmen zu füllen.“ Bald begriff Hitler, welche Motive gefragt waren, meist Sehenswürdigkeiten und Natur, und seine Postkarten und kleine Gemälde verkauften sich recht schnell.

Nach ein paar Monaten blühte die Partnerschaft auf. Hanisch war es ein Leichtes, Käufer in dem Labyrinth der Gassen Wiens zu finden – nicht nur in denen, die sich zwischen dunklen Tavernen und dürftigen Geschäften, Kiosken und Trafiken durch schlängelten, sondern auch in den Gärten des Praters und den Kunstgeschäften der besseren Viertel der Hauptstadt. Die erzielten Summen pendelten sich zunächst zwischen fünf und zehn Kronen ein; Erträge, die fünfzig/fünfzig geteilt wurden. Langsam etablierte sich ihre Geschäftsroutine und Hitlers Leben stabilisierte sich, obwohl er nach wie vor kaum Kleidung besaß.

Die Lesesäle waren der Ort, wo sich die gebildeteren Insassen trafen, von denen nicht wenige ehemalige Studenten der österreichischen Schulen und Hochschulen waren. Sie diskutierten über Politik und Kunst, Geld und Frauen, wie es einsame Männer so tun. Einige versuchten, Neulinge von ihren jeweiligen politischen Ansichten zu überzeugen, und Arbeiter wurden in den Diskussionen toleriert, solange es schien, man könne sie noch von dem Gift des Sozialismus erretten. Manchmal versuchte Hitler die Debatten zu moderieren, als Arbiter Elegantiarum – vielleicht ein Familienmerkmal, wenn wir seines Vaters Nachruf gedenken – Alois, der es gewohnt war „sich autoritativ zu allen Fragen zu äußern, die ihm zur Kenntnis gekommen waren.“ Zu anderen Zeiten hörte er nur, auf dem langen Eichentisch über seine Arbeit gebeugt. …

Nach ein paar Monaten, in denen der Postkartenbetrieb wie geplant arbeitete, ging etwas schief – aber ach, was wirklich passierte, wissen wir nicht. Aus heiterem Himmel gelang es eines Tages Hanisch nicht, seinen Mitarbeiter am Eichentisch zu finden. Hitler hatte das Gebäude, von seinem jüdischen Freund Josef Neumann begleitet, verlassen: Gerüchten zufolge planten sie nach Deutschland auswandern. Als sie eine Woche später schließlich zurückkehrten, erklärte Hitler, dass sie nur auf einer langen Besichtigungstour durch die Stadt gewesen waren. Es erscheint möglich, dass Hitler und Neumann versucht hatten, ein kleines Nebengeschäft aufzubauen: Durch die Vertrautheit des letzteren mit der jüdischen Seite des Wiener Kunsthandels, konnte Neumann vielleicht ein besserer Agent sein als Hanisch. Nach einer Woche waren sie jedoch wieder zurück, aber Hitler erschien mittellos und eigenbrötlerisch, fast als ob von irgendetwas schockiert, und seine Beziehungen sowohl zu Hanisch als auch zu Neumann, der das Heim schon am 12. Juli 1910 verließ, endeten bald danach.

Könnte der Vorfall untersucht werden, gäbe es eventuell verlockende Einblicke. Helene Hanfstaengl, Gesellschaftslöwin und Ehefrau von Hitlers ersten ausländischem Presseagenten Ernst Hanfstaengl, und eine No-Nonsense-Frau in sui generis, berichtete, dass Hitler ihr mehr als einmal beichtete, dass sein Abscheu vor Juden „eine persönliche Sache“ sei, und dass dieser Hass in Wien entstanden wäre. Adolfs Schwester Paula gab später ihrer Meinung kund, dass sein „Scheitern in der Malerei nur auf der Tatsache beruhte, dass der Handel mit Kunstwerken in jüdischen Händen war.“

Vielleicht ist dies jetzt der richtige Platz, die Realität von Hitlers Antisemitismus in den Jahren des Männerheims zu erkunden. Hanisch berichtet, einigermaßen unglücklich, dass mindestens drei jüdische Insassen der Herberge Hitlers Freunde waren, der zuvor erwähnte Neumann, Simon Robinson, geboren 1864 in Galizien, ein Schlossergehilfe und Siegfried Löffner, ein Verkäufer, geboren 1872 in Mähren. Ein anderer Zeuge aus dem Männerheim, Karl Honisch [mit „o“, nicht mit Hanisch zu verwechseln, ¶] erwähnt einen anderen jüdischen Mann, Rudolf Redlich aus Mähren, als einen Bekannten von Hitler. Es förderte nur Hanischs Unzufriedenheit, dass sie alle Hitler halfen, seine Bilder zu verkaufen. Noch schlimmer war es, dass Hitler bald begann, seine Werke direkt an Kunsthändler zu verkaufen und so Hanisch aus Spiel und Geld entließ. Viele der Händler, die Hitlers Gemälde kauften, waren Juden oder jüdischer Herkunft: so Jakob Altenberg, der in Wien zum Christentum übergetreten war, der reiche Rahmenhersteller  Samuel Morgenstern, der immer direkt mit Hitler verhandelte und ihm auch den Anwalt Dr. Josef Feingold zuführte, der ein stetiger Käufer wurde, und ein anderer Händler, mit dem Namen Landsberger. So wie Brigitte Hamann es zusammenfasst, scheint es, als ob Hanisch in diesen Jahren der Antisemit war, nicht Hitler. Es stimmt, dass Hitler, seit dem Erscheinen von „Mein Kampf“, an der Legende von seiner frühen Entdeckung der verdammenswerten Rolle der Juden strickte, und die Hagiografie des Dritten Reiches diese Version in den Status Heiliger Schrift erhob, aber bei genauerer Betrachtung schweigen alle Quellen vor 1919 entweder über Hitlers mutmaßlichen Antisemitismus oder  widersprechen dem Dogma sogar. Es stimmt, dass Hitler von den Sozialisten gelernt hatte, dass politische Propaganda keine Mehrdeutigkeit zulassen kann: es muss einen Feind geben, und nur einen. Und doch scheint es, wie wir später sehen werden, dass Hitler vor 1919 nie ein kohärentes antisemitisches Konzept entwickelte.

Es scheint, dass Adolf der Kunstakademie in diesem Herbst 1910 einen weiteren Versuch widmete. Er sicherte sich einen Termin bei Professor Ritschel, dem Kurator, und brachte Beispiele seiner Arbeit mit: aber es wurde nichts daraus, sei es, weil der Professor ihm die Zulassung verweigerte oder weil Adolf schlicht nicht über die Mittel für eine erneute Anmeldung verfügte.

Von dem wenigen das wir wissen, hat ihn die dritte Ablehnung vielleicht nicht wirklich überrascht, aber seine Frustrationen sicher eine Zeitlang vertieft; und er wurde immer mehr zu einem Einsiedler, weder gemocht noch abgelehnt von den anderen Herbergsinsassen; einer, der in einem dissonanten Universum seines eigenen Designs lebte.

Inzwischen hatte er sich selbst zu einer Institution entwickelt – er war ein Teil des Inventars geworden. Sein Verhalten hatte sich wieder verändert und er hatte einiges von seinem alten Vertrauen wiedergewonnen: den anderen Mitbewohnern, die sich um den Eichentisch gruppierten und seine Arbeit in statu nascendi bewunderten, gestand er, dass er nur herumspiele; dass er das Malen noch zu wenig gelernt hatte und dass sie seine Bemühungen nicht zu ernst nehmen sollten.

Im Jahre 1944 sagte er zu seinem Fotografen Heinrich Hoffmann: „Auch heutzutage sollten diese Dinger [d.h. Bilder] nicht mehr als 150 oder 200 Reichsmark kosten. Es ist verrückt, mehr für sie auszugeben. Eigentlich wollte ich gar nicht Künstler werden, ich malte das Zeug nur, um mein Leben zu fristen und es mir leisten zu können, in die Schule zu gehen.“ Wenn er künstlerisches Vergnügen suchte, tat er es bei Bauzeichnungen, nicht Aquarellen. In gewisser Weise jedoch gab diese Arbeit seinem Leben das Element der Struktur zurück, die er verloren hatte, als er die Schule verließ; jetzt verbrachte er seine Tage in der Verlässlichkeit von Männern, die weder Furcht vor noch Hoffnung auf Veränderung kennen.

Die Wiener Staatsoper – Adolf Hitler

Doch gelegentlich wurde die Ruhe unterbrochen. Einer der Gründe für Hanischs vorübergehendes Verschwinden aus der Herberge war Geld gewesen: Hitler hatte eins seiner besseres Gemälde fertiggestellt, eines des Parlamentsgebäudes, das Hanisch wie gewöhnlich verkaufte, aber unerklärlicherweise vergaß, Hitler seinen Anteil zu geben, und ohne Spur verschwand. Am 4. August 1910 erkannte Siegfried Löffner, der von der Affäre wusste, Hanisch zufällig auf der Straße, und nachdem er versucht hatte, ihn zur Begleichung seiner Schulden zu überreden, kam es zu einem Streit. Schließlich traf die Polizei ein und Hanisch wurde festgenommen, weil seine Identität nicht festgestellt konnte. Löffner machte daraufhin folgende Aussage in der Polizeiwache Wieden, IV. Bezirk:

Siegfried Löffner, Agent, XX. Bezirk, Meldemannstraße 27: „Ich habe von einem Maler im Männerheim erfahren, dass der Verhaftete [Hanisch] Bilder für ihn verkauft und das Geld missbraucht hat. Den Namen des Malers kenne ich nicht, ich kenne ihn nur aus dem Männerheim, wo er und der Verhaftete immer nebeneinander saßen.” (38)

Einen Tag später, am 5. August 1910, wurde Hitler gebeten, auf der örtlichen Polizeiwache in Brigittenau zu erscheinen, um eine eigene Erklärung abzugeben. Inzwischen hatte die Polizei gefälschte Ausweispapiere in Hanischs Besitz gefunden, die seinen Namen als Fritz Walter angaben.

Adolf Hitler, Künstler, geb. 20.4.1889 in Braunau, wohnhaft in Linz, kath., Ledig, XX. Bezirk, Meldemannstraße 27, sagte danach bei der Polizei aus wie folgt: „Es ist nicht wahr, dass ich Hanisch geraten habe, sich als Walter Fritz zu registrieren, ich kannte, ihn immer nur als Fritz Walter. Da er mittellos war, gab ich ihm die Bilder, die ich malte, damit er sie verkaufen konnte. Ich gab ihm regelmäßig 50 % des Gewinns. In den letzten zwei Wochen ist Hanisch nicht mehr in die Herberge zurückgekehrt, nachdem er mein Gemälde ‘Parlament’ im Wert von ungefähr 50 Kronen und ein Aquarell im Wert von 9 Kronen verkauft hatte. Das einzige Dokument von ihm, das ich jemals sah, war sein Sparbuch, ausgestellt auf den Namen Fritz Walter. Ich kenne Hanisch aus dem Asyl in Meidling, wo ich ihn getroffen habe. Adolf Hitler.” (39)

Der Prozess fand am 11. August statt. Es war das erste Mal, dass Adolf Hitler vor einem Strafgericht als Zeuge anwesend war. In seinem Streit mit Hanisch ging es jedoch um Unterschlagung, nicht um eine falsche Identität. Dass er in der Sache mit den falschen Papieren gegen Hanisch aussagte, war seine Vergeltung, und sein Zeugnis spielte eine wesentliche Rolle in der Identitätssache, in der Hanisch zu sieben Tagen Haft verurteilt wurde. Aber in  dem Unterschlagungsfall musste Hanisch freigesprochen werden, vielleicht weil keine Spur des Geldes nachgewiesen werden konnte, was den Verdacht aufkommen ließ, dass Hitler in seiner Erklärung vom 5. August gelogen habe. Adolfs erster Auftritt bei Gericht schloss also potenziellen Meineid und Betrug ein, kein glückverheißender Beginn für seine künftige Beziehung zu Recht und Gesetz.

Bild der Karlskirche
Der Alte Hof

Mittlerweile verkaufte er alles, was er malte. Seine Themenwahl war immer klassisch konservativ gewesen, manche mögen sagen langweilig, und dieser Geschmack blieb ihm sein ganzes Leben lang erhalten. Es gibt nur wenige Beispiele, in denen seine kleinbürgerliche Weltanschauung so offensichtlich wird wie in seinem Kunstgeschmack, und obwohl er in einer Zeit lebte, die die Künste revolutionierte, schenkte er ihr keine Beachtung. Er verachtete oder kannte die sezessionistischen Maler Egon Schiele, Gustav Klimt oder Oskar Kokoschka nicht; er mochte die Kompositionen von Arnold Schönberg, Anton von Webern oder Alban Berg nicht; er las nie Rilke, Zweig oder Hofmannsthal. Sein ganzes Leben lang blieb er ein Gefangener der künstlerischen Wahrnehmung des neunzehnten Jahrhunderts. Sein Geschmack stimmte jedoch insofern mit dem überein, was die guten Wiener Bürger begehrten, und so folgten seine Bilder den ewigen Gesetzen von Nachfrage und Angebot.

Wir stellen hier einige Beispiele der oben erwähnten Meister dar – die uns zeigen, wie tief Hitler in der Ästhetik des vergangenen Jahrhunderts stehengeblieben war.

Egon Schiele – Doppelter Akt
Egon Schiele – Akt mit Handtuch
Gustav Klimt – Der Kuss
Gustav Klimt – Adele Bloch-Bauer I, bis 2017 das teuerste Gemälde der Welt
Oskar Kokoschka – Die Braut des Windes – Eine Allegorie auf seine unerwiderte Liebe zu Alma Mahler, der Witwe des Komponisten Gustav Mahler.
Oskar Kokoschka – Der Prometheus Tryptich – Apokalypse

Wie man vermuten würde, drehte sich derjenige Teil der Unterhaltung in den Lesesälen des Männerheims, der sich nicht um Frauen drehte, um Politik. Was das erstere Thema betrifft, könnte seine alte Flamme Stefanie noch immer seine Träume verfolgen, oder vielleicht die schwer fassbare Emilie (siehe auch nachfolgend), aber er hatte kein Interesse daran, sich in die Gespräche der einsamen Männern einzumischen, die sich über Frauen, die sie gekannt hatten und das Geld, das sie verschwendet haben, unterhielten – den Zutaten verblassender Erinnerungen verlassener Männer, die um unwiederbringliche Verluste trauern. Politik war eine ganz andere Sache. Da Brigittenau ein Arbeiterbezirk war, verfügten die Sozialdemokraten über eine deutliche Mehrheit und ihre Sympathisanten waren im Männerheim zahlreich vertreten. Was jedoch Hitlers politische Vorstellungen in Wien anbelangt, so ist das Wenige, über das unsere Quellen berichten, widersprüchlich und Hitlers Behauptungen in Mein Kampf wiederum nicht wirklich glaubwürdig. Er behauptete, “gelernt zu haben, weniger zu reden, aber mehr auf jene mit Meinungen und Einwänden zu hören, die grenzenlos primitiv waren” (41), was seine Meinung über die Sozialisten zu charakterisieren scheint. Es gibt jedoch keine Belege dafür, dass Hitler zu dieser Zeit wirklich an Politik interessiert war, und abgesehen von seinem gesamtdeutschen Glauben wissen wir nicht, was er wirklich von Juden und Sozialisten hielt.

Anfang 1913 ließ sich ein junger Mann aus Mähren, Karl Honisch, in der Jugendherberge nieder und lernte Hitler kennen. In den 1930er Jahren wurde er von der NSDAP aufgefordert, seine Erinnerungen festzuhalten. Das Ergebnis muss eindeutig “cum grano salis” bewertet werden, da er sich nicht erlauben konnte, etwas Negatives zu schreiben. Wie zu erwarten war, porträtiert er einen reichlich politisierenden Hitler, schweigt jedoch zu Einzelheiten.

„Aber wenn ihn schließlich die Meinungen, die er hörte, wirklich in die falsche Richtung rieben, musste er plötzlich widersprechen. Es kam dann häufig vor, dass er von seinem Stuhl aufsprang, Pinsel oder Bleistift über den Tisch warf und seine Ansichten auf eine extrem hitzige Weise erklärte, ohne sich vor starken Ausdrücken zu scheuen. Seine Augen waren in Flammen und immer wieder warf er seinen Kopf zurück, um seine Haare, die ihm immer wieder über die Stirn fielen, zurückzuwerfen.“ (42)

Honisch fühlte sich dann aufgefordert, auf die guten Seiten seines damaligen Kameraden hinzuweisen, der jetzt ja Regierungschef war und mit Sicherheit kein Mann, den man beleidigen wollte.

„[Hitler] … saß fast ausnahmslos Tag für Tag an seinem Platz und war nur dann für kurze Zeit abwesend, wenn er seine Arbeiten ablieferte; oder aufgrund seiner besonderen Persönlichkeit. Hitler war im Großen und Ganzen ein freundlicher und charmanter Mensch, der sich für das Schicksal eines jeden Gefährten interessierte.“ (43)

Und weiter:

„Niemand erlaubte sich Freiheiten mit Hitler. Aber Hitler war nicht stolz oder arrogant; im Gegenteil, er war gutherzig und hilfsbereit … und [wenn ein Kamerad einen kurzfristigen Kredit benötigte] habe ich ihn mehrmals gesehen, wie er selbst solche Sammlungen mit einem Hut in der Hand begann.“ (44)

Es war ungefähr am Ende 1912, dass mehrere Umstände Hitler veranlassten, über einen Wohnsitzwechsel nachzudenken. Ein Grund dafür war das neue österreichische Armeegesetz, das zwar die Verpflichtungen der neuen Rekruten auf zwei Jahre Friedensdienst und zehn Jahre in den Reserven reduzierte, aber den jährlichen Rekruteneinzug von 103.000 im Jahr 1912 auf 159.000 im Jahr 1914 erhöhte; und dies würde wahrscheinlich umgehend verstärkte Aktivitäten der lokalen Kreiswehrersatzämter auslösen. (45) Es ist klar, dass Hitler mit seinem Umzug nach Wien seinem eigenen Wehrdienstbüro in Linz seit 1909 ausgewichen war, wo er sich im Alter von 20 Jahren zum Wehrdienst hätte melden müssen. Es ist offensichtlich, dass er nicht die Absicht hatte, in den Streitkräften der verhassten Habsburgermonarchie zu dienen, und es scheint, dass er in dieser Zeit seine Pläne für eine spätere Auswanderung nach Deutschland im Allgemeinen und nach München im Besonderen reiften – über einen solchen Schritt hatte er schon 1910 mit Hanisch und Neumann gesprochen.

Ein weiterer Grund war, dass er Wien satthatte; er kannte die Stadt längst von innen heraus, wie das Gesicht einer langjährigen Liebhaberin, von der polierten Eleganz der Gebäude entlang der Ringstraße bis zu den Slums der Außenbezirke. Er sah das Damoklesschwert über dem Habsburgerreich hängen, das nur durch die zerbrechliche Gesundheit des Kaisers vom Zusammenbruch abgehalten wurde. Also warum nicht gleich zu seinem Heiligen Gral aufbrechen? Aber Hitler hatte einen hervorragenden Grund, noch zu warten; wie Ian Kershaw berichtet, war er anlässlich seines vierundzwanzigsten Geburtstages am 20. April 1913 endlich berechtigt, sein väterliches Erbe zu erhalten.

Am 16. Mai 1913 bestätigte das Bezirksgericht Linz, dass er den erheblichen Betrag, durch Zinsen von den ursprünglichen 652 Kronen auf 819 Kronen 98 Heller angewachsen, erhalten sollte, und dass dieser per Post an den „Künstler“ Adolf Hitler in die Meldemannstraße Wien geschickt werde. Mit diesem lang erwarteten und sehr willkommenen Preis in seinem Besitz musste er seine Abreise nach München nicht länger verzögern. (46)

Rudolf Häusler in Uniform

Im Februar 1913 ließ sich der neunzehnjährige Pharmazie-Lehrling Rudolf Häusler im Männerheim nieder und lernte Hitler im Lesesaal kennen. (47) Häusler interessierte sich für Musik und Kunst, hatte selber gemalt und Hitler nahm den Jungen unter seine Fittiche. Häusler hatte wie Adolf, unter einem tyrannischen Vater gelitten, der, wie Alois Hitler, Zollbeamter war. Der Vater hatte den Nachwuchs aus seinem Haus geworfen und Rudolf konnte seine Mutter, die er, wie Adolf, verehrte, und seine Geschwister nur in Abwesenheit des alten Mannes besuchen. Zu diesen diskreten Besuchen brachte er schließlich seinen älteren Freund Adolf mit, der offenbar einen guten Eindruck auf die Mutter hinterließ – wie Brigitte Hamann feststellte:

Die damals 50-jährige Ida Häusler, eine selbstbewusste, gebildete Frau aus guter Familie, war froh, dass ihr widerspenstiger Sohn einen gut erzogenen älteren Freund gefunden hatte. Sie vertraute Hitler und unterstützte die Freundschaft. Außerdem lud sie den offensichtlich mittellosen jungen Mann großzügig ein, mit ihnen zu essen. Häuslers siebzehnjährige Schwester Milli [Emilie] war schon bald in Adi verliebt, der die komfortable und saubere bürgerliche Atmosphäre mochte, die der seines früheren Hauses in Linz durchaus ähnelte. Vater Häusler blieb unsichtbar. (48)

Dass wir bis 1999 wenig über Rudolf Häusler wussten, bis Brigitte Hamann seine Tochter Marianne Koppler, geborene Häusler, ausfindig machte, sie interviewte und ihre Funde im Buch „Hitler’s Vienna“ veröffentlichte, scheint das sprichwörtliche Licht auf die Vollständigkeit und Zuverlässigkeit unserer Quellen zu diesen Anfangsjahren; umso mehr, als Häusler offenbar der engste Freund Adolfs seit August Kubizek war. [FN2] Es überrascht nicht, dass, als Hitler eine Emilie im Häusler-Haushalt traf, Rudolfs Schwester, dies zu Spekulationen führte, ob diese Emilie mit der Emilie identisch sein könnte, auf die sie sich Christa Schroeder, Hitlers Sekretärin in ihren Memoiren bezog. Als sie einmal meinte, Emilie sei ein hässlicher Name, sagte Hitler angeblich: “Sag das nicht. Emilie ist ein schöner Name; das war der Name meiner ersten Liebe!“ (53)

[FN2] Anton Joachimsthaler entdeckte die frühesten Erwähnungen von Rudolf Häusler in Artikeln, die Thomas Orr für das Münchner Magazin „Revue“, Bde. 37/1952 bis 8/1953, geschrieben hatte. (49) Orr hatte von einigen mutmaßlichen Zeugen in Hitlers altem Münchner Stadtteil erfahren und sie interviewt. Er erwähnte Häusler, stellte jedoch keine Verbindung zu Frau Koppler her. Aus bis heute nicht geklärten Gründen erwähnte Hitler Häusler nie, ebenso wenig wie die Popps, die Vermieter des Zimmers, in dem er fast neun Monate mit Hitler in München lebte. Dies hat Brigitte Hamann veranlasst, darüber zu spekulieren, ob die beiden Freunde und die Popps aus unbekannten Gründen einen Pakt des Schweigens abgeschlossen hatten. (50) Häusler hatte schon früh Kontakte zu den Nationalsozialisten: Joachimsthaler führt ihn seit Juni 1933 als Mitglied der NSDAP, (51) obwohl Frau Hamann eine eidesstattliche Erklärung des österreichischen Innenministeriums entdeckte, dass er erst von 1938 bis 1944 Mitglied war. (52) Klar ist aber, dass er ab Dezember 1938 für die DAF, die nationalsozialistische Einheitsgewerkschaft, arbeitete und von 1940 bis 1945 Leiter des Wiener NSDAP-Büros war. Er starb am 26. Juli 1973 in Wien.

Falls dies zutrifft, könnte dies darauf hindeuten, dass die Beziehung zu Emilie ausgeprägter war als seine frühere Verliebtheit in Stefanie; auf der anderen Seite, angesichts seiner Vorliebe für telepathische Liebesbeziehungen, könnte jede Emilie in Wien das Ziel seiner übernatürlichen Neigungen gewesen sein. Frau Koppler berichtete, Emilie sei das schüchternste, leiseste und einfühlsamste der Geschwister und “habe den Eindruck erweckt, ängstlich und schutzbedürftig zu sein”. Dass sie eine Schwärmerei für den älteren Freund ihres Bruders entwickelte, scheint durchaus möglich; Berichten zufolge bat sie ihn, etwas für ihr Sammelalbum zu zeichnen, und erhielt, wie Frau Koppler sagte, die die Zeichnung in ihrer Jugend sah, einen germanischen Krieger vor einer Eiche, signiert „A.H.“. (55) Einige Postkarten Hitlers wurden später im Nachlass der Familie gefunden.

Zwei Gründe sprechen jedoch dagegen, dass Emilie Hitlers physische Geliebte war. Erstens durfte das Mädchen das Haus nicht ohne Aufsicht verlassen, und es ist unwahrscheinlich, dass Hitler das von der Mutter entgegengebrachte Vertrauen in dieser Weise brechen würde. Zweitens scheint der Zeitrahmen der falsche zu sein, denn die Erinnerungen von Frau Wohlrab und der Kassiererin im Café Kubata (s.o) lassen die Beziehung zu der mysteriösen Freundin in die Zeit fallen, in der Hitler vom November 1908 bis August 1909 in der Felberstraße lebte, nicht in die des Frühjahrs 1913, als er die Häuslers traf.

Schließlich überredete Adolf Rudolf, ihn nach München zu begleiten, oder vielmehr, Rudolfs Mutter, so wie er Herrn Kubizek vor fünf Jahren überredet hatte, August nach Wien zu entlassen. Um den 20. Mai herum muss Hitler wohl das Erbe erhalten haben, und um diese Zeit stattete er der Familie Häusler einen Abschiedsbesuch ab. Am 24. Mai teilten die beiden der Wiener Polizei mit, dass sie das Männerheim verlassen hatten, ohne jedoch Weiterleitungsadressen anzugeben. Wahrscheinlich war dies Hitlers Idee, eine Vorsichtsmaßnahme, um der Aufmerksamkeit seines Linzer Wehrersatzamts zu entgehen. Aber weil er sich nicht nur im Herbst 1909 nicht gestellt hatte, sondern dies weder im Frühjahr 1910 noch 1911 oder 1912 nachholte, erließ die Linzer Polizei einen Haftbefehl wegen Umgehung seiner Wehrpflicht am 11. August 1913. (56)

Westbahnhof ca. 1895

Am nächsten Tag, dem Sonntag, dem 25. Mai 1913, begleiteten Karl Honisch und einige alte Hasen aus dem Männerheim die beiden Freunde zum Westbahnhof, wo nicht nur die Züge nach Linz, sondern auch die nach Bayern und damit nach München abfuhren. Wahrscheinlich kauften die beiden Freunde die billigsten Tickets, dritte Klasse, Wien Westbahnhof – München Hauptbahnhof, jeweils 5 Kronen 80 Heller. (57)

In einem ähnlichen Zug der Westbahn fuhren Hitler und Häusler 1913 nach München.

Adolf Hitler ließ nichts und niemanden in der Stadt zurück, von dem er glaubte, dass sie ihn verraten hatte, und machte sich auf den Weg nach Deutschland – dem gelobten Land.


Hamann, Brigitte, Hitler’s Vienna, 1st Ed. Oxford UP 1999, Tauris Parks 2010, ISBN 978−1−84885−277−8 / Nummer siehe Seite(n): (2) 134 (6) 152 (7) 153 (13) 156 (15) 158 – 61 (29) 164 (31) 164 (32) 350 (33) 173 – 74 (34) 350 (38) 275 (39) 172 (42) 381 (45) 393 (46) 397 (47) 395 (48) 396 (50) 192 (52) 192 (53) 364 (54) 364 (55) 192

Hitler, Adolf, Mein Kampf [US Edition], Houghton Mifflin 1942, (5) 28

Joachimsthaler, Anton, Hitler’s Weg begann in München 1913 – 1923, F.A. Herbig, München 2000, ISBN 3−7766−2155−9, (4) 46 (9) 268 (49) 330, n. 277 (51) 323 (56) 27

Jones, Sydney J., Hitler in Vienna 1907 – 1913, Cooper Square Press 2002, ISBN 0 – 8154-1191-X, (11) 141 (37) 275

Kershaw, Ian, The Hitler of History, Vintage Books 1998, ISBN 0−375−70113−3, (46) 68

Österreichische Bundesbahnen (57) https://www.oebb.at/

Payne, Robert, The Life and Death of Adolf Hitler, Praeger Publishers 1973, Lib. Con. 72 – 92891, (1) 79 – 80 (12) 82 – 3 (14) 83 (16) 85

Smith, Bradley F., Adolf Hitler – Family, Childhood and Youth, Hoover Institution Press 1979, ISBN 0−8179−1622−9, (35) 140 – 41

Toland, John, Adolf Hitler, Anchor Books 1992, ISBN 0−385−42053−6, (3) 39 (8) 40 (10) 41 – 2 (30) 46 (41) 49 (43) 50 (44) 50


(© John Vincent Palatine 2015/19)

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