Historia Occidentalis

Ein Magazin zur Zentraleuropäischen Geschichte

Schlagwort: Kaiserin Victoria

Wilhelm II und die Leichtigkeit des Seins

In vollem Ornat – Wilhelm II

Videos: I. Christina Croft und ihr Buch über Wilhelm II. Originalaufnahmen III. Truppenparaden IV: Kolorierte Fotos


In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts konnte sich das Deutsche Reich durchaus glücklich schätzen – die Industrialisierung schritt voran, erste Sozialgesetzgebung wurde initiiert und der Berliner Kongress von 1878 hatte die wesentlichen politischen Spannungen in Europa beigelegt. Deutsch war die Sprache der Wissenschaft weltweit und nach dem Sieg von 1870/71 war das Reich auch militärisch gesichert. Das große Problem lag in der Verfassungswirklichkeit, d.h. der Führung.

Die altmodischen, fast mittelalterlichen, auf die Person des Monarchen zentrierten Verfassungsbestimmungen, unter denen das Kaiserreich existierte, waren einem modernen Staat höchst abträglich.

Wilhelm im Alter von 21
Wilhelm im Alter von 21

Die Regierung der vor kurzem vereinten Nation hinke weit hinter der Modernisierung ihrer Wirtschaft her, schrieb Friedrich Stampfer, Chefredakteur der (noch heute existierenden) sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts“. Das wilhelminische Deutschland wäre, seiner Meinung nach, das am meisten erfolgreich industrialisierte und am effektivsten verwaltete Land Europas war, aber leider auch die am schlechtesten regierte Nation in Vorkriegseuropa. Max Weber hatte das Gefühl, von einer Horde Irrer regiert zu werden. Der Fisch stank vom Kopf her und der Kopf war natürlich niemand anderes als der Kaiser selbst, Wilhelm II, König in Preußen und Deutscher Kaiser.

Er wurde am 27. Januar 1859 als erstes Kind des Kronprinzen und zukünftigen Kaisers Friedrich III und der Prinzessin Royal Victoria, der ältesten Tochter von Königin Victoria von England geboren. Zar Nikolaus II. von Russland und König Georg V. von England, zwei weitere Enkelkinder von Königin Victoria, waren seine Cousins, und er war blutsmäßig mit fast jedem anderen regierenden Haus des Kontinents verwandt.

Leider litt er an einem Geburtsfehler, der seine aufkeimende Persönlichkeit stark beeinflusste. John C.G. Röhl, der Wilhelm in seinem Bestseller “The Kaiser and His Court“ [Cambridge University Press 1996, ISBN 0-521-56504-9] untersucht, stellt uns Mutter und Kind vor:

Es ist bekannt, dass Wilhelm bei der Geburt einen organischen Schaden erlitten hatte, obwohl das Ausmaß des Schadens noch immer nicht voll geklärt ist. Abgesehen von seinem nutzlosen linken Arm, der letztendlich etwa fünfzehn Zentimeter zu kurz war, litt er auch unter Wucherungen und Entzündungen im rechten Innenohr. Aufgrund dieses Zustands wurde er 1896 einer schweren Operation unterzogen, die ihn auf dem rechten Ohr fast taub machte.

Die Möglichkeit, dass er zum Zeitpunkt seiner Geburt auch einen Hirnschaden erlitt, kann nicht ausgeschlossen werden. Im Jahr 1859, in dem Wilhelm geboren wurde, wurden in Deutschland fast 98 Prozent der Babys in der Steiß- bzw. Beckenendlage tot geboren. Die Gefahr war am größten bei jungen Müttern, die ihr erstes Kind bekamen, vor allem durch die Gefahr des Erstickens, falls der Kopf des Babys die neben ihm verlaufende Nabelschnur zudrückte. Wenn die Luftzufuhr länger als ungefähr acht Minuten unterbrochen war, würde das Baby sicher sterben.

Und in der Tat war das königliche Baby, mit dem wir uns befassen, “in hohem Maße scheinbar tot”, wie es der Bericht des Arztes ausdrückte, als Wilhelm am Nachmittag des 27. Januar 1859 in die Welt kam, mehr als zehn Stunden nachdem die Wasser gebrochen waren.

Welcher Schaden auch immer in diesen Stunden an Wilhelms Gehirn entstand, es ist sicher, dass sein linker Arm nicht lokal gelähmt war, wie die Ärzte es annahmen, sondern eher als Folge einer Schädigung des Plexus brachialis, also des Nervenstrangs, der die Innervation der Schulter-, Arm- und Handmuskulatur gewährleistete – diese wurden wohl während der Endphase der Geburt aus der Halswirbelsäule gerissen.

Die Geburt war für Vicky, die Prinzessin Royal, eine schreckliche Erfahrung. Trotz der Tatsache, dass sie vorher stundenlang Chloroform eingeatmet hatte, war die Geburt extrem schmerzhaft. Sie hatte nur ein Jahr zuvor geheiratet, im Alter von siebzehn Jahren. Während der langen, komplizierten Geburt ihres ersten Kindes musste “der arme Dr. Martin” unter ihrem langen Flanellrock arbeiten, sodass der königliche Anstand gewahrt bliebe.

Vickys Reaktion auf die Geburt eines verkrüppelten Jungen war, wie es scheint, ambivalent. Wäre sie ein Junge gewesen, das erste Kind von Königin Victoria, hätte sie sich in ihrem geliebten England aufhalten können und wäre zu gegebener Zeit des Landes Souverän geworden. Nach dem Stand der Dinge stand ihr jetzt jedoch nur ein Sohn zur Verfügung um durch ihn das zu tun, was sie konnte, um das Land umzubauen, in das sie im Interesse ihres Landes geheiratet hatte

Wilhelm und seine Mutter
Wilhelm und seine Mutter

Aber dieser Sohn hatte einen verkrüppelten Arm, er war nicht besonders talentiert und demonstrierte schon sehr früh ein stürmisches, hyperaktives Temperament, das durchaus Anlass zur Sorge gab. Sigmund Freud selbst diagnostizierte Vickys Gefühl einer narzisstischen Verletzung als eine der Hauptursachen Wilhelms späterer psychologischer Störungen. 1932 schrieb er:

“Es ist üblich für Mütter, denen das Schicksal ein krankes oder anderweitig benachteiligtes Kind gegeben hat, zu versuchen es für das unfaire Handicap durch ein Übermaß an Liebe zu entschädigen. Aber in dem Augenblick vor uns benahm sich die stolze Mutter anders; sie entzog dem Kind ihre Liebe aufgrund seiner Gebrechlichkeit. Als er (Wilhelm) dann zu einem Mann von großer Macht herangewachsen war, zeigte sich in seinen Handlungen eindeutig, dass er seiner Mutter nie vergeben hatte.”

Sobald Ärzte mit “Tierbädern” und Elektroschocks auf den jungen Wilhelm losgelassen worden waren, mit Metallapparaturen und Lederriemen zum Dehnen von Arm und Nacken, sobald seine Erziehung in die Hände des nie lächelnden, nie lobenden calvinistischen Hinzpeter gelegt worden war, lag die letzte, magere Hoffnung für seine emotionale und psychische Stabilität in den Händen seiner Mutter. Aber sie war unfähig, die Verbindung bedingungsloser Liebe und Vertrauen aufzubauen, die er so dringend brauchte.

Kein Wunder, dass er sich genau zu den Elementen hingezogen fühlte, die seine Mutter gewohnheitsmäßig abwerteten – zu Bismarck, die “netten jungen Männer” der Potsdamer Garderegimenter, an die Kamarilla des “Liebenberg-Kreises”; kein Wunder, dass er glaubte, nicht genügend Hass auf England aufbauen zu können. [Schloss Liebenberg war im Besitz von Philipp zu Eulenburg]

Als Wilhelm im Alter von 29 Jahren auf den Thron kam, konnte er den ganzen Apparat der Armee benutzen, der Marine und des Staats, die ganze Arena der Weltpolitik, um seinen Wert zu beweisen. (Röhl, S. 25-26)

Die Organisationsform der Bundesregierung konzentrierte sich zu einem beinahe mittelalterlichen Grad auf die Person des Monarchen. Der Kaiser hatte das Recht auf Ernennung und Entlassung aller Bundesbeamten, vom Kanzler bis zum niedrigsten Schreiber. Obwohl die Verfassung den Kanzler “verantwortlich” gegenüber dem Reichstag machte, konnte das Parlament ihn nicht sanktionieren, und so blieb diese Verantwortung eine Formalität, bloßer Rauch ohne Feuer. Der einzig wahre politische Einfluss des Parlament war es, von seinem Recht Gebrauch machen, den Haushalt anzunehmen oder abzulehnen, aber da es dies nur in vollem Umfang tun konnte, d. h. alles oder nichts, und eine solche Ablehnung durch eine kaiserliche Notstandsverordnung leicht umgangen werden konnte, war es für den Kanzler leicht, Haushalte nach der Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode durchzubringen, deren Ablehnung sich das Parlament nicht wirklich leisten konnte.

Veränderungen in der Person des Kanzlers konnten sich somit nur aus Situationen ergeben, in denen die Mitarbeit des Parlaments notwendig war, sagen wir, z. B. bei den Militärbudgets. Die Verfassung beließ der Krone ausdrücklich die Kontrolle über Außenpolitik und die Frage von Krieg und Frieden, und die Bundesregierung war dem Monarchen verantwortlich, nicht dem Parlament oder den Menschen. (1) Dies war äußerst bedeutungsvoll und folgenreich im militärischen Bereich, wie Fritz Fischer ausführt:

Ein weiterer Faktor, der die Position der Krone stärkte und den Kanzler und damit die Regierung in ihrer Entscheidungsbefugnis einschränkte, war, dass die preußische Armee (in Kriegszeiten auch die Armeen des anderen Bundesstaaten) und die Marine der direkten Autorität des Monarchen unterstanden. Er übte diese Befugnisse durch seine Militär- und Marinekabinette (für Personalfragen) und durch die General- und Marinestäbe aus – Gremien in denen der Kanzler keine Stimme hatte, und es gab auch keine Koordinierungsmaschinerie (die Person des Monarchen ausgenommen), wodurch den politischen Aspekten militärischer Entscheidungen das richtige Gewicht verliehen werden konnte. (2)

Bei Wilhelm kamen nun diese Kehrseiten von Bismarcks monarchischer Verfassung voll zum Durchbruch: niemand konnte die imperiale Quasselstrippe einbremsen.

Die Eröffnung des deutschen Reichstages im Weißen Saal des Berliner Schlosses am 25. Juni 1888 (Ölgemälde von Anton von Werner, 1893
Die Eröffnung des deutschen Reichstages im Weißen Saal des Berliner Schlosses am 25. Juni 1888 (Ölgemälde von Anton von Werner, 1893

Er reiste durch die Welt und informierte alle, die ihn fragten, und alle, die dies nicht taten, über seine persönliche Macht und die seines Landes. Manchmal schien es, dass Deutschland sich zu einer hermaphroditischen Nation aus einer erstklassigen Industrie, einer relativ freien Presse und einem impotenten Parlament entwickelt habe; eine Mischung aus Don Juan und mittelalterlichem Räuber, wie aus „The Prisoner of Zenda“; es war so, merkte John Röhl an, als ob die „Entwicklung des Landes zu einem modernen einheitlichen Rechtsstaat zur Halbzeit stehengeblieben war“. (Röhl, S. 121 ) Die Wahrnehmung Deutschlands in der Welt hing sehr von den Meinungen ab, die Wilhelm ungebeten verkündete, und das Auswärtige Amt und der diplomatische Dienst konnten die ungünstigen Eindrücke, die der Kaiser hinterließ, wohin er auch reiste und mit wem er auch sprach, häufig kaum korrigieren.

Zusätzlich zu seiner kapriziösen Politik erregten seine privaten Plaisirs Verdacht und erregten jede Menge öffentliche Aufmerksamkeit – zum Beispiel in den saftigen Skandalen der Harden-Eulenburg-Affäre, auch “Liebenberg-Prozesse” genannt:

Schon vor seinem Amtsantritt hatte Wilhelm angekündigt, “gegen Laster, Glücksspiele, Wetten usw. ankämpfen zu wollen “, gegen “alle diese Taten unserer sogenannten ‚guten Gesellschaft.‘” Dieser Kampf war jedoch nicht besonders erfolgreich. Bald nachdem er auf den Thron gekommen war, begannen hunderte obszöner anonymer Briefe am Hof zu kursieren, und wiewohl dies jahrelang anhielt, wurde der Autor nie entdeckt – obwohl der Täter ein Mitglied des engsten Kreises um Wilhelm und die Kaiserin gewesen sein muss (oder vielleicht gerade deshalb?)

Ein Jahrzehnt später erlebte der wilhelminische Hof seinen größten Skandal, als Philipp Eulenburg (Wilhelms bester Freund) und sein “Liebenberg-Kreis” wegen ihrer Homosexualität (die technisch gesehen eine Straftat war) öffentlich angegriffen und schließlich des Hofes verwiesen wurden. Dutzende von Hofbediensteten und Verwaltungsbeamten erwiesen sich als in den Skandal verwickelt. Peinliche Fragen wurden gestellt – sogar über den Kaiser.

Das bereits ineffiziente deutsche Regierungssystem erlitt einen sofortigen Zusammenbruch, komplettes „Chaos an der Spitze”. Nationalistische Kreise neigten zu der Ansicht, dass sie entweder auf das Äußerste – Krieg – drängen müssten oder auf die Abdankung Wilhelms.

“Um uns von Scham und Spott zu befreien”, schrieb Maximilian Harden (Zeitungsredakteur und die treibende Kraft hinter der Staatsanwaltschaft) im November 1908, “müssten wir bald in den Krieg ziehen oder uns der traurigen Notwendigkeit stellen, einen Wechsel des kaiserlichen Personals auf eigene Rechnung vorzunehmen, auch wenn stärkster persönlicher Druck ausgeübt werden müsste.” Wie Maurice Baumont in seiner Studie der Eulenberg-Affäre zu Recht bemerkt hat, “la réalité pathologique des scandales Eulenburg doit prendre parmi les causes complexes de la guerre mondiale.” [‘… die pathologische Realität der Skandale bedeutet, dass man Eulenburg zu den komplexen Ursachen des Weltkriegs dazuzählen muss’.] (Röhl, S. 100)

Wilhelm II and King Edward VII
Wilhelm II und King Edward VII

Sicherlich besaßen viele andere Länder Monarchen in ihrer Geschichte, die Themen für Satire oder scherzhafte Witze geliefert hatten, aber diejenigen deutschen Schichten, die am meisten von Wilhelms Regierung profitiert hatten, preußische Junker und die hohen Zivil- und Militärbediensteten, allesamt adelig, zeigten nicht nur erstaunliche Fähigkeiten zu vergeben und zu vergessen, sondern übertrafen sich selbst, den mutmaßlichen Entwürfen des Kaisers in puncto Weltpolitik zu applaudieren. John Röhl erzählt die Geschichte eines preußischen Offiziers in Brasilien, der angesichts der wichtigen Nachricht des Kriegsausbruchs einem Freund schrieb, dass das deutsche Volk endlich sehen könne, dass der Kaiser in seiner Persönlichkeit “mehr als Bismarck und Moltke zusammen und ein höheres Schicksal als Napoleon I” verkörpere; dass Wilhelm in der Tat der “Gestalter der Welt” war. (Röhl, S. 9) Er schrieb:

Wer ist dieser Kaiser, dessen Friedenszeit so voller Ärger und ermüdender Kompromisse war, dessen Temperament so wild aufflammte, nur um wieder zu sterben? … Wer ist dieser Kaiser, der jetzt plötzlich alle Vorsicht in dem Wind wirft, der sein Visier aufreißt, um seinen titanischen Kopf zu entblößen und die Welt zu erobern?… Ich habe diesen Kaiser falsch verstanden; ich habe ihn für schwächer gehalten. Er ist ein Jupiter und steht auf dem Olymp seiner eisernen Kräfte, Blitze in seiner Hand. In diesem Moment ist er Gott und Herr der Welt.” (Röhl, S.9)

Lobpreisungen dieser Art standen in scharfem Kontrast zur Realität der Außenpolitik des Kaisers in der Zeit nach Bismarck, in der Krieg zu einer Möglichkeit wurde, die nicht ausgeschlossen werden konnte. 1890 feuerte Wilhelm den alten Kanzler und Bismarcks System der Verträge brach schnell auseinander. Luigi Albertini kommentiert die Bedeutung dieser Auseinandersetzung zwischen dem alten Praktiker und dem unerfahrenen Monarchen:

Die Position von Bismarck wurde kritisch, als am 9. März 1888 der neunzigjährige Kaiser Wilhelm I., dessen Unterstützung er immer genossen hatte, starb und, drei Monate nach dem verfrühten Tod Wilhelms Sohn Friedrich III., sein Enkel Wilhelm II. den Thron bestieg. Der Letztere hatte zuerst pro-russische und anti-britische Einstellungen gezeigt; aber unter dem Einfluss von General Waldersee war er für die Ansicht des Generalstabs gewonnen worden, dass Deutschland solide zu Österreich stehen und einen Präventivkrieg gegen Russland führen müsse.

Der Kanzler wollte ihn davon überzeugen, dass es im Gegenteil besser wäre, einen Vorwand für einen Krieg mit Frankreich zu suchen – in dem Russland neutral bleiben würde –  würde Deutschland dagegen Krieg gegen Russland führen, würde Frankreich die Gelegenheit benutzen, Deutschland anzugreifen. Er schien beinahe erfolgreich gewesen zu sein, als Wilhelm II nur wenige Tage nach seinem Thronantritt der Welt seine Absicht ankündigte, den Zaren vor jedem  anderen Souverän zu besuchen. Danach, auf Ersuchen von Giers [dem russischen Außenminister] und mit der Zustimmung des Zaren, stimmte er der Erneuerung des Rückversicherungsvertrags* mit Russland zu, die sonst im Juni 1880 enden würde.

Reinsurance Treaty [Englisch, PDF]

Aber als sich der russische Botschafter Shuvalov mit den erforderlichen Vollmachten zur Erneuerung des Vertrages für weitere sechs Jahre in Berlin vorstellte, war Bismarck schon zurückgetreten.

Der Kaiser hatte von Baron Holstein, einem hohen Beamten der Wilhelmstraße [des Außenministeriums] Berichte über angebliche feindliche Vorbereitungen Russlands erhalten, von denen er dachte, Bismarck hatte sie von ihm zurückgehalten. Er befahl dem Kanzler, Österreich zu warnen, und hatte Kopien dieser Berichte nach Wien geschickt – Bismarcks Erklärung, dass diese Berichte unerheblich waren, ignorierend. Dies überzeugte den Kanzler, dass ihre Differenzen unüberwindlich wären und am 18. März 1890 reichte er seinen Rücktritt ein.

Dropping the Pilot - Sir John Tenniel, 29.03.1890, Punch Magazine
Dropping the Pilot (Der Lotse geht von Bord) – Sir John Tenniel, 29.03.1890, Punch Magazine

Wilhelm II. akzeptierte den Rücktritt, worauf Shuvalov Zweifel äußerte, ob der Zar bereit sei, den Geheimvertrag mit einem anderen Kanzler zu erneuern. Beunruhigt schickte Wilhelm II. ihm noch des Nachts eine Nachricht und schrieb, er wäre gezwungen gewesen, Bismarck aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand zu versetzen, aber dass sich in der deutschen Außenpolitik nichts ändern würde, und dass er bereit wäre, den Vertrag zu erneuern. Aber Holstein manövrierte die Abläufe so geschickt, dass der neue Bundeskanzler Caprivi und der deutsche Botschafter in St. Petersburg den Kaiser zu einer Änderung seiner Meinung überredeten – mit der Behauptung, dass der Rückversicherungsvertrag mit Russland mit dem österreichischen Bündnis unvereinbar sei und dass, wenn St. Petersburg dies Wien verriete, der Dreibund gleichfalls erledigt und England sich von Deutschland entfremden würde.

Solchen Ratschlägen gegenüber gab Wilhelm seinen Widerstand schnell auf und der deutsche Botschafter wurde angewiesen, St. Petersburg darüber zu  informieren, dass der Rückversicherungsvertrag nicht verlängert werden würde.

  • Der Rückversicherungsvertrag war ein heikles Stück Bismarckscher Diplomatie. Angesichts der Notwendigkeit, Russland um jeden Preis von Frankreich fernzuhalten, erkannte Bismarck, dass der Duale Bündnisvertrag von 1879 zwischen Deutschland und Österreich zu einem Szenario führen könnte, in dem Deutschland verpflichtet wäre, Österreich im Falle österreichisch-russischer Spannungen im Balkan zu unterstützen – die praktisch jederzeit auftreten könnten. Dies könnte zu einem Bruch in den russisch-deutschen Beziehungen führen und Russland wiederum in Richtung Frankreich lotsen, was unbedingt vermieden werden musste. Also musste eine Lösung gefunden werden, die sowohl Russland als auch Deutschland es ermöglichte, das Gesicht zu wahren, wenn Österreich auf dem Balkan Mist baute, aber weder Deutschland noch Russland es zum Krieg kommen lassen wollten. Was auch immer Österreichs Pläne in dieser Region beinhalteten, es war klar, dass sie es sich niemals leisten konnte, Russland ohne deutsche Hilfe anzugreifen. Bismarck und Shuvalov entwickelten daher “eine Formel, die beide Parteien [Deutschland und Russland] zu wohlwollender Neutralität in einem Krieg eines von ihnen gegen eine dritte Macht verpflichten würden, außer in dem Fall, dass eine der Vertragsparteien direkt Österreich oder Frankreich angriffe.” (Albertini, I, S.58) Das heißt, solange weder Deutschland noch Russland Österreich oder Frankreich einseitig angriffen, würde das gegenseitige Wohlwollen weiterhin bestehen, und da Österreich es sich nicht leisten konnte, Russland alleine anzugreifen, könne kein großer Krieg wegen eines slawischen oder türkischen Problems auf dem Balkan entstehen.

Bismarcks Politik orientierte sich an dem Grundsatz, Machtkoalitionen, die zu einem generellen europäischen Krieg führen könnten, unmöglich zu machen. Diese völlig rationale Politik, die den besonderen Anforderungen und individuellen Empfindlichkeiten von Russland und England entsprach, wurde durch eine Abfolge von vier Kanzlern, die nichts von Außenpolitik verstanden und sich im Allgemeinen nicht viel darum kümmerten, zu einer Katastrophe, die durch die launische Persönlichkeit des Monarchen nur verschlimmert wurde.

 Was genau waren die Einzelheiten von Wilhelms Charakter, die zu den außenpolitischen Wahnsinnstaten führten, die Europa ab 1890 so sehr destabilisierten? In seinem Essay “Kaiser Wilhelm II: a suitable case for treatment?“ [Kaiser Wilhelm II: Ein geeigneter Fall für eine Behandlung?] stellt John Röhl seine Beobachtungen vor:

Jede Skizze seines Charakters muss mit der Tatsache beginnen, dass er nie gereift ist. Bis zum Ende seiner dreißigjährigen Regierungszeit blieb er der “junge” Kaiser mit dem “kindlichen Genie”. “Er ist ein Kind und wird immer eins bleiben” seufzte im Dezember 1908 ein weiser Gerichtsbeamter.

Wilhelm schien nicht in der Lage zu sein, aus Erfahrung zu lernen. Philip Eulenburg, der ihn besser kannte als jeder andere, schrieb in einem Brief an Bülow um die Jahrhundertwende, dass Wilhelm, in den elf Jahren seit seiner Thronbesteigung “in Bezug auf sein äußeres Wesen sehr viel ruhiger geworden ist. … Spirituell, dagegen, hat sich jedoch nicht die geringste Entwicklung gezeigt. In seiner explosiven Art ist er unverändert. In der Tat, sogar härter und plötzlicher, da sein Selbstwertgefühl mit der Erfahrung gewachsen ist – was für ihn aber keine Erfahrung ist. Denn seine ‚Individualität‘ ist stärker als der Effekt von Erfahrung.”

Mehr als dreißig Jahre später, als sowohl Eulenburg als auch Bülow tot und der Kaiser zweiundsiebzig Jahre alt und schon lange in Verbannung, schrieb sein Adjutant Sigurd von Ilsemann in sein Tagebuch in Doorn:

“Ich habe den zweiten Band der Bülow-Memoiren jetzt fast fertig gelesen und bin immer wieder begeistert darüber, wie wenig sich der Kaiser sich seit dieser Zeit verändert hat. Fast alles was damals passierte, passiert immer noch, nur mit dem einzigen Unterschied, dass seine Handlungen, die damals von schwerwiegender Bedeutung waren und praktische Konsequenzen hatten, richten sie jetzt keinen Schaden mehr an. Auch die vielen guten Eigenschaften dieser seltsamen, eigentümlichen Person, des Kaisers so sehr komplizierter Charakter, werden von Bülow immer wieder betont.” (Röhl, S. 11-12)

Wir werden – fast unheimlich – viele andere Merkmale Wilhelms wiederentdecken: ununterbrochenes Reisen, die Unfähigkeit zuzuhören, eine Vorliebe für Monologe über halb verstandene Themen und das ständige Bedürfnis nach Gesellschaft und Unterhaltung – ganz wie in dem Charakter und den Gewohnheiten des jungen österreichischen Malers, der in gewissem Sinn sein Erbe wurde. Sie drücken eine Mischung aus Unreife, Egozentrismus und Größenwahn aus –  verständlich, vielleicht, in einem jungen Mann, aber gefährlich für den Anführer der Welt zweitgrößten Industriemacht, der dazu noch ein mittelalterliches Verständnis von den Rechten und Pflichten eines Monarchen hatte.

Kaiser Wilhelm und das Europäische Gleichgewicht
Kaiser Wilhelm und das Europäische Gleichgewicht

Eine andere von Wilhelms Charaktereigenschaften, die notorische Überschätzung seiner eigenen Fähigkeiten, von Zeitgenossen als “Caesaromania” oder „folie d’empereur“ verspottet, hemmte in ähnlicher Weise seine Reaktion auf konstruktive Kritik.

Wie konnte der Monarch aus Erfahrung lernen, wenn er seine Minister verachtete, sie selten empfing und noch weniger zuhörte, was sie zu sagen hatten; wenn er überzeugt war, dass alle seine Diplomaten so “ihre Hosen voll” hätten, dass “die gesamte Wilhelmstraße zum Himmel stank”; wenn er sogar den Kriegsminister und den Chef des Militärkabinetts mit den Worten “Ihr alte Esel” anredete; und eine Gruppe von Admiralen beschied: “Alle von euch wissen nichts; Ich alleine weiß etwas, ich alleine entscheide.”

Schon bevor er zum Thron kam, hatte er gewarnt: “Hütet Euch vor der Zeit, in der ich die Befehle gebe.” Schon vorher, nach Bismarcks Entlassung, drohte er, jeden Widerstand gegen seinen Willen zu zerschlagen. Er alleine sei der Meister im Reich, sagte er in einer Rede im Mai 1891, und er würde keinen anderen tolerieren.

Den Prinzen von Wales informierte er um die Jahrhundertwende: “Ich bin der einzige Herr deutscher Politik und mein Land muss mir überallhin folgen.“ Zehn Jahre später erklärte er einer jungen Engländerin in einem Brief: “Meine Ideen und Gefühle den Geboten der Leute anzupassen, ist eine Sache, die in der preußischen Geschichte oder den Traditionen meines Hauses völlig unbekannt ist! Was der Deutsche Kaiser und König von Preußen für richtig und am besten hält, das tut er.”

Im September 1912 ernannte er Prinz Lichnowsky gegen den Rat des Kanzlers Bethmann Hollweg und des Auswärtigen Amtes zum Botschafter in London – mit den Worten: “Ich werde nur einen Botschafter nach London schicken der Mein Vertrauen hat, Meinem Willen gehorcht und Meine Befehle ausführt.” Und während des Ersten Weltkrieges rief er aus: “Was die Öffentlichkeit denkt, ist für mich völlig unerheblich.” [Hervorhebungen hinzugefügt] (Röhl, S. 12-13)

Der “eiserne Wille”, der Herr der Nation oder vielleicht der Welt zu sein, wurde durch seine Fähigkeit gesteigert, die Realität durch die Brille seiner Einbildung zu betrachten. Noch in seinen siebzigern – schon längst in die Niederlande geflüchtet – gelang ihm eine höchst überraschende Schlussfolgerung bezüglich der rassischen Identität seiner Feinde:

Endlich erkenne ich, was die Zukunft für das deutsche Volk bedeutet, was wir noch erreichen müssen. Wir werden die Führer des Orients gegen das Abendland sein! Ich werde mein Gemälde ‘Völker Europas’ ändern müssen. Wir gehören auf die andere Seite! Sobald wir den Deutschen bewiesen haben werden, dass die Franzosen und Engländer gar keine Weißen sind, sondern Schwarze, dann werden sie sich auf diesen Pöbel stürzen!” (Röhl, S. 13)

So hatte Wilhelm also die erstaunliche Entdeckung gemacht, dass Franzosen und Engländer Neger sind. Ein weiterer Grund für den anhaltenden Verfall der Menschheit, so der pensionierte Kaiser, sei mangelnder Respekt vor den Behörden, besonders in Bezug auf sich selbst. Die Nachricht von der Boxer-Rebellion in China fasste er als persönliche Beleidigung auf und befahl Peking “dem Boden gleichzumachen”. In seiner Angst vor der bevorstehenden sozialistischen Revolution lebte er in Fantasien, wie Hunderte von Demonstranten in den Berliner Straßen “niedergeschossen” würden und empfahl gelegentlich als geeignete Behandlung für Kriegsgefangene, sie zu Tode verhungern zu lassen.

Nicht nur sehnte er sich danach, noch während seines eigenen Lebens Rache für Beleidigungen seiner Person zu nehmen; in dem Verlangen, die Geschichte selbst buchstäblich auszulöschen, träumte er davon die zweite – vielleicht sogar die erste – Französische Revolution rückgängig zu machen – er dürstete nach “Rache für 1848 – Rache!!!” (Röhl, S. 14)

 Auch sein Sinn für Humor war eigenartig.

Während sein linker Arm aufgrund der Geburtsschäden schwach war, war seine rechte Hand im Vergleich dazu stark, und er fand es amüsant, wenn er seine Ringe nach innen drehte und dann die Hände besuchender Würdenträger so stark zusammendrückte, dass Tränen in ihre Augen traten. König Ferdinand von Bulgarien verließ einst Berlin in „glühend heißem Hass“, nachdem der Kaiser ihn in der Öffentlichkeit hart auf den Hintern geklatscht hatte. Der Großherzog Wladimir von Russland [Bruder von Zar Nicholas II.] wurde von Wilhelm mit einem Feldmarschallstab auf die Rückseite geschlagen. (Röhl, S. 15)

Seine Freunde waren sich des Humors seiner Majestät bewusst und übten ihre kreative Fantasie. Anlässlich einer Jagdexpedition in Liebenberg schlug Generalintendant Georg von Hülsen 1892 dem Grafen Görtz [“der auf der dicken Seite war”] (Röhl, S.16) vor:

Du musst von mir als Zirkuspudel vorgeführt werden! – Das wird ein Hit wie kein anderer. Denk nur dran: hinten rasiert (mit Strumpfhose), vorne ein langer Pony aus schwarzer oder weißer Wolle, hinten, unter einem echten Pudelschwanz,  eine markierte rektale Öffnung und, wenn Du bettelst, vorne dran ein Feigenblatt. Denke nur daran, wie wunderbar es wäre, wenn Du bellst, zu Musik heulst, eine Pistole abschießt oder andere Tricks machst. Das wäre einfach großartig!! “[Hervorhebungen im Original] (Röhl, S. 16)

Höflinge und Bürokraten stellten bald fest, dass solch exquisite Unterhaltung anzubieten ein bewährter Weg war, um sich die Gnade des Monarchen zu sichern, aber auf der anderen Seite trugen sie zur Verbreitung von Gerüchten bei. Was können wir nun über Wilhelms Liebesleben sagen? Wie es schon Edward Gibbon in Bezug auf Karl den Großen feststellte, hatten die beiden Kaiser gemeinsam, dass Keuschheit nicht ihre augenfälligste Tugend war. Offiziell konnte Wilhelm die Hofreporter mit den Ergebnissen seiner ehelichen Treue überzeugen, in deren Förderung die Kaiserin in regelmäßigen Abständen Söhne zur Welt brachte, insgesamt sechs Stück. Doch Wilhelm hatte auch eine gewisse Neigung, indiskrete Briefe zu verfassen – einige davon an eine wohlbekannte Wiener Madame, und wegen seiner Bereitschaft, die Angebote in eigener Person zu prüfen, wurde die weitere Aufrechterhaltung seiner öffentlichen Tugend der Sorge seiner Privatsekretäre anvertraut, die die Diskretion der Damen kauften, vertraulich für die königliche Unterhaltung sorgten oder vielleicht auch Abtreibungen arrangierten.

Wilhelm II mit seiner Frau Auguste Victoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augstenburg, und seinen sieben Kindern
Wilhelm II mit seiner Frau Auguste Victoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augstenburg und seinen sieben Kindern

Es scheint jedoch, dass solche außerehelichen Aktivitäten sozusagen rein biologischer Natur waren; Sympathie, Komfort und Entspannung fand der Monarch bei seinen männlichen Freunden, obwohl er dem Anschein nach an intimeren Ausdrucksformen dieser Freundschaften nicht teilnahm.

“In Berlin fühle ich mich nie glücklich, wirklich glücklich”, schrieb er in seinem eigenwilligen Englisch. “Nur Potsdam [die Station seines Garde-Regiments], das ist mein “El Dorado” … wo man sich frei fühlt, mit der schönen Natur um sich herum,  und so vielen Soldaten wie man will, denn ich liebe mein Regiment sehr, lauter freundliche junge Männer.” In seinem Regiment, wie er sich Eulenburg gegenüber anvertraute, fand er seine Familie, seine Freunde, seine Interessen – alles was er zuvor vermisst hatte. Vorbei waren die “schrecklichen Jahre, in denen niemand meine Individualität verstand”, wie er schrieb.

Die umfangreiche politische Korrespondenz von Philipp Eulenburg lässt keinen Zweifel daran, dass er (Eulenburg) und die anderen Mitglieder des einflussreichen “Liebenberg – Kreises”, die in den 1890er – Jahren im Zentrum der politische Bühne im Kaiserreich Deutschland standen, in der Tat homosexuell waren, wie ihr Zerstörer Maximilian Harden es glaubte.

Harden, Eulenburg und Kuno v. Moltke, Eulenburgs Liebhaber

Dies wirft natürlich die Frage auf, wo wir den Kaiser in einem imaginären “heterosexuell-homosexuellen Kontinuum” einordnen. Falls er jemals etwas hatte, das einer homosexuellen Erfahrung gleichkam,  dann in den 1880er Jahren, in derselben Zeit also wie seine zahlreichen außerehelichen Affären mit anderen Frauen. Nach einem Interview mit Jakob Ernst, dem Starnberger Fischer, dessen Aussage 1908 Eulenburgs Fall irreparabel beschädigt hatte, war Maximilian Harden überzeugt, dass er über Beweise verfüge, die, wenn sie dem Kaiser vorgelegt worden wären, genügen würden, um ihn zur Abdankung zu zwingen.

Welche Informationen genau Harden von Jakob Ernst erhalten hat, können wir nur vermuten. In mehreren Briefen aus dieser Zeit brachte Harden Wilhelm II. nicht nur mit Jakob Ernst in Zusammenhang, sondern auch mit Eulenburgs Privatsekretär Karl Kistler. Dies sind aber nur Strohhalme im Wind, keine Beweise. Aufgrund des uns derzeit vorliegenden Beweismaterials ist es wahrscheinlich klüger anzunehmen, wie Isabel Hull es formuliert hat, dass Wilhelm der homoerotischen Grundlage seiner Freundschaft mit Eulenburg nicht bewusst war und damit unfähig, die eigenen homosexuellen Aspekte seines Charakters zu erkennen. (Röhl, S. 19 – 20)

Neben diesen privaten Ablenkungen gaben die ärztlichen Beschwerden des Kaisers Anlass zur Sorge.  Aus rein medizinischer Sichtweise bedrohten die häufigen Infektionen des rechten Ohrs und der Nebenhöhlen das Gehirn und Komplikationen hinsichtlich der Stimmungen und Denkfähigkeit des Monarchen konnte nicht ausgeschlossen werden. Im Jahr 1895 schrieb der britische Diplomat M. Gosselin, der in der britischen Botschaft in Berlin beschäftigt war, an Lord Salisbury [Robert Gascoyne-Cecil, 3. Marquess of Salisbury und Premierminister], dass „wenn ein Souverän, der in der Außenpolitik des Deutschen Reiches die beherrschende Stimme besitzt, Halluzinationen und Einflüssen unterworfen ist, die sein Urteil auf lange Sicht verzerren und ihn jeden Moment zu plötzlichen Meinungsänderungen veranlassen können, die niemand vorhersehen oder sich dagegen wappnen kann“, die Folgen für den Frieden der Welt enorm sein könnten. (Röhl, S. 21)

Darin herrschte allgemeine Übereinstimmung. Lord Salisbury selbst hielt den Kaiser für “nicht ganz normal“; Premierminister Herbert Asquith sah ein “gestörtes Gehirn” bei der Arbeit; Sir Edward Grey, Britischer Außenminister, hielt Wilhelm für “nicht ganz gesund und sehr oberflächlich“; Großherzog Sergius von Russland hielt den Kaiser für” psychisch krank “und der Doyen von Berlins Diplomatischem Korps, der österreichische Militärattaché Freiherr von Klepsch-Kloth, stellte fest, dass Wilhelm “nicht wirklich gesund” sei und, wie man so sagt, „eine Schraube locker hatte“. (Röhl, S. 21 – 22) John Röhl sammelte einige weitere Zeugenaussagen:

Im Jahr 1895 beklagte sich Friedrich von Holstein, dass der “Glühwürmchen” – Charakter des Kaisers die Deutschen ständig an König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und König Ludwig II. von Bayern erinnere, die beide verrückt geworden waren.

Nach einem heftigen Streit mit dem Kaiser Anfang 1896, sagte der preußische Kriegsminister, General Bronsart von Schellendorf “dass H. M. nicht ganz normal zu sein schien und er [Schellendorf] tief besorgt über die Zukunft war.” Im folgenden Jahr schrieb Holstein, die konservative Partei denke, der Kaiser wäre “nicht ganz normal”, dass der König von Sachsen ihn für “nicht ganz stabil” erklärt habe und dass der Großherzog von Baden “auf besorgniserregende Weise über die psychologische Seite der Sache gesprochen habe, den Kontaktverlust mit der Realität.” Auch fragte Reichskanzler Fürst Hohenlohe einmal ernsthaft Bernhard von Bülow, seinen eventuellen Nachfolger, ob er “wirklich glaube, dass der Kaiser geistig normal sei?”

Solche Ansichten verbreiteten sich allgemein nach der berüchtigten Rede des Kaisers vom Februar 1897, in der er Bismarck und Moltke als “Lakaien und Pygmäen” bezeichnete. Graf Anton Monts, der preußische Gesandte in Bayern, schrieb aus München aus, dass der Kaiser eindeutig nicht mehr von normalem Geisteszustand war: “Ich entnehme den Andeutungen der Ärzte, das der Kaiser noch geheilt werden könnte, aber die Chancen dazu werden mit jedem Tag schwächer.” (Röhl, S. 22)

Wilhelm II und seine Söhne
Wilhelm II und seine Söhne

Nun wirkte sich das völlige Fehlen sinnvoller „Checks and Balances“ in der Bundesverfassung verhängnisvoll aus. Darin waren keine Verfahren für eine Machtübertragung außer dem Tod oder die freiwillige Abdankung des Monarchen vorgesehen – eine Tat die Wilhelm offensichtlich nicht in Betracht ziehen würde. So äußerte er weiterhin und ungebremst die abstrusen Meinungen, die die Weltpresse inzwischen von ihm erwartete und es war leicht genug für die Gegner Deutschlands, von der ununterbrochenen Kette der öffentlichen Fettnäpfchen und Peinlichkeiten zu profitieren, die der Kaiser zielsicher hinterließ. Bald entwickelte sich eine populäre Anschauungsweise, die Wilhelms Rücksichtslosigkeit als das Ergebnis einer spezifisch deutschen Neigung zu autoritärer Regierung, Militarismus und allgemeiner Unfreundlichkeit erklärte.

Die nicht wirklich herausragende Leistung des jungen Kaisers spaltete schließlich die nationalistische Rechte: eine Fraktion dem Monarchen verpflichtet und eine andere, die, wie bei Spaltungen üblich, nur ihre eigenen patriotischen Forderungen eskalierte, und eine Politik maximaler “deutscher Macht und Größe durch Expansion und Unterwerfung minderwertiger Menschen” forderte. (Kershaw, p. 78)

In der Praxis schmälerte diese supernationalistische Kabale die politischen Optionen einer Regierung nur, die gleichzeitig hysterisch bemüht war, antipreußische Sozialisten und Katholiken so weit wie möglich aus der Politik auszuschließen.

Die demografische Basis der Unterstützung für die Regierung drohte zu schrumpfen und Teile der “alten Ordnung” fingen an, über Krieg als probates Mittel nachzudenken – „um an ihrer Macht festzuhalten und die Bedrohung durch den Sozialismus abzuwehren.“ (Kershaw, S. 74) Der Kaiser schien nicht abgeneigt.

Für diejenigen, die zuhörten, war es ab den 1890er Jahren klar, dass für den Kaiser Krieg eher ein normales Ereignis zwischen Nationen war – er glaubte und gab dies öffentlich zu -, dass “Krieg” ein “königlicher Sport war, den erbliche Monarchen  nach ihrem Willen führen und beenden mögen.” (Röhl, S. 207) Im Zeitalter von Maschinengewehren war dies eine recht atavistische Haltung. Und hier wirkte sich des Kaisers unbeschränkte Autorität bei Ernennungen und Entlassungen so verhängnisvoll aus: bald wurden keine anderen Ratschläge mehr präsentiert, als solche, die der Zustimmung seiner Majestät sicher waren; niemand wagte es, sich ihm und den speichelleckenden Arschkriechern zu widersetzen, die die oberen Ränge der zivilen und militärischen Führung stellten und sich daran gewöhnt hatten, die Wünsche des Monarchen vorwegzunehmen.

Füsiliere in der Schlacht von Loigny 1870 – alte Schule

Auch Willis militärisches Denken war eher von den siegreichen Schlachten der Vereinigungskriege 1864 bis 1871 beeinflusst als von der modernen Realität – in den jährlichen Kaisermanövern ließ er offene Kavallerieattacken üben, die sich im Ernstfall von 1914, in einem Zeitalter der Maschinengewehre und Schnellfeuerkanonen, als purer Massenselbstmord entpuppten.

Kaisermanöver 1913 – Selbstmord 1914

Wie also hätte irgendetwas schiefgehen können im Juli 1914, als das Imperiale Irrlicht mit der Frage des Weltfriedens an sich konfrontiert war? Dies wird das Thema eines separaten Beitrags.

(© John Vincent Palatine 2019)

Aufrufe: 900

Skagerrak – Das Grab der Schlachtkreuzer

Übersichtskarte

Video [Englisch] mit grafischer Simulation

Video (Doku, Englisch) mit Originalaufnahmen

Die Flottenprogramme des Reichs hatten erst Befremdung und anschließend die Feindschaft der englischen Admiralität nach sich gezogen und die Suche nach der passenden Antwort beschäftigte die britische Politik zwischen 1890 und 1914 konstant, an zweiter Stelle nach der irischen Frage. Großbritanniens Politik des Überlebens war es, nie eine einzelne Macht den Kontinent beherrschen zu lassen; die Kanalhäfen im Besonderen und im weiteren Sinne die Vorherrschaft der Royal Navy auf den Ozeanen durften nicht gefährdet werden. Daher war es Britannia gewohnt, immer den jeweils mächtigsten Kräften des Kontinent entgegenzutreten und Sache mit den kleineren Nationen zu machen –  „Underdogs“ zu unterstützen bedeutete auch immer exzellente politische Propaganda.

Großbritannien war eine Seemacht und die strategische Sicht ihrer Admiralität in Hinsicht auf mögliche Konflikte mit europäischen Landmächten hing von der Entwicklung des Seekriegs während der Belle Époque ab. Seit Nelsons Sieg über die Französischen und Spanischen Flotten bei Trafalgar im Jahre 1805 hatte die Royal Navy die Meere dominiert. Das British Empire, im Gegensatz zu, sagen wir, Russland, hing in Bezug auf sein wirtschaftliches und politisches Überleben von der Aufrechterhaltung der Überseeverbindungen ab: Macht über die Ozeane sorgte für billigen Transport, schützte die Handels- und Kommunikationsverbindungen und garantierte die Verteidigungsfähigkeit sowohl der Kolonien als auch der heimischen Gewässer. Dies waren die klassischen Aufgaben der Schiffe unter dem White Ensign.

Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts überzeugte eine Clique von Nationalisten, Geschichtsprofessoren und verschiedenen anderen Wahnsinnigen Kaiser Wilhelm II die „Hochseeflotte“ zu bauen, eine gigantische deutsche Armada zur See, die sich mit der Macht der Royal Navy vergleichen konnte, ja, sie zu übertreffen suchte. Da einfach kein sinnvoller strategischer Grund für das exzentrische Unternehmen existierte, konnte Großbritannien dies nicht anders als eine maritime Herausforderung interpretieren, als Beweis für feindliche Absichten. Diese war nur allzu real, wenn man des Kaisers Wilhelm Hass für seine englische Mutter, Kaiserin Victoria, bedenkt.

Das Gleichgewicht der globalen Schlachtflotten oder „Schiffe der Linie“, wie sie genannt wurden, war im Jahre 1906 von der Royal Navy durch die Präsentation des neuen Schlachtschiffs Dreadnought“ komplett auf den Kopf gestellt worden. Ihr Design machte sofort alle bisherigen Schlachtschiffe zu Alteisen. Ihre Erbauer hatten das Durcheinander aus kleinen, mittleren und großkalibrigen Geschützen, welche traditionell von Großkampfschiffen getragen worden waren,  abgeschafft, zugunsten eines einzigen Kalibers von Artillerie, und zwar des größten verfügbaren. „Dreadnoughts“ Armierung bestand aus zehn 12-Zoll [305 mm, ¶] Geschützen, in fünf Doppeltürmen.

HMS Dreadnought, 1906

Die Bedeutung des Kalibers, der Durchmesser der Bohrung des Geschützes, liegt darin, dass – bei gleichen Treibmitteln – der effektive Aktionsradius der Artillerie in erster Ordnung von seinem Kaliber abhängt; je größer das Kaliber – wenn alle anderen Dinge gleich sind – um so weiter fliegt das Projektil und damit wird der Radius größer, in dem das Schiff sein Feuer zur Wirkung bringen kann. Mit anderen Worten, die Geschosse eines 12-Zoll-Geschützes fliegen weiter als die einer 10-Zoll-Kanone, und das Schiff mit den größeren Waffen kann seine Gegner aus sicherer Entfernung versenken, ohne Gegenfeuer ausgesetzt zu sein.

Die zweite Besonderheit des revolutionären Designs der „Dreadnought“  war die Dicke und die Verteilung ihres Panzers: durch den Verzicht darauf,  unwesentliche Systeme des Schiffs zu panzern konnten die Konstrukteure in den wesentlichen Bereichen bis zu elf Zoll dicke Platten verwenden, eine Anordnung, die als „alles-oder-nichts“ Panzerung bekannt wurde. Die Nachteile dieser massiven Metallverkleidungen und der kolossalen Geschütze waren natürlich ihr enormes Gewicht und die daraus resultierende Verminderung der Geschwindigkeit.
Für moderne Großkampfschiffe waren die Dreadnoughts ziemlich langsam, ihre Höchstgeschwindigkeit lag so um die Zwanzig-Knoten-Marke. Das ganze Konzept der Dreadnought-Klasse machte sie äußerst fit für Artillerieduelle gegen andere Linienschiffe; ihre niedrige Geschwindigkeit verbannte sie jedoch von Einsätzen in der anderen Hälfte des Seekriegs, dem Kreuzer-Krieg.

Der Begriff „Kreuzer“ wurde im 18. Jahrhundert geprägt und bezeichnete ursprünglich ein Kriegsschiff, das selbständig als Handelsstörer im Einsatz war. Nach Verbesserungen in Dampfmaschinenbau und der Waffentechnik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen Kreuzer gepanzert zu werden: wenn das Schiff  ein gepanzertes Deck hatte, aber keine Seitenpanzerung, wurde es „geschützter“ Kreuzer genannt, wenn es beides hatte, „gepanzerten“ Kreuzer. Die Bedeutung des Kreuzerkriegs liegt, natürlich, in der Behinderung des Handels und Nachschub des Gegners; der Kreuzer bevorzugte Beute waren dicke Frachter, Kohlenschiffe oder Tanker. Doch die unverzichtbare Notwendigkeit nach der notwendigen Geschwindigkeit einerseits die Beute zu jagen aber andererseits überlegenen Schiffen zu entkommen, begrenzte das Gewicht des Panzers und die Größe der Geschütze im Kreuzer-Design.

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts konzipierten Ingenieure der Royal Navy einen Kompromiss des Kreuzerdesigns, der à la longue “Schlachtkreuzer” genannt wurde. Ein Schlachtkreuzer, so die Idee, würde die Waffen eines Dreadnoughts, wenn auch aus Gewichtsgründen eine geringere Anzahl von ihnen, mit so viel Panzerung wie möglich kombinieren, um dennoch hohe Geschwindigkeiten beibehalten zu können. Der erste britische Schlachtkreuzer wurde 1907, nur ein Jahr nach der Dreadnought, in Auftrag gegeben, und, ganz bescheiden, “Invincible” getauft.

HMS Invincible

Menschliches Genie hat oft versucht, die Vorteile zweier Typen von Waffen zu kombinieren, während gleichzeitig ihre Nachteile zu vermeiden. Die Konstruktion von Schlachtkreuzern war ein solches genial geplantes Unternehmen. Robert Massie erzählt uns die Geschichte in “Dreadnought” (Ballantine Books 1992, ISBN 978-0-345-37556-8, S. 491 ff.):

Frankreich – immer noch der potenzielle Widersacher vor1890  – hatte bei der britischen Admiralität durch den Bau einer Reihe großer Kreuzer, die in der Lage waren, 21 Knoten zu laufen, Bedenken hervorgerufen. Diese Schiffe waren Ausdruck der Idee einer Schule französischer Admiräle, die daran verzweifelten, dass Frankreich nie in der Lage wäre, mit Großbritannien Schiff für Schiff gleichzuziehen, und es daher der beste Weg wäre, um den maritimen Koloss zu Fall zu bringen, eine Flotte schneller, tödlicher Kreuzer und Torpedo-Boote zu entfesseln, die Großbritanniens gefährdeten Überseehandel angreifen und lahmlegen könnten. Britische Admirale reagierten zunächst damit, Anti-Kreuzer-Kreuzer in Auftrag zu geben; Schiffe, die noch schneller, stärker und genug bewaffnet wären, um alles zu jagen und versenken, was die Franzosen aussenden könnten.

Diese Schiffe, nun entworfen um zu kämpfen, nicht mehr nur einfach zu beschatten und Bericht zu erstatten, wurden gepanzert und Panzerkreuzer genannt. Klasse nach Klasse wurde gebaut und in den Seedienst geschickt….. Insgesamt gab es fünfunddreißig solche britische Panzerkreuzer, einige von ihnen so groß, oder größer noch, als die Schlachtschiffe der Royal Sovereign- oder Majestic-Klasse. Doch egal wie groß sie haben oder wie beeindruckend sie aussahen, sie waren nie dazu bestimmt gegen Schlachtschiffe zu kämpfen. …

Das war auch Fishers Verständnis und Plan, zumindest am Anfang.  Admiral Fisher war der Vorsitzende des Design-Komitees der Royal Navy, das die Entwürfe der „Dreadnought“ und anderer Schiffe erstellte. Seine ersten Schlachtkreuzer-Entwürfe sollten die ultimativen Panzerkreuzer werden, so schnell und stark bewaffnet, dass sie alle anderen Kreuzer der Welt überholen und zerstören konnten. … Fisher schrieb im März 1902 an Lord Selbourne, * den First Sea Lord, dass er mit Gard, dem Chefkonstrukteur der Werft von Malta, an einem Entwurf für einen Panzerkreuzer arbeite, der alle bisher vorhandenen Panzerkreuzer obsolet machen würde. [Massie meint hier William Palmer, 2nd Earl of Selbourne]

Fisher nannte sein hypothetisches Schiff „HMS Perfection“, und an der Spitze der Liste ihrer Gestaltungsmerkmale schrieb er „Geschwindigkeit bei voller Kraft von 25 Knoten“, aber des Sea Lords Antwort war nicht alles, was Fisher sich erhofft hatte. Gebaut wurden die „Warrior“– und „Minotaur“-Klassen; große Schiffen mit 9,2-Zoll – Kanonen und einer Geschwindigkeit von 23 Knoten, zwei Knoten weniger als was Fisher für „Perfection“ gefordert hatte.

Inzwischen begannen andere Admiralitäten ebenfalls zu experimentieren. Gegen Ende des Jahres 1904 erreichte die Nachricht London, dass Japan zwei große, 21-Knoten schnelle Panzerkreuzer mit jeweils vier 12-Zoll – Geschützen und zwölf 6-Zoll-Kanonen auf Kiel gelegt hatte. In Italien waren vier von Cuniberti konstruierte Schiffe im Bau, die über zwei 12-Zoll und zwölf 8-Zoll–Geschütze verfügten und ebenfalls 21 Knoten liefen. Ausländer näherten sich dem Konzept der „Perfection“ an.

Im Februar 1905, nachdem Fishers Design-Komitee die Pläne für die „Dreadnought“ abgeschlossen hatte, erschien „Perfection“ auf dem Papier. Jetzt musste Fisher seine Projekte der Admiralität nicht mehr aufdrängen; er selbst war jetzt die Admiralität. [Er war im Jahre 1904 Erste Seelord geworden, ¶] Und in der Fisher-Ära, was er sofort klar machte, würde die britischer Handelsschifffahrt nicht nur durch ein paar auf der ganzen Welt verstreute Panzerkreuzer beschützt werden, sondern durch einige enorm schnelle, leistungsfähige Schiffe, die jeden feindlichen Kreuzer jagen und zerstören konnten, wohin immer er geflohen wäre – wenn nötig, „bis ans Ende der Welt.“

In der Zwischenzeit hatte die präsumptive Bedrohung ihre Nationalität gewechselt; es waren nicht mehr französische Kreuzer, die die Admiralität besorgten, sondern deutsche Ozeandampfer; die großen, schnellen, hochseetüchtigen Windhunde des Norddeutschen Lloyd und der Hamburg-Amerika-Linie, die dafür konstruiert waren, 6-Zoll-Kanonen zu tragen. Entwickelt um Passagiere in fünf oder sechs Tagen über den Nordatlantik zu befördern, konnten sie alle vorhandenen britischen Kreuzer leicht hinter sich lassen.

Geschwindigkeit war die herausragende Anforderung; Geschwindigkeit genug um den Feind zu überholen und auch für des Schiffes eigene Abwehr zu sorgen: es musste in der Lage sein, sich außerhalb der Reichweite von Schlachtschiffen zu halten. Fisher fixierte die minimale absolute Marge bei vier Knoten Unterschied, und da er die Dreadnought für 21 Knoten baute, musste HMS Perfection in der Lage sein, 25 Knoten zu dampfen. Fisher wollte auch maximale Feuerkraft. Die größten verfügbaren Geschütze waren 12 Zoll, wie bereits geschildert bereits auf neuen Panzerkreuzern und schnellen italienischen und japanischen Schlachtschiffen installiert. Nachdem er schon erfolgreich für die nur mit großkalibrigen Geschützen bewaffneten Schlachtschiffe argumentiert hatte, forderte Fisher nun einen eben solchen Panzerkreuzer.

Wieder einmal gab der treue und einfallsreiche Gard dem Admiral, was er wollte. „Perfektion“, woraus die „Invincible“-Klasse von Schlachtkreuzern werden würde, kam aus dem Zeichenbrett mit acht 12-Zoll-Geschütze in vier Doppeltürmen. Fisher war überglücklich. Mit 25 Knoten Geschwindigkeit und acht 12-Zoll-Kanonen, war hier ein Kriegsschiff, welches stark genug war, jedes Schiff, das es einholen konnte schnell genug zu zerstören, und schnell genug, um jedem Schiff zu entkommen, das es selbst bedrohen könnte. Sie konnte ein ganzes Geschwader feindlicher Kreuzer mit der größten Leichtigkeit „aufwischen“, mit ihrer Geschwindigkeit die richtige Position etablieren und mit ihren weitreichenden Waffen den Feind versenken, ohne sich selbst Gegenfeuer auszusetzen.

Sie hatte nur einen einzigen Fehler: ihre Panzerung war zu leicht. Wie Dornröschen, für die das Leben gefahrlos war, solange sie sich von Spindeln fernhielt, konnten „Invincible“ und ihre Schwestern eine glückliche Existenz führen solange sie sich von Schlachtschiffen fernhielten. Ihre Geschwindigkeit war ein kostbares Gut und um einen hohen Preis erworben.

Die drei wesentlichen Merkmale eines Kriegsschiffes – Geschütze, Geschwindigkeit und Panzerung – sind alle miteinander korreliert. Ein Designer kann nicht alles haben: wenn schwere Geschütze und dicke Panzerung erforderlich sind, leidet die Geschwindigkeit; dies war der Kompromiss, der auf alle Schlachtschiffe zutraf. Wird höhere Geschwindigkeit gefordert und schwere Geschütze beibehalten, muss Panzerung geopfert werden. Dies war der Fall bei der „Invincible“ und ihren Schwestern. Um vier kostbare Knoten Geschwindigkeit zu gewinnen, musste „Invincible“ auf einen Turm und damit zwei der zehn 12-Zoll-Geschütze der Dreadnought verzichten.

Das sparte zweitausend Tonnen, die in die Antriebsmaschinen gesteckt werden konnten. Ein gefährlicheres Opfer wurde in Bezug auf die Panzerung gemacht. Der Panzer der “Dreadnought”, dazu bestimmt durch eine Katastrophe explodierender Granaten zu schwimmen, war mittschiffs mit einem elf Zoll dicken Gürtelpanzer ausgestattet, genug um schwerste Einschläge zu überstehen. Um das Mittelschiff der Invincible herum war der Gürtel nur sieben Zoll dick. Wenn es die Mission des Schlachtkreuzers wäre,  auszukundschaften oder feindliche Kreuzer zu bekämpfen, wären sieben Zoll Panzer ausreichend. Aber würde sie sich absichtlich in die Reichweite feindlicher Schlachtschiffe begeben, wären sieben Zoll nicht genug. … Einige Experten sahen die potenzielle Gefahr durchaus. „Brassey‘s Naval Annual“ schrieb: „… Das Problem bei Schiffen dieser enormen Größe und Kosten ist, dass ein Admiral mit Invincibles in seiner Flotte versucht sein wird, sie in die Schlachtlinie zu beordern, wo ihr vergleichsweise leichter Schutz ein Nachteil sein wird, und ihre hohe Geschwindigkeit bedeutungslos.“ Kurz gesagt, weil sie wie ein Schlachtschiff aussah und eines Schlachtschiffes Kanonen besaß, würde früher oder später von Invincible erwartet werden, auch wie ein Schlachtschiff zu kämpfen.

Da bekanntlich keine gute Tat unbestraft bleibt, imitierten die Deutschen das zwittrige Konzept und bauten ihre eigenen Schlachtkreuzer.

Da die beiden Nationen nun 15 Jahre lang und mit enormen Kosten
in hektischer Geschwindigkeit Großkampfschiffe gebaut hatten, erwartete jeder einen gewaltigen Zusammenstoß der Flotten innerhalb der ersten Monate des Krieges. Aber die ersten zwei Jahre des Konflikts brachten nur kleinere Auseinandersetzungen. Am 28. August 1914 trieb eine Squadron von Schlachtkreuzern unter dem Befehl von Admiral Sir David Beatty eine gemischte deutsche Flottille in der Deutschen Bucht bei Helgoland in die Enge und versenkte drei kleine Kreuzer und ein Torpedoboot. Im Januar 1915 führte eine Begegnung zwischen Beattys Flotte und einigen deutschen Schlachtkreuzern an der Doggerbank zum Verlust der deutschen “Blücher“ und schweren Schäden an der “Seydlitz“, während die britischen “Tiger“ und  “Lion“ geringere Beschädigungen erlitten.

Die Deutschen erzielten einen großen Erfolg im Oktober 1914, als eine einzige Mine das brandneue britische Schlachtschiff „Audacious“ versenkte. Etwas kleinere Erfolge wurden durch U-Boote erreicht. U 9 versenkte die drei alten britischen Kreuzer„ Abukir“, „Hogue‘“ und „Cressy“ an einem einzigen Tag im September 1914, und U 24 sank das ältere Schlachtschiff „Formidable“ am 1. Januar 1915.

Untergang von HMS Audacious

Die weitgehende Flaute in der Nordsee endete, als der deutsche Admiral Reinhard Scheer mit dem Kommando der Hochseeflotte im Januar 1916 betraut wurde. Auf der Suche nach einer Lösung für die numerische Überlegenheit der Royal Navy konzentrierte er sich auf Beattys Schlachtkreuzer-Division, die mittlerweile in Rosyth bei Edinburgh vor Anker lag. Wenn er seine Karten gut spielte, hielt er es für möglich, Beattys Schiffe in eine Falle zu locken und zu zerstören, bevor die Home Fleet aus Scapa Flow auf den Orkneyinseln zu ihrer Rettung kommen könne. Scheers Plan berücksichtigte natürlich, dass die Grand Fleet etwa 40 % größer war als die Hochseeflotte, aber die Anzahl ihrer Aufgaben musste sie auch zum Teil über die Ozeane verstreuen. Wenn er für eine Zeitlang überlegene Kräfte gegen einen kleineren Teil der Grand Fleet vereinigen könne, könnte er das numerische Defizit zeitweise ausgleichen und der Sieg möge in Reichweite liegen.

Eine taktische Variable in seinem Plan war sowohl ihm als auch seinen Gegnern auf der britischen Seite unbekannt: die Unsicherheit, wie es den Schlachtkreuzern ergehen würde, wenn sie tatsächlich mit Schlachtschiffen konfrontiert wurden. In Bezug auf eine andere taktische Variable musste er auf sein Glück vertrauen, und zwar darauf, wie früh oder spät der britischen Marine-Geheimdienst sein Auslaufen entdecken würde. Im Mai 1916 konsolidierte er seine Gedanken in dem Plan, Beattys Geschwader, bestehend aus sechs Schlachtkreuzern und vier Schlachtschiffen, nach Süden zu locken, indem er Beatty einen Köder aus ein paar deutschen Schlachtkreuzern offerierte. Da diese Schiffe für die britische Dreadnoughts in Scapa Flow zu schnell waren, hatte nur Beattys Flottille eine Chance, sie zu fangen. Sobald Beatty über die deutsche Vorhut informiert wäre und sich aufmachte sie abzufangen, würden die deutschen Schlachtkreuzern Kurs nach Süden nehmen und Beattys Verband direkt in die Kanonen der deutschen Schlachtflotte führen.

In unserem Fall  bestand Scheers Vorhut aus fünf deutschen Schlachtkreuzern unter dem Kommando von Franz von Hipper sowie verschiedenen Begleitschiffen, die am Morgen des 31. Mai 1916 entlang der Westküste von Dänemark nach Norden fuhren. Scheer folgte etwa 50 Meilen weiter südlich, aber er hatte kein Glück. Der Britische Nachrichtendienst hatte Scheers Pläne für eine große Operation bereits ab Mitte Mai aufgefangen, die deutschen Funkübertragungen entschlüsselt und Admiral John Jellicoe, den Kommandeur der Grand Fleet, informiert. Scheer hatte kaum Helgoland passiert, als Beattys Schlachtkreuzer schon auf dem Weg nach Süden geschickt wurden, gefolgt, in einer Entfernung von etwa 70 Meilen, von den Schlachtschiffen aus Scapa Flow. Die Briten hatten die Rolle von Hund und Hase umgekehrt.

In Bezug auf Tonnage und Waffenkraft wurde das bevorstehende Ereignis das größte der Seekriegsgeschichte. Die Hochseeflotte hatte sechzehn Dreadnoughts mobilisiert, sechs ältere Schlachtschiffe, fünf Schlachtkreuzer, elf leichte Kreuzer und einundsechzig Zerstörer (99 Kampfschiffe). Jellicoes vereinigte Flotte umfasste achtundzwanzig Dreadnoughts, neun Schlachtkreuzer, acht gepanzerte Kreuzer, sechsundzwanzig leichte Kreuzer, achtundsiebzig Zerstörer, einen Wasserflugzeugträger und einen Minensucher (151 Kampfschiffe).

Treffen der Vorhut

Der erste Kontakt erfolgte um gegen 14 Uhr, als beide Zerstörerschirme das gleiche neutrale Handelsschiff untersuchen wollten und so ineinander liefen. Ihre Radios alarmierten die Schlachtkreuzerflotten von Hipper und Beatty, die nun auf Kollisionskurs drehten. Beattys fünf Schlachtkreuzer, die vor den Schlachtschiffen fuhren, sichteten Hippers Flottille um etwa 16.00 Uhr und eröffneten das Feuer. Im Duell der Schlachtkreuzer wurden die Mängel des Konzepts unbarmherzig aufgedeckt. Beatty eigenes Flaggschiff, die “Lion”, wurde schwer durch Treffer von der “Lützow“, Hippers Flaggschiff, beschädigt, aber die Dinge kamen noch schlimmer:

Indefatigable“ – im Duell mit der deutschen „Von der Tann“, erlitt eine innere Explosion, die sie buchstäblich auseinander riss; nur wenige Minuten später explodierte „Queen Mary“ und sank, nach einer Salve von  „Derfflinger“. Nur acht Männer überlebten. Deutsche Schiffe zeigten viel weniger Anfälligkeit für die Auswirkungen britischer Granaten – ob es sich dabei um das Resultat besserer Panzerung oder ein Problem mit den englischen Zündern wird immer noch diskutiert.

Haupttreffen
Die "Queen Mary" explodiert in der Schlacht am Skagerrak
Die “Queen Mary” explodiert in der Schlacht am Skagerrak

Nachträgliche Untersuchungen ergaben, dass deutsche Granaten die schwache Panzerung um die Treibmittellagerräume durchbrochen hatten, wo die instabilen Ladungen offen aufbewahrt wurden, um sie schnell an die Geschütztürme weiterleiten zu können. Die Explosion der Granaten verursachte anschließend die Detonation des Hauptmagazins. Beattys erste Linie war so schnell reduziert, aber die Begeisterung an Bord von Hippers Schiffen war von kurzer Dauer. Als die vier britischen Schlachtschiffe aus den Wolken von Rauch und Regenschauern auftauchten entstanden, war es Hippers Zeit umzukehren, mit Beatty in der Verfolgung.

HMS Indefatigable

Eine halbe Stunde später konnte die britische Vorhut ihrerseits Scheers Schlachtschiffe am Horizont auftauchen sehen – wie erwartet – und jetzt war es an ihnen, wiederum nach Norden umzukehren, um Scheer in Richtung des Hinterhalts von Jellicoes Grand Fleet, die schnell aufgeschlossen hatte, zu führen. Der Schlagabtausch setzte sich durch all diese unterhaltsamen Verfolgungsjagden fort und begünstigte nun die Briten, die jetzt das Feuer der neuen 15-Zoll-Kanonen ihrer Schlachtschiffe zur Geltung bringen konnten. Mehrere Treffer beschädigten „Seydlitz“ erneut schwer – nach ihrer unglücklichen Erfahrung bei der Doggerbank – und erwies zumindest, dass deutsche Schlachtkreuzer gegenüber gut gezielten Schüssen genauso anfällig waren wie die britischen. Die Probleme der„Seydlitz“ ‘ verursachten Unordnung in Scheers Schlachtlinie in genau in dem Moment, als während einer verworrenen Situation, eine deutsche Salve „Invincible“ fand. Sie explodierte und ihre Bruchteile verbanden sich mit denen ihrer jüngeren Schwestern im feuchten Grab der Nordsee. Das war jedoch der letzte Glücksfall für Scheer, der sich mit einem zunehmenden Vorhang aus 15-Zoll Granaten konfrontiert sah. Um etwa sechs Uhr abends, überlegenen Kräften gegenüber, entschied er sich, das Spiel zu beenden.

HMS Warspite and Malaysia in action

So hätte eine bereits unbefriedigende Begegnung – von der britischen Sicht aus –  ergebnislos enden können, Scheer jedoch entschied sich dann umzudrehen, vielleicht um dem beschädigten Leichten Kreuzer „Wiesbaden“, der zurückgelassen worden war, zu Hilfe zu kommen, vielleicht, weil er dachte, dass er achteraus Jellicoes Flotte passieren könne, die ihren Vormarsch in Richtung Helgolands fortsetzte, um so durch den Skagerrak in die Ostsee zu flüchten. Jellicoe jedoch verminderte seine Geschwindigkeit wieder, mit dem Ergebnis, dass die deutschen Dreadnoughts – in Richtung Nordosten fahrend – den britischen Schiffen auf südöstlichem Kurs begegneten – und die Briten ihre Rückseite passieren konnten, um sie von Flucht und Sicherheit abzuschneiden.

Darüber hinaus waren – im Treffmoment der Begegnung – die Briten in Linie nebeneinander, die Deutschen aber in Linie voraus, eine relative Position, die als das “Crossing the T” bekannt ist und stark die britische Flotte begünstigte. Alle ihre Breitseiten konnten gegen das jeweils erste Schiff in der deutschen Linie gleichzeitig eingesetzt werden, das damit auch ein leichtes Ziel darstellte. In zehn Minuten Kreuzfeuer erhielten die Deutschen siebenundzwanzig Treffer großkalibriger Granaten, die Briten nur zwei. Dies überzeugte Scheer wieder in den dunklen östlichen Horizont hineinzudrehen und seine Schlachtkreuzer und leichteren Schiffe als Deckung seines Rückzug in einer „Todesfahrt“ zurückzulassen.

Die Bedrohung durch Torpedos, die Scheer dadurch schuf, veranlasste Jellicoe ebenfalls abzudrehen – wofür er später Vorwürfe erhielt – und bis er wieder zurückdrehte, hatte Scheer 10 Meilen zwischen seine Dreadnoughts und die Verfolger gebracht. Viele deutsche Schiffe blieben zurück, um  Scheer Flucht zu decken, einschließlich seiner Staffel von gefährdeten, alten Pre-Dreadnoughts, die in einer Reihe von Dämmerungs- und Nachtaktionen Verluste erlitten. So geschah es auch den britischen Kreuzer und Zerstörer, die Kontakt hielten. Am Morgen des 1. Juni, als Scheer seine Flotte Zuhause hatte, hatte er einen Schlachtkreuzer verloren, ein Pre-Dreadnought, vier leichte Kreuzer und fünf Zerstörer. Jellicoe – der das Kommando über die Nordsee allerdings behielt – hatte drei Schlachtkreuzer verloren, vier Panzerkreuzer und acht Zerstörer; 6094 britische Seeleute waren gestorben, 2551 Deutsche.

Schäden an SMS Seydlitz

Soweit es taktische Fragen anging, war die „Battle of Jutland“, wie die Royal Navy sie nennt, oder „Skagerrakschlacht“, wie sie in Deutschland heißt, ein großer Erfolg für die junge Hochseeflotte: deutsche Panzerung und Munition hatten sich britischer Rüstung als überlegen erwiesen. Strategisch jedoch blieb die Kontrolle über die Nordsee und damit die Zugänge zum Atlantik bei Großbritannien; für den Rest des Krieges blieb die deutsche Flotte vor Anker und war keine Bedrohung für das Empire mehr. Die internationale Presse beschrieb die Begegnung in Jütland als „Angriff auf den Wärter mit anschließender Rückkehr ins Gefängnis.“ Das folgende friedliche Dahinrosten der deutschen Flotte im Hafen wurde erst wieder im Jahre 1919 gestört, als eine Klausel des Waffenstillstandes die Internierung der Flotte in Scapa Flow anordnete. Die Crews segelten die Schiffe wie gefordert zu den Orkneyinseln, aber versenkten sie bald selbst nach ihrer Ankunft.

Doch für die Idee “Schlachtkreuzer” war es der erste, einzige und gleichzeitig letzte Auftritt – sie verschwanden aus den Flottenregistern der Welt so schnell wie sie erschienen waren.


Der offizielle Bericht von Admiral Scheer an den Kaiser (PDF)


(© John Vincent Palatine 2015/19)

Aufrufe: 1338

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén

%d Bloggern gefällt das: