Historia Occidentalis

Ein Magazin zur Zentraleuropäischen Geschichte

Schlagwort: Katholizismus

Das Zweite Reich 1871 – 1918

Titelbild: Dieses Wandgemälde von Carl Steffeck von 1884 zeigt den französischen Generaladjutanten Reille bei der Überbringung der Kapitulation von Napoleon III bei der Schlacht von Sedan am 2. September 1870


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Nachdem Österreich-Ungarn durch den Krieg von 1866 und die Niederlage von Königgrätz an den Rand innerdeutscher Politik gedrängt worden war, übernahm Preußen die Führung der deutschen Staaten, die noch immer mehr als ein Dutzend zählten. Auf der Karte waren die Änderungen geringfügig; die Geografie des “Deutschen Bundes” wurde durch das Verschwinden Österreichs unglücklicher Verbündeter kaum verändert. Wichtigere Änderungen traten im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der deutschen Staaten auf, insbesondere im kritischen Bereich der Zollunion. Trotz fortschreitender Industrialisierung, in der direkte Steuern immer wichtiger wurden, waren Zölle nach wie vor ein großer Teil der staatlichen Einkommen.

Linguistische Karte um 1870
Linguistische Karte um 1870 mit den Grenzflüssen des “Liedes der Deutschen” von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, geschrieben am 26. August 1841

Der Deutsche Zollverein war im 19. Jahrhundert stetig gewachsen, ausgehend von seinen profanen Ursprüngen als Gemeinsamer Preußischer Zolltarif von 1828; später umfasste er die süddeutschen Königreiche Bayern und Württemberg und das Großherzogtum Baden und nachdem Österreich 1867 aus dem Bild gefallen war, trat der Großteil des Restes der deutsche Staaten bei; die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Mecklenburg und das Königreich Hannover. Im Jahr 1869 waren die geografischen Grenzen von Zollverein und Deutschem Bund nahezu identisch. Durch ein kleines Update der politischen Struktur wurde der Deutsche Bund in “Norddeutscher Bund” umbenannt; der einzig bedeutsame Unterschied war die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer im Alter von über einundzwanzig Jahren.

Erstaunlicherweise deckten die ersten Wahlergebnisse unter den neuen Bedingungen eine seltene Fehleinschätzung Otto von Bismarcks auf: Er war davon ausgegangen, dass der Sieg über Österreich am meisten seinen konservativen parlamentarischen Verbündeten zugutekommen würde, aber im  Fall der Fälle ging die Mehrheit der Sitze an seine Gegner, die Liberalen, und einige sogar an seine Todfeinde, an die Sozialdemokraten und an das katholische Zentrum. Aufgrund dieser überraschenden Pflichtvergessenheit der deutschen Wähler wurden Bismarcks weitere Pläne nun mit einigen parlamentarischen Hemmnissen konfrontiert, aber der Eiserne Kanzler erwies sich als Meister darin, solch triviale Herausforderungen zu umgehen.

Seine Überlegungen im Hinblick auf eine mögliche deutsche Einigung gingen von der Ansicht aus, dass, durch die Leidenschaften eines Krieges, die Deutschen wiederum – wie 1866 – politische Hürden überwinden könnten. Falls die südlichen Staaten, insbesondere die ausgesprochen unabhängigen Königreiche Bayern und Württemberg, zögerten, seiner Führung zu folgen, könnten der Eifer eines erneuten Krieges den Ausschlag der Waage bewirken.

Ein geeigneter Gegner und Buhmann wurde leicht identifiziert in der Person von Napoleon III., Kaiser von Frankreich.

Seit 1815 hatten keine offenen Feindseligkeiten zwischen Frankreich und Preußen stattgefunden hatten, aber Bismarck – aufgrund der Erfahrungen, die er in den 1850er Jahren als preußischer Botschafter in Paris gemacht hatte – hatte  klare Ideen, welche Knöpfe zu drücken waren, um Frankreich in patriotischer Kriegsbereitschaft zu entflammen.

Napoleon III., Neffe und Nachfolger des großen Korsen, der sich 1852 zum Kaiser von Frankreich ausgerufen hatte, brauchte dringend frischen militärischen – oder auch jeden anderen Ruhm. Sein Eingreifen in Mexiko zur Unterstützung von Kaiser Maximilian hatte in einer kompletten Katastrophe geendet [1861-1867] und der Glanz der französischen Waffen  war dringend restaurierungsbedürftig. Er hatte die Entstehung Preußens als neue deutsche Zentralmacht mit Abneigung betrachtet; nicht so sehr wegen seiner Prinzipien – solche hatte er nicht – sondern weil er den Erwerb des Herzogtums Luxemburg für Frankreich gerne als Preis für seine Neutralität im Prusso-Österreichischen Krieg von 1866 gesehen hätte. Er war wütend, als Bismarck nach dem Sieg erklärte, dass, da Luxemburg nicht zu Preußen gehöre, man es nicht an Frankreich abtreten könne.

Bismarck konferierte mit Graf Helmuth von Moltke, dem Chef des preußischen Generalstabs, über die Chancen eines Preußisch-Französischen Krieges. Moltke schätzte, dass ein Erfolg wahrscheinlich sei, und Bismarck begann nach einer günstigen Gelegenheit zum Krieg, nach einem Casus Belli, zu suchen. Er musste nicht lange warten.

Otto von Bismarck, Kriegsminster von Roon und Chef des Generalstabs Graf Helmuth von Moltke (der Ältere)
Otto von Bismarck, Kriegsminster Albrecht von Roon und Chef des Generalstabs Graf Helmuth von Moltke (der Ältere)

Im Jahr 1869 war der spanische Thron wieder einmal heftig umstritten und nach langer Diskussion beschloss der spanische Kronrat, die Krone einem Vetter Wilhelms, dem Prinzen  Leopold von Hohenzollern anzubieten, aus der schwäbischen, katholischen Seitenlinie der Hohenzollern. Als die Nachricht über das spanische Angebot und die Akzeptanz des Prinzen Paris erreichte, interpretierten sowohl Kaiser Napoleon als auch seine loyalen Untertanen die Botschaft aus Madrid als Beweis für eine erneute Verschwörung Deutschlands, Frankreich zu umzingeln. Wachsamkeit und natürlich die Ehre der französischen Nation geboten, sofort die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um das geplante Verbrechen im Keim zu ersticken.

Der französische Botschafter in Preußen, Vincent Benedetti, wurde also mit dringender Botschaft nach Bad Ems geschickt, wo Wilhelm zur Kur weilte. Benedettis Mission bestand darin, zwei Forderungen Napoleons zu überbringen. Erstens müsse Prinz Leopolds Zusage sofort widerrufen werden und zweitens müsse Wilhelm, in seiner Eigenschaft als Chef der Familie Hohenzollern, eine öffentliche Erklärung abgeben, dass auf keinen Fall ein Prinz des Hauses ein spanisches Angebot annehmen werde, sollte es erneuert werden.

Die Forderungen waren, um es gelinde auszudrücken, ziemlich starker Tobak, denn Napoleon III. hatte in dieser Sache weder Anlass noch Autorität. Wilhelm ließ bestellen, dass nichts den Kaiser von Frankreich daran hindere, das Thema mit Prinz Leopold selbst zu diskutieren – dieser sei ein erwachsener Mann, und er, Wilhelm, wäre nicht seine Mutter. In Bezug auf die zweite Forderung wies Wilhelm auf seinen Mangel an Autorität hin, für zukünftige Generationen von Hohenzollern Zusagen abgeben zu können. Benedetti kabelte nach Paris, berichtete Wilhelms Antworten, und es wurde ihm befohlen, um eine zweites Audienz zu bitten und Napoleons Anfragen zu wiederholen. Solch wiederholten Anfragen waren nicht gerade guter diplomatischer Stil. Wilhelms Sekretär Heinrich Abeken fasste das zweite Interview in einem Telegramm an Bismarck zusammen:

Seine Majestät, der König, hat mir geschrieben:

Graf Benedetti hat mich auf der Promenade abgefangen und von mir in einer sehr inopportunen Manier gefordert, dass ich ihn ermächtigen sollte, sofort zu telegrafieren, dass ich mich auf ewig gebunden hätte, nie wieder meine Zustimmung zu geben, falls die Hohenzollern ihre Kandidatur erneuerten.

Ich habe diese Forderung etwas streng abgelehnt, da es weder richtig noch möglich ist, Verpflichtungen solcher Art [für immer und ewig] einzugehen. Natürlich erzählte ich ihm, dass ich noch keine Nachrichten erhalten hatte und da er über Paris und Madrid besser informiert wäre als ich, müsse ihm klar sein, dass meine Regierung in diesem Falle nicht betroffen war.

[Auf Anraten eines seiner Minister] entschied sich der König – angesichts der oben genannten Forderungen – Graf Benedetti nicht mehr zu empfangen, aber er ließ ihn von einem Adjutanten ausrichten, dass Seine Majestät mittlerweile von Leopold eine Bestätigung seines Thronverzichts erhalten habe, was Benedetti bereits aus Paris wisse, und er dem Botschafter daher nichts weiter zu sagen hätte.

Seine Majestät legt Ihrer Exzellenz (dem Adressaten) nahe, dass Benedettis neue Forderungen und ihre Ablehnung sowohl an unsere Botschafter als auch an die Presse kommuniziert werden sollten. [29]

Bismarck redigierte den Text ein wenig und leitete ihn an das französische Pressebüro HAVAS weiter:

Nachdem die Nachricht vom Verzicht des Fürsten von Hohenzollern dem Kaiser von der Königlich Spanischen Regierung mitgeteilt worden war, stellte die französische Regierung, durch den französische Botschafter in Ems, eine weitere Forderung an Seine Majestät den König; dass er den Botschafter ermächtigen sollte, nach Paris zu senden, dass Seine Majestät der König sich zu jeder Zeit verpflichte, nie wieder seine Zustimmung zu erteilen, sollten die Hohenzollern ihre Kandidatur wiederaufgreifen.

 Seine Majestät der König lehnte es daraufhin ab, den Botschafter erneut zu empfangen, und ließ ihm vom diensthabenden Adjutanten ausrichten, dass Seine Majestät keine weitere Mitteilung mehr an den Botschafter zu richten habe. [30]

Bismarcks Entwurf der Emser Depesche
Bismarcks Entwurf der Emser Depesche

Dadurch bekam die Botschaft einen neuen Twist:

Er (Bismarck) schnitt Wilhelms versöhnliche Phrasen aus und betonte die eigentliche Frage. Die Franzosen hatten Forderungen unter Androhung von Krieg gestellt und Wilhelm hatte sie abgelehnt. Dies war keine Fälschung; es war die klare Wiedergabe der Fakten. Sicherlich erweckte die Bearbeitung des Telegramms, das am Abend desselben Tages (13. Juli) an die Medien und die ausländischen Botschaften veröffentlicht wurde, den Eindruck, dass Benedetti etwas zu fordernd war und der König äußerst abrupt. Sie sollte den Franzosen den Eindruck vermitteln,  König Wilhelm I. habe Graf Benedetti beleidigt – andersherum interpretierten die Deutschen das modifizierte Telegramm so, dass der Graf ihren König beleidigt habe. …

Die französische Übersetzung der Agentur Havas änderte die Forderung des Botschafters („il a exigé“ – ‘er hat gefordert’) in eine Frage um. Das deutsche “Adjutant”, was auf einen hochrangigen Mitarbeiter des Königs  (Aide-de-camp) verweist, wurde nicht übersetzt, sondern auf Französisch belassen, wo es nur einen Unteroffizier (Adjudant) bedeutet – was darauf hindeuten sollte, dass der König den Botschafter absichtlich beleidigt hatte, indem er einen Soldaten mit niedrigem Rang auswählte, um ihm die Nachricht zu übermitteln. Dies war die Version die die meisten Zeitungen am folgenden Tag, der auch noch zufällig der 14. Juli (Feiertag der Erstürmung der Bastille) war, veröffentlichten, und damit die Franzosen glauben ließen, dass der König ihren Botschafter absichtlich beleidigt hatte noch bevor der Botschafter seine Geschichte erzählen konnte. …

Die falsche Einschätzung Frankreichs in Bezug auf seine eigene Position in der Sache entflammte die Dinge weit über das Notwendige heraus und Frankreich begann zu mobilisieren. Nach weiteren unsachgemäßen Übersetzungen und Fehlinterpretationen des Telegramms in der Presse, verlangten aufgeregte Massen in Paris den Krieg, genau wie Bismarck es erwartet hatte. Die Emser Depesche hatte nun auch in Deutschland die nationalen Gefühle aufgeputscht. Es ging jetzt nicht mehr nur um Preußen alleine; aller süddeutsche Partikularismus wurde verworfen.

Benedetti, der Beauftragte des französischen Außenministers Herzog Antoine Alfred Agénors de Gramont  für dessen sinnlose Forderungen (die Hohenzollern-Sigmaringer hatten die Kandidatur von Prinz Leopold schon am 11. Juli 1870 mit Wilhelms „voller und uneingeschränkte Zustimmung“  zurückgezogen), wurde zu einem unsichtbaren Nebendarsteller; seine eigenen Schreiben an Paris spielten keine Rolle mehr. Mit überwältigender Mehrheit stimmten Parlament und Regierung für Kriegskredite und Frankreich erklärte Preußen den Krieg am 19. Juli 1870. [31]

Genau das hatte Bismarck erwartet. In einer Reihe von geheimen Verträgen mit den süd- und mitteldeutschen Staaten seit 1866 hatte er den Grundstein für den nun eingetretenen Fall gelegt – Krieg mit Frankreich. Für den Fall, dass Frankreich Preußen den Krieg erklärte, hatten die übrigen deutschen Staaten Preußen militärische Unterstützung zugesagt. Zwei weitere Vereinbarungen, die Bismarck mit Russland und Österreich sub-rosa verhandelt hatte, sicherten deren Neutralität bei den Ereignissen, die sich nun entfalteten. Napoleon konnte keinen einzigen Verbündeten finden und die deutschen Länder, die er ursprünglich für sich hatte gewinnen wollen, marschierten nun an der Seite von Preußen, um den dritten Bonaparte zu besiegen, so wie sie den ersten besiegt hatten.

Zum ersten Mal seit der Niederlage der Türken in Wien im 17. Jahrhundert erschien eine gemeinsame deutsche Armee auf dem Feld. Der Feldzug von 1870 wurde daraufhin zur Apotheose moderner militärischer Planung, weil er weitgehend so lief wie geplant. Zum ersten Mal in einem bedeutenden europäischen Krieg wurden die Eisenbahnlinien zum Hauptmittel des Truppentransports und Koordination der Zugbewegungen der entscheidende Faktor für die richtige Anlieferung und den späteren Einsatz der Kräfte. Die Eröffnungsgefechte an den Grenzen wurden größtenteils gewonnen, so wie Moltke es erwartet hatte, und gefolgt von einem groß angelegten Stoß nach Lothringen. Die Hauptachse des Angriffs zielte auf die Maas, von deren Überquerung die Franzosen den Feind um jeden Preis abhalten mussten, denn sie war die letzte natürliche Verteidigungslinie auf dem Weg nach Paris.

Schlacht bei Sedan, 1. und 2. September 1870
Schlacht bei Sedan, 1. und 2. September 1870

Napoleon III. war selbst nach Sedan gereist, wo die französischen Truppen konzentriert waren. Moltkes Plan war es, durch die gleichzeitige Vorwärtsbewegung zweier Zangen nördlich und südlich ihrer Defensivposition die französische Armee einzuschließen und den Fluss zu verwenden, um ihren eventuellen Rückzug zu blockieren. Die Operation war erfolgreich und am 2. September 1870 mussten sich Napoleon III und die französische Armee ergeben. Zahlenmäßig wurde die Schlacht von Sedan zum größten Sieg in modernen Zeiten, der in einer einzigen Begegnung erreicht wurde; über 100.000 französische Soldaten mussten in Gefangenschaft marschieren. Die Kapitulation des Kaisers besiegelte den endgültigen Erfolg, selbst wenn die deutschen Soldaten durch Aufräumarbeiten und die langwierige Belagerung von Paris noch ein paar Monate beschäftigt blieben.

Bismarck und Napoleon nach der Schlacht von Sedan
Bismarck und Napoleon nach der Schlacht von Sedan
Der Spiegelsaal von Versailles
Der Spiegelsaal von Versailles

Am 18. Januar 1871 versammelten sich die deutschen Fürsten im großen Spiegelsaal des Schlosses von Versailles und erklärten die Gründung eines neuen “Deutschen Reiches“. Sie wählten einstimmig Wilhelm I., König in Preußen, zur neuen Würde des „Deutschen Kaisers“ [nicht ‚Kaiser von Deutschland‘]. Da das neue Staatswesen technisch gesehen nur eine „ewige“ Föderation von souveränen Fürsten war, die in verschiedener Hinsicht unabhängig blieben – wie der Vertrag es bestimmte – war und wurde das Zweite Reich nie ein zentralisierter Staat wie Frankreich oder Russland.

Das berühmte Bild Anton von Werners - Kaiserproklamation am 18. Januar 1871
Das berühmte Bild Anton von Werners – Kaiserproklamation am 18. Januar 1871
Siegesparade durch Paris am 1. März 1871
Siegesparade durch Paris am 1. März 1871
Siegesfeier in Berlin
Siegesfeier in Berlin

Doch schon bald traten Mängel in Bismarcks großem Entwurf auf, der treffend als “Revolution von oben” bezeichnet wird. Die Vereinigung war nicht auf den Willen des deutschen Volkes zurückzuführen, sondern auf einen Bund von 36 deutschen Fürsten, die sich zwar einig waren, einen von ihnen zum Kaiser zu erheben, aber sonst in wenig anderem. Die deutsche Bourgeoisie hatte nicht erreichen können, was den Bürger der Vereinigten Staaten, Englands oder Frankreichs zugesichert worden war, nämlich politische Emanzipation: nicht aus Mangel an Versuchen, sondern durch die blutige Niederschlagung der Reformbewegung von 1848. Die Bemühungen der deutschen Bevölkerung waren zusammengebrochen in den Horrorbildern von Soldaten, die auf ihre eigenen Familien schossen und erstickt durch den Terror politischer Polizei. Diese schrecklichen Erfahrungen dürfen keinesfalls unterschätzt werden: zusammen mit den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, die noch tief im volkstümlichen Unterbewusstsein lebten, erklären sie vieles von der politischen Apathie, die vor 1871 in Deutschland herrschte. Für die Bourgeoisie verstärkte Bismarcks “Revolution von oben” nur das Gefühl, von politischen Entscheidungen ausgeschlossen zu sein. Peter Watson erklärt:

In einem echten Sinn und wie es Gordon Craig betont hat, haben die einfachen Menschen in Deutschland keine Rolle bei der Gründung des Reiches gespielt. “Der neue Staat war ein ‚Geschenk‘ an die Nation, zu der der Empfänger nicht befragt worden war.”  Seine Verfassung war nicht verdient oder erkämpft worden; sie war nur ein Vertrag zwischen den Fürsten der bestehenden deutschen Staaten, die ihre Kronen bis 1918 behielten.

Für unser modernes Denken hatte dies einige außergewöhnliche Konsequenzen. Ein Ergebnis war, dass das Reich ein Parlament ohne Macht, hatte, politische Parteien ohne Zugang zu Regierungsverantwortung und Wahlen, deren Ergebnis nicht die Zusammensetzung der Regierung bestimmte. Dies war alles ganz anders – und noch viel weiter rückwärtsgewandt – als was es unter den deutschen Konkurrenten im Westen gab. Die Angelegenheiten des Staates verblieben in den Händen des Landadels, obwohl Deutschland zu einer Industriemacht geworden war. Um so mehr und mehr Menschen zu den industriellen, wissenschaftlichen und intellektuellen Erfolgen Deutschlands beitrugen, desto mehr fiel es auf, dass das Land von einer sehr kleinen Gruppe traditioneller Figuren regiert wurde – ländliche Aristokraten und militärische Befehlshaber –  an deren Spitze der Kaiser selbst. Dieses Missverhältnis wurde für das politische Bewusstsein des “Deutschtums” im Vorfeld des Ersten Weltkrieges von grundlegender Bedeutung.

Es war einer der größten Anachronismen der Geschichte und hatte zwei Auswirkungen, die uns hier direkt beschäftigen. Die Mittelklasse, politisch ausgeschlossen und dennoch bestrebt, ein gewisses Maß an Gleichheit zu erreichen, griff auf Bildung und Kultur zurück, also Schlüsselbereiche, in denen Erfolge erzielt werden konnte – Gleichheit mit der Aristokratie und Überlegenheit im Vergleich zu vielen Ausländern in einer wettbewerbsfähigen, nationalistischen Welt. “Hochkultur” war daher im Kaiserreich immer wichtiger als anderswo und das ist ein Grund, warum … sie in der Zeit von 1871 bis 1933 so gut gedieh. Aber dies gab der deutschen Kultur einen eigentümlich schizoiden Ton: Freiheit, Gleichheit und persönliche Unterscheidungskraft verblieben tendenziell im “Inneren” Heiligtum” des Individuums, während die Gesellschaft oft als eine ” willkürliche, oberflächliche und häufig feindliche Welt dargestellt wurde.”

Wilhelm II

Der zweite Effekt, der sich mit dem ersten überschneidet, war ein Rückzug in den Nationalismus, jedoch  in einen klassenbasierten Nationalismus, der sich gegen die neu geschaffene industrielle Arbeiterklasse (und den erwachenden Sozialismus) richtete, gegen Juden und nichtdeutsche Minderheiten. “Nationalismus wurde als eine Möglichkeit sozialen Fortschritt mit utopischen Möglichkeiten gesehen.”

Vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Massengesellschaft betrachtete die gebildete Mittelschicht Kultur als ein Netz stabiler Werte, die ihr Leben verbesserten, sie vom “Pöbel” (Freuds Wort) abhoben und insbesondere ihre nationalistische Orientierung verstärkte. Das “Volk”, ein semi-mystisches, nostalgisches Ideal wie ganz normale Deutsche einmal gewesen wären – ein zufriedenes, talentiertes, unpolitisches, “reines” Volk – war zu einem populären Stereotyp in Deutschland geworden. [32]

Es ist wohl fast unnötig zu erwähnen, dass solche “zufriedenen, unpolitischen und reinen” Menschen” niemals außerhalb der Vorstellung von übereifrigen Geschichtsprofessoren und rassistischen Journalisten existierten. Aber der Stereotyp “Volk” funktionierte und führte zu einer Art gegen Sozialdemokratie und Katholiken gerichteten Nationalismus, der nicht wirklich gegen andere Nationen gerichtet war, sondern gegen den “inneren Feind” – Liberale, Demokraten, Sozialisten, Katholiken, Juden und so weiter – gegen deren “Internationalismus” die preußischen säkularen und protestantischen kirchlichen Behörden nie müde wurden zu warnen. Es war im Wesentlichen ein Nationalismus der oberen Gesellschaftsschichten, der versuchte, die Unterstützung der bürgerlichen Mittelschicht gegen die verschiedenen Feinde der “Kultur“zu schüren, erhalten und einzubinden. Dieser Nationalismus des Zweiten Reiches lief fast auf eine Negation der Auswirkungen der Industrialisierung hinaus, der Moderne, in gewisser Weise sogar der Aufklärung. Sein Charakter blieb mittelalterlich.

Berlin, Unter den Linden, ca. 1900

Der Kern dieses “inneren” Nationalismus formte in den Jahren nach der Reichsgründung des Nukleus der “Völkischen Bewegung“, der wir – und die Welt – mehr oder weniger den Ersten und Zweiten Weltkrieg verdanken. Sie absorbierte die “blutige Romantik” der napoleonischen Zeit [siehe dazu einen Artikel von Elke Schäfer] und wurde von der Elite später als nützliche Idioten wahrgenommen und benutzt. Nicht umsonst hatten die idealisierten Darstellungen der “Germania”, unten zwei von Philip Veit, immer Schwerter in der Hand.

Als zum Beispiel eine „Deutsche Arbeiterpartei“ in Böhmen (d. h. technisch gesehen Österreich) vor dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde, war es nicht das Ziel dieser Partei, die Sache der Arbeiterklasse voranzutreiben, wie man naiverweise annehmen könnte, sondern den Schutz und Vorrang der Interessen deutscher Arbeiter gegenüber tschechischen oder mährischen Arbeitern sicherzustellen. Das deutsche Volk blieb indes ein politisches Mündel der alten Eliten, die absolut nicht gewillt waren, die kostbare Autorität aufzugeben, die sie nach den Schocks der Revolutionen von 1789 und 1848 und der napoleonischen Kriege gerade mal so wiedergewonnen hatten. Die Verfassung, die der Adel nach seinen Bedürfnissen und Ängsten 1871 maßschneiderte, konnte man in ihrer offensichtlichen Furcht vor Demokratie und Liberalismus mit gutem Grund anachronistisch nennen.

Denn den “zufriedenen, unpolitischen und reinen” Deutschen, die das offizielle Kaiserreich beschwor, ging es nicht gut, falls sie nicht gerade als Adelige geboren waren. Die deutsche Industrialisierung ging über Leichen – Bismarcks spätere Sozialgesetzgebung entstand nicht aus seinem Herzblut für die Leiden der Arbeiterklasse, sondern waren seine minimalen Zugeständnisse, die sozialistische Revolution zu verhindern. Es gab inoffizielle Sklaverei – die Schwabenkinder – und die Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse in den Großstädten waren unbeschreiblich schlecht. Zwischen 1870 und 1919 wanderten alleine 3.279.021 Deutsche nach den USA aus.

Kinderarbeit
Kinderarbeit

Der verfassungsrechtliche Rahmen des Deutschen Reiches … unterschied sich in wichtigen Punkten stark von dem Großbritanniens oder Frankreich, deren unterschiedlich strukturierte, aber relativ flexible parlamentarische Demokratien ein besseres Potenzial boten, den sozialen und politischen Anforderungen gerecht zu werden, die sich aus dem raschen wirtschaftlichen Wandel ergeben.

In Deutschland wurde das Wachstum des parteipolitischen Pluralismus, der sich im Reichstag manifestierte, nicht in parlamentarische Demokratie übertragen. Mächtige Interessen – große Grundbesitzer, … das Offizierskorps der Armee, die obersten Ebene der Staatsbürokratie, selbst die meisten Reichstagsparteien setzten ihre Blockade fort.

Der Reichskanzler blieb ein Angestellter des Kaisers, der ihn jederzeit ernennen oder entlassen konnte, unabhängig von den Kräfteverhältnissen im Reichstag. Die Regierung selbst stand über dem Reichstag, unabhängig von der Parteipolitik – zumindest in der Theorie. Wichtige politische Bereiche, insbesondere die außenpolitischen und militärischen Angelegenheiten, lagen außerhalb parlamentarischer Kontrolle.

Die Macht wurde – angesichts des zunehmenden Drucks nach radikalen Veränderungen – von den bedrängten Kräften der alten Ordnung eifersüchtig bewacht. Einige von ihnen, die zunehmend Angst vor der Revolution hatten, waren sogar bereit, über Krieg nachzudenken – als eine Möglichkeit, an der Macht festzuhalten und die Bedrohung durch den Sozialismus abzuwehren. [33]

Diese Bereitschaft war jedoch nicht auf Deutschland beschränkt: die meisten reaktionäreren Monarchien des Kontinents, insbesondere Russland, aber auch Italien, Spanien und einige Balkanländer, fürchteten die Sozialisten viel mehr als die Armeen der anderen Fürsten, mit denen man sich immer arrangieren konnte. Die Gründung der Sozialistischen Internationale (SI) erwies sich als Schreckgespenst der Monarchien. Aber was auch immer die wirkliche Bedrohung durch den Sozialismus oder irgend einer anderen modernen Entwicklung bedeuten mochte, das Zweite Reich personifizierte in gewissen Hinsichten, vor allem in seinen inneren Beziehungen, einen deutlich vormodernen Charakter – als hätte sich seit 1806 nichts verändert. Man sieht es am deutlichsten in …

… der föderalen Struktur des Reiches, die den Rechten und Befindlichkeiten insbesondere der süddeutschen Bundesländer Rechnung zu tragen versuchte. Die Gründung einer badischen Gesandtschaft in Berlin und einer preußischen in Karlsruhe (der Hauptstadt von Baden) ist ein Hinweis auf den bemerkenswert “unfertigen” Charakter der Struktur des Reiches – es ist, als wäre die Entwicklung hin zu einer modernen, einheitlichen Verfassungsstruktur auf halbem Weg stehengeblieben.

Aber das föderale System des Kaiserreichs ging noch weiter: 1894 wurden auch in München und Stuttgart badische Gesandtschaften eröffnet und etwas später schlug Russland sogar vor, einen russischen Militärattaché in Bayern zu stationieren. Diese Botschaften waren nicht bloß Institutionen aus Höflichkeit, sondern repräsentierten einen wichtiger Bestandteil der politischen Struktur des Reiches, und sie waren ein Hinweis darauf, dass das kleinere Deutsche Reich (ohne Österreich), durch Krieg und Diplomatie geschmiedet, in vielerlei Hinsicht sogar nach seiner sogenannten Vereinigung mit außenpolitischen Methoden regiert wurde.

Deutsches Reich 1871 - 1918
Deutsches Reich 1871 – 1918

Ein verwandtes Problem, über das sich die badischen Gesandten häufig beschwerten, war der Fortbestand und das konstante Wachstum des Partikularismus, insbesondere in Bayern. Der aufmerksame badische Gesandte in München, Baron Ferdinand von Bodman, berichtete im Dezember 1895 aus der bayerischen Landeshauptstadt, dass “unter dem Einfluss des alles beherrschenden Hofes und der österreichisch-klerikalen (Katholischen) Partei, alle Maßnahmen … auf den Aufbau Bayerns als autarkem Staat … gerichtet sind.“ Vor allem in den beiden bayerischen Armeekorps, so Bodman, „werden das Reich und der Kaiser, sein Kopf, so weit wie möglich eliminiert.”

Graf Anton Monts, der preußische Gesandte in München, war überzeugt, dass “ein Prozess der Distanzierung von dem Reich stattfände”, so berichtete Bodman weiter. Ebenso beobachtete der kluge Arthur von Brauer, der  viele Jahre unter Bismarck gedient hatte, im Mai 1893, dass der bayerische Partikularismus enorme Fortschritte mache. Er schrieb an den Großherzog: ” … dass unter dem Einfluss der altbayerischen Partei die monströse Idee immer mehr an Boden gewinnt, dass Süddeutschland unter die besondere Hegemonie Bayerns gestellt werden sollte, so wie Norddeutschland unter die von Preußen. ” 1898 fühlte sich der Großherzog von Baden selbst gezwungen, die Reichsregierung vor einer Annäherung an die katholische Zentrumspartei zu warnen, da es das Ziel dieser Partei war “das heutige Reich zu zerstören, um eine neue Bundesverfassung mit einem katholischen Kopf an der Spitze zu schaffen.“

Ob sie nun auf einer nüchternen Einschätzung objektiver Umstände beruhten oder letztendlich nur in psychologischer Hinsicht erklärbar sind, sind solche Angstkomplexe doch von allergrößter Bedeutung für die Beurteilung der politischen Kultur des wilhelminischen Deutschland. [34]

Der Kaiser und seine Söhne

Diese Analyse von John Röhl identifiziert den einen psychologischen Faktor in der Politik des neuen Imperiums, aber es gab noch eine andere, unausgesprochene, psychologische Implikation. Das Reich, das Bismarck eine letztendlich “über eine stark fragmentierte Gesellschaft gelegte” Konstruktion genannt hatte, war eine Formel geboren aus der Notwendigkeit, der spezifischen deutschen Situation, vor allem ihrem politischen Partikularismus, Rechnung zu tragen; somit musste Nationalismus und Zusammenhalt von außen her beigebracht bzw. geschaffen werden, und zwar von oben nach unten statt von unten nach oben und durch die Menschen selber. Ausschlaggebend war für Bismarck jedoch, dass das Ergebnis akzeptabel für seinen König sein würde, anders als die Krone von 1849. Im Wesentlichen jedoch wurden einfach die neuen Kleider des Kaisers über das gleiche, alte und autoritäre preußische Regime gehängt.


Fußnoten: [29] [30] [31] Heinrich Abeken, Otto von Bismarck – Emser Depesche siehe Wikipedia

[32] Watson, Peter, The German Genius, Harper Collins 2010, ISBN 978-0-06-076022-9, S. 112 – 113

[33] [34] Röhl, John C.G., The Kaiser and his Court, Cambridge University Press, ISBN 0-521-56504-9, S. 112 – 113 und 153 – 154

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Die Gotenkriege

[Weiterführende Links zu diesem Artikel: THEODORA / PROCOPIUS – THE SECRET HISTORY / THE END OF THE LEGIONS und CLOVIS – THE RISE OF THE FRANKS (englische Versionen auf “History of the West“]


Chlodwig war der erste Mann, den man vernünftigerweise “König der Franken” (Rex Francorum) nennen konnte. Da er in seinem Wunsch nach geografischer Expansion seines Reiches nie zögerte, kann Chris Wickham berichten (in “The Inheritance of Rome”, Viking Books 2009, ISBN 978-0-670-02098-0, S. 92), dass er, im Jahre 507, “die Westgoten angriff und besiegte, ihren König Alarich II in der Schlacht von Vouillé tötete und sie praktisch aus Gallien vertrieb (sie konnten nur die Provinz Languedoc an der Mittelmeerküste halten). Die Burgunder konnten sich noch eine Zeitlang behaupten, aber die Söhne Chlodwigs griffen sie 520 ebenfalls an und übernahmen ihr Königreich 534.“ Es dauert nicht lange, bis Chlodwig von Kaiser Anastasius die Ehre des römischen Konsuls annahm  – als des Kaisers Zeichen der Unterstützung seiner katholischen Verbündeten. Aber Clovis starb nur vier Jahre nach Vouillé [AD 511] und Italien blieb für die Franken unerreichbar.

Chlodwig – von François Louis Dejuinne

Diese besondere Trophäe ging an einem zunächst eher unbekannten Krieger, der über die Ostgoten herrschte, einem Volk von vielleicht hunderttausend Seelen, welches an der mittleren Donau lebte. Dieser Herzog namens Theoderich erhielt eines Tages eine Botschaft aus Konstantinopel, von Kaiser Zeno, des Nachfolgers von Anastasius, der sich endlich des aufmüpfigen Emporkömmlings Odoaker in Italien entledigen wollte. In der Nachricht lud Zeno die Ostgoten ein, Italien in seinem Namen wieder für das Reich zu gewinnen und Odoakers Regime zu beenden. Theoderich akzeptierte und der größte Teil der Nation machte sich daran, aus ihren pannonischen Weiden und illyrischen Wiesen in Richtung des sagenumwobenen Italia zu ziehen.
Zeno jedoch bekam jedoch mehr als er erwartet hatte; viel zu spät erkannte er, dass die kostbaren italienischen Provinzen jetzt in Händen waren, welche die Aufgaben des Regierens viel besser wahrnahmen als die des vergleichsweise einfachen Soldaten Odoaker – oder seine eigenen.

Theoderich von Fabrizio Castello

Theoderichs Gaben waren weniger intellektueller Art, sondern ein fast untrügliches Gespür für politische Machbarkeit, Gerechtigkeit, Fairness, Ehre und Ehrlichkeit. In den mörderischen Jahrhunderten der Völkerwanderung ist sein Name einer der wenigen, für die die Benennung „der Große“ vielleicht gerechtfertigt ist. Seine Goten rückten schnell auf Odoaker zu, dem keine andere Wahl blieb, als Sicherheit in Ravenna zu suchen, wo er einer gotischen Belagerung fast drei Jahre lang widerstehen konnte. Doch in der Ausübung seiner Pflicht begang Theoderich, mit seiner eigenen Hand (so wird es gesagt), das einzige Verbrechen seines Lebens. Als, im März 493, die Situation für beide Parteien unerträglich wurde, formulierte eine diplomatische Mission den Vorschlag, dass Odoaker und Theoderich Italien und einige Nachbarprovinzen [Sizilien, Dalmatien, Noricum und Bayern] gemeinsam regieren sollten, wie einst die Konsuln die frühe Republica Romana regiert hatten. Edward Gibbon berichtet uns nun, was aus der famosen Idee wurde:

Ein Friedensvertrag wurde vom Bischof von Ravenna ausgehandelt; die Ostgoten wurden in die Stadt gelassen und die verfeindeten Könige stimmten zu – unter der Sanktion eines Eides – mit gleichberechtigter Autorität über die Provinzen Italiens zu regieren. Den Ausgang einer solchen Vereinbarung kann man sich leicht denken. Nach einigen Tagen, die dem Anschein von Frieden und Freundschaft gewidmet waren, wurde Odoaker, in der Mitte eines feierlichen Banketts, durch die Hand, oder zumindest auf Befehl seines Rivalen, ermordet.
Geheime Aufträge waren vorher erteilt worden; die treulosen und habgierigen Söldner Odoakers wurden im selben Moment und ohne Widerstand allgemein massakriert; und die Übernahme des königlichen Titels durch Theoderich wurden von den Goten ausgerufen, mit der säumig erteilten, zurückhaltenden, und mehrdeutigen Zustimmung des Kaisers des Ostens. Die Reputation Theoderichs stieg bald rapide an, im Vertrauen auf dem sichtbaren Frieden und den Wohlstand einer Regierungszeit von 33 Jahren, der einhelligen Wertschätzung seiner eigenen Zeit und der Erinnerung an seine Weisheit, seinen Mut, seine Gerechtigkeit und Menschlichkeit, die sich tief in den Köpfen der Goten und Italiener manifestierte. [Theoderich I, 5. März AD 493 bis 30. August AD 526].”

Liebig Tradecard S824 - Invasion of the Ostrogoths (Liebig's Beef Extract The Migration of People Belgian issue, 1905 Theodoric, leader of the Ostrogoths
Liebigs Fleischextrakt Tradecard S824 – Invasion der Ostgoten (Liebig’s Beef Extract – The Migration of People) Belgische Ausgabe, 1905 (Theoderich, Anführer der Ostgoten)

[Weiterführende Links zu diesem Artikel: THEODORA / PROCOPIUS – THE SECRET HISTORY / THE END OF THE LEGIONS und CLOVIS – THE RISE OF THE FRANKS (englische Versionen auf “History of the West“]

“Zenos wachsende Ängste erwiesen sich als völlig gerechtfertigt, als nach dem Tod Alarichs des Zweiten in Vouillé, Theoderich mit der Regentschaft über das Reich der Westgoten in Spanien betraut wurde – als Vormund von Eurich, Alarichs ältestem Sohn [hier scheint Gibbon einiger Verwirrung zu unterliegen, für Alarichs Söhne siehe Amalarich]. Sollte es Theoderich gelingen die Goten wieder zu vereinen und sie gegen Konstantinopel zu führen, wäre der Fortbestand des Oströmischen Reiches ernsthaft in Gefahr. Doch Theoderich strebte nicht nach weiteren Eroberungen, die, wie er glaubte, nicht sinnvoll mit der begrenzten Anzahl von Truppen, die ihm zur Verfügung standen, kontrolliert werden könnten. Stattdessen betonte er in den Botschaften, die er an seine germanischen Nachbarn richtete, die Notwendigkeit der Einheit gegen ihre Feinde; das heißt, gegen Byzanz.”

Theoderich hatte diese Feindschaft richtig diagnostiziert, was schließlich zu seinerseits unbeabsichtigten Folgen für das Ostreich führte. Deshalb werden wir einen detaillierteren Blick auf die Ereignisse des zweiten Quartals des sechsten Jahrhunderts werfen. Die wesentlichen Veränderungen der politischen Landkarte rund um das Mittelmeer in der Generation nach Zeno und Theoderich wurden in diesen Jahrzehnten von Kaiser Justinian provoziert, dessen kaiserliche Reconquista, könnte man argumentieren, gegen die eigentlichen Interessen des Reiches verstieß. Theoderich hatte den verbliebenen Kernprovinzen des Westens Stabilität gebracht; Stabilität, von der Justinian hätte profitieren können, anstatt sie zu gefährden. Chris Wickham erklärt:

“Theoderich regierte Italien von Ravenna, der westlichen Hauptstadt, aus, mit einer traditionellen Verwaltung – einer Mischung von römischen Senatoren und Karriere-Bürokraten; er respektierte (wie Odoaker) den römischen Senat, und unterzog sich einem feierlichen Besuch der Stadt im Jahre 500, mit formellen Besuchen in St. Peter, dem Senatsgebäude, und dem Kaiserpalast auf dem Palatin, wo er über Spiele gebot wie jeder andere Kaiser. … Das Verwaltungs- und Steuersystem hatte sich kaum verändert; dieselben traditionellen Landbesitzer dominierten die Politik, neben einer neuen (aber zum Teil romanisierten) gotischen bzw. oder ostgotischen militärischen Elite.”

Das Ostgotische Italien war das „römischte“ alle germanischen Königreiche im Westen und hätte leicht so bleiben können. Tom Holland (“In the Shadow of the Sword”, Doubleday Books 2012, ISBN 978-0-385-53135-1) beschreibt die Wirkung von Theoderichs langer Regierung folgendermaßen:

Ob gegenüber den Massen im Forum, beim Abschlachten von barbarischen Haufen jenseits der Alpen, oder durch den Bau von Schlössern, Aquädukten und Bädern, demonstrierte er glorreich, wie ‚römisch‘ ein König von ‚Foederati‘ (Verbündeten) wirklich sein könne. Zur Zeit seines Todes 526 hatte er länger als Meister Italiens regiert als jeden Caesar, mit Ausnahme von Augustus selbst. Deshalb scheint es den Köpfen der meisten Italiener kaum aufgefallen zu sein, dass sie nicht mehr zu einem römischen Reich gehörten.“

Ostgotische Fibula (Germanisches Nationalmuseum Nuremberg)
Ostgotische Fibula (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg)

Doch das Erscheinen neuer Charaktere auf der Bühne von Byzanz änderte das politische Bild bald vollständig – im Jahr 527, ein Jahr nach Theoderichs Tod, fiel die Macht des Ostreiches dem neuen Kaiser Justinian zu, einem Neffen des früheren Kaisers Justin. Unterstützt wurde dessen Regierung bald von drei berühmten oder berüchtigten (sagt Prokop) Mitstreitern: der Kaiserin Theodora, des Generals Belisarius und des talentierten Eunuchen Narses.

Mosaik von Justinian in der Basilika San Vitale in Ravenna

Justinian, den die pflichtvollen Anpreisungen seiner Höflinge bald als „den Großen“ bezeichneten, war der Sohn eines bulgarischen Hirten, der seine Herde irgendwo in der Nähe der heutigen Sofia grasen ließ. Der Jungspund, noch unter der Vormundschaft seines Onkels Justin, fand schließlich nach Konstantinopel, cum Onkel und zwei weiteren Dorfbewohnern, die sich bei ihrer Ankunft in die Legionen eintrugen. Der Onkel erwies sich als fleißiger, wenn auch nicht außerordentlich begabter Soldat, aber in einer Zeit, in welcher durchschnittliche Leistung, gemessen an alten Standards, als Heldentum galt, wurde er stetig befördert: zum Tribun, dann zum Senator; und schließlich zum Befehlshaber der Palastwache. Er behielt nicht nur Leben und Glück anlässlich des heiklen Anlasses des Todes von Anastasius im Jahr 518, sondern ging aus der momentanen Verwirrung im Besitz des kaiserlichen Diadems und des Purpurs hervor – auf welche Anastasius in der vorigen Nacht verzichten musste.

Justins Alter, anlässlich dieser wichtigsten Beförderung seines Lebens, war schon achtundsechzig, und da er ein tapferer, aber nicht besonders gebildeter Mann war und regierte, ohne des Schreibens oder Lesens mächtig zu sein, hatte er sich in Angelegenheiten des Reiches immer auf dem Rat seines Quästors Proclus verlassen und seinen Neffen Justinian als Thronfolger herangezogen.

Ein paar Jahre vergingen ohne bemerkenswerte Ereignisse, bis eine alte Wunde, die beharrlich eiterte, trotz der Mobilisierung aller Ärzte der Hauptstadt Justin seines Lebens beraubte. Sein letzter Akt zur Festigung des Staates war, in Gegenwart der Senatoren und Exzellenzen des Reiches, das Diadem der Kaiserwürde auf den Kopf seines Neffen zu drücken, der zur Zeit dieses bewegenden und nützlichen Anlasses 45 Jahre alt war. Die anschließende Herrschaft des Kaiser Justinian wird ausführlich in den Werken des Historikers Prokop von Caesarea beschrieben, der als Patrizier und Senator während Justinians Regierungszeit in Konstantinopel lebte. Er hat uns mit umfassenden Beschreibungen der Tätigkeit seines Souveräns als Gesetzgeber, Baumeister (vor allem von Kirchen), Kriegsherr – im Zusammenhang mit den Feldzügen seiner Generäle – und Fluch der Menschheit versorgt.

Als letzteren besonders – in seiner berühmten Geheimgeschichte, den „Anekdota“ – beschrieb Prokop ausführlich den schändlichen und schädlichen Einfluss der berühmten Theodora, von Justinian von ihrer vorherigen Tätigkeit (beliebteste Stripperin und teuerste Dirne der Hauptstadt), zur First Lady befördert, zur Kaiserin und, post mortem, Heiligen. Die Geschichte ist einfach zu saftig um ignoriert zu werden und hier ist Tom Hollands Version:

“Sogar ihre erbittertsten Kritiker – von denen es viele gab – mussten zähneknirschend zugeben, dass Theodora, Gefährtin und Geliebte des Kaisers, eine Frau von außergewöhnlichen Fähigkeiten war. Gewitzt, weitsichtig und kühn, rangierte sie, nach Ansicht von Justinians boshaftesten Kritikern, als weitaus größerer Mann am Hofe als ihr Mann es jemals tat.
Man munkelte, dass sie, auf der Höhe der tödlichen Ausschreitungen von 532, des Nika-Aufstands, als Konstantinopel in Flammen aufging und Justinian nervös die Flucht erwog, das kaiserliche Rückgrat stärkte, indem sie in einer herrlichen Schau von Überheblichkeit erklärte, dass „Purpur das schönste Leichentuch“ wäre.

Stahl solcher Qualität in einer Frau war beunruhigend genug für die römische Elite; aber schlimmer noch waren die Ursprünge der Kaiserin. Wie eine exotische Blüte aus dem Dung emporwächst, so hatte die Kaiserin ihre Wurzeln, so wurde es dunkel geflüstert, tief im Dreck. Tänzerin, Schauspielerin und Komikerin wäre sie gewesen – sie hätte jedoch, so wurde gemunkelt – schon lange vor der Pubertät – mit Sklaven und Mittellosen viel anrüchigere Fertigkeiten geübt …

Ihre Vagina, so hieß es, könne genauso gut in ihrem Gesicht sitzen; und in der Tat so groß war die Verwendung, die sie für alle ihre drei Öffnungen hatte, dass „sie sich oft beschwerte, dass sie nicht auch in ihren Brustwarzen Öffnungen hatte.“ Den Gang-Bang, der sie ermüden würde, hat es nie gegeben. Das Skandalöseste, so wurde getuschelt, war ihr erotisches Markenzeichen – eine Boden-Show, die sie liegend auf ihrem Rücken sah, ihre Genitalien mit Getreide bestreut, und darauf wartend, dass Gänse die Krumen einen nach dem anderen mit ihren Schnäbeln herauspickten. Das waren die Talente, so höhnten ihre Kritiker, die für sie die vernarrte Hingabe des Herrn der Welt gewonnen hatte. Doch unterschätzte solcher Spott sowohl den Mann als auch die Frau.”

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Theodora by Edouard Frederic Wilhelm Richter
Theodora, von Edouard Frederic Wilhelm Richter

In unserem Zusammenhang ist jedoch die Außenpolitik – die Vorteile und Nachteile Justinians Eroberungspolitik – von größerem Interesse als des Kaisers private Vergnügungen. Er hatte das Glück – das Empire im Nachhinein vielleicht die Bürde – sowohl das militärische Genie als auch die zivile Unentschlossenheit des großen Generals Belisar unter seinem Befehl zu haben.

Es war Justinians Herzenswunsch, die verlorenen Provinzen des Westens unter römische Herrschaft zurückzubringenden: Britannia, Gallia und Hispania vielleicht später, aber so bald wie möglich Afrika, wegen seines Getreides und Italien, das ursprüngliche Kleinod des Imperiums. Aber andere Probleme, das heißt, die ewigen Perserkriege, hatten Vorrang. Die östliche Grenze des Reiches lag zwar seit Jahrhunderten fest am oberen Euphrat, aber die grenzenlosen Zugänge quer durch die arabische Wüste konnten unmöglich effektiv geschützt werden.

Könige der Parther und Perser und ihre Armeen hatten die Grenzen Roms regelmäßig überschritten – des Öfteren auch ungestraft. Ab dem vierten Jahrhundert hatten die Römer, in einer Zeit militärischen Verfalls, häufig Gegenangriffe durch finanziellen Unterstützung der friedliebenden persischen Könige ersetzt; im Jahr AD 532, beispielsweise, nach fünf Jahren Grenzkrieg, belief sich Justinians Zuwendung zum persischen Schatzamt auf 11.000 Pfund Gold – diese Beihilfe sollte, wie im zugrundeliegenden Vertrag angegeben, nichts weniger als einen ewigen Frieden zwischen den beiden Reichen bewirken.

Wie die Zukunft zeigte, hielt die Ewigkeit im Durchschnitt circa zehn Jahre, außer sie wurde durch regelmäßige extrakurrikuläre Zuwendungen verlängert. Aber der Frieden von 532 (der bis 540 hielt) erlaubte Justinian den ersten Schritt in den Westen. Sein Instrument war ein General, dessen militärischen Taten ihm Vergleiche mit Caesar und Alexander bescherten, dessen zivile Unsicherheit ihn aber zu den Schwachen und Zögerlichen dieser Erde zählen lässt.

Der Soldat Belisarius war – nicht weit von wo des Kaisers Vater seine Schafe geweidet hatte – auf den Ebenen von Thrakien geboren. Seine militärische Laufbahn verlief gleichmäßig und erfreulich und gipfelte in dem Befehl der privaten Wachen des Prinzen Justinian. Als der Prinz in die königliche Würde erhoben wurde, wurde der Soldat zum General befördert.

Belisarius - François André Vincen
Belisarius – François André Vincen

Als Justinian einen Kommandanten suchte, dem er den ersten Schritt zum Wiederaufbau der Herrlichkeit des Reiches anvertrauen konnte, war er zuerst nicht in der Lage, einen geeigneten Kandidaten zu finden. Endlich, vielleicht aufgrund des intimen Umgangs den Belisars Frau Antonina mit der Kaiserin Theodora pflegte, wurde ihr Mann mit der Führung des glorreichen Unternehmens betraut. Aufgrund der mangelnden Bereitschaft seines Souveräns, beträchtliche Summen in die Sanierung des Reiches zu investieren, wurden Belisar nur eine kleine Flotte und ein paar Legionen gegeben, um Afrika den Vandalen zu entreißen.

Gegen alle Chancen und Widerstände gelang die ehrgeizige Mission: es war der erste Feldzug in dem Belisarius seine außergewöhnliche Führungskraft bewies. Aber um das Defizit in der Reichskasse zu ersetzen, das in die Ausrüstung von seiner Armee gegangen war, verfolgte ein „räuberischer Minister der Finanzen“ die Spuren Belisars und die unglückliche Provinz hatte nicht nur die regulären Steuern zu bezahlen, sondern dazu noch eine besondere „Befreiungsgebühr“.

Die Vandalen hatten die alten Steuerregister zerstört und als neue geschaffen wurden, vergaßen die Quästoren nicht, eine zusätzliche Gebühr hinzuzufügen, um sich eine gerechte Entschädigung ihrer eigenen Arbeit zu sichern. Entvölkerung folgte dem finanziellen Ruin und Edward Gibbon zitiert Prokop, der auf seiner ersten Landung in Afrika mit Belisar in AD 534 „die Bevölkerungsdichte der Städte und Landes bewunderte, welche bewandert waren in allen Arbeiten des Handels und der Landwirtschaft. In weniger als zwanzig Jahren hatte sich die geschäftige Szene in eine stille Einsamkeit gewandelt; die reichen Bürger waren nach Sizilien und Konstantinopel geflüchtet; und der geheime Historiker [Prokop] schildert als Tatsache, dass fünf Millionen Afrikaner Opfer der Kriege und der nachfolgenden Regierung des Kaisers Justinian wurden.

Obwohl Prokop nicht über die allgemeine Tendenz der Historiker der Antike erhaben war, ihre Zahlen zu übertreiben, bleibt als Tatsache, dass der Reichtum von Afrika Provincia von nun an ständig zurückging und das Gebiet seinen früheren Status als Kornkammer des Reiches verlor. Belisar war kein Politiker und es darf bezweifelt werden, ob er sich der gefährlichen Nebenwirkungen seiner Eroberung bewusst war. Er musste sich einer anderen Ablenkung zuwenden.

Dass ein Sieg in der Ferne, insbesondere wenn nicht unbedingt erwartet, ein gewisses Maß an Misstrauen am Hofe eines zweifelnden Monarchen auslösen kann, ist vielleicht ein recht häufiges Vorkommnis. Kaum war die Nachricht von dem Sieg über die Vandalen in Byzanz eingetroffen, als die subalternen Offiziere, die es bevorzugt hatten, in der Sicherheit der Hauptstadt zu bleiben anstatt die Gefahr oder die Herrlichkeit des Schlachtfeldes zu umwerben, begannen den Kaiser über das zuverlässige Gerücht aufzuklären, dass Belisarius die Absicht hegte sich zum König von Afrika zu erklären.

Als der misstrauischen Monarch bei seinem General anfragen ließ, ob er bald nach Konstantinopel zurückkehren würde oder durch dringende Geschäfte in Afrika aufgehalten sei, verstand Belisar die Stimme seines Herrn und erkannte Vorboten von Justinians Rachsucht. Er erschien tout de suite in Konstantinopel, wo ein dankbarer und freudig erregter Justinian ihm einen Triumphzug spendierte, den ersten für einen Nicht-Kaiser seit den Tagen des Tiberius.

Ein optimistischer Justinian plante sodann den nächsten Schlag und eine etwas größere Flotte und Armee wurde für Belisars anschließende Aufgabe präpariert: Italien und Dalmatien aus den Händen der Arianer zu befreien, das heißt, aus den Händen der ostgotischen Ketzer. Dass sein Vorgänger Zeno die Goten persönlich nach Italien eingeladen hatte, wohl wissend ihres Glaubens, entschied sich Justinian zu übersehen.

Die Gotenkriege standen immer, was oft übersehen wird, in direktem Zusammenhang mit der Lage an der persischen Front, wo der Krieg nie aufhörte. Weder Belisar noch Justinian waren in ihren Entscheidungen völlig frei – die verfügbaren militärischen Mittel gegen die Goten hingen immer von der Situation am Euphrat ab

Tatsächlich ist es schwer zu sagen und die Meinungen der Historiker gehen darüber auseinander, ob die Wiederherstellung des Weströmischen Reiches Justinians Ziel per se war oder die Vernichtung der Ketzer, oder ob beide Motive sich ergänzten. Er hatte theologische Probleme in seinem eigenen Haus, denn Theodora war eine glühende Monophysitin, und um des häuslichen Friedens willen musste der Kaiser dies – und damit auch ihre religiöse Gemeinschaft – tolerieren; ein Zugeständnis welches seinem ausgeprägten Katholizismus wohl nicht leichtfiel. Einen Blick in die damaligen Verwirrungen der allerchristlichsten Lehre stellt uns hier Tom Holland zur Verfügung:

Im Jahre 451, ein Jahr nach dem Tod von Theodosius II, wurde in Chalcedon, direkt gegenüber dem Kaiserpalast auf der anderen Seite der Meerenge, das bisher größte ökumenischen Konzil der Kirche aufgerufen, welches von nicht weniger als sechshundert Bischöfen besucht wurde. Das Ziel der Konferenz war es – ganz bewusst – die Tendenz zu zügeln, dass lokale christliche Gemeinden ihre eigene theologische Unabhängigkeit entwickelten; identisch mit den Zielen der Regierung (welche die gleichen waren wie Konstantins Absichten anlässlich des Konzils von Nicäa) – eine Zügelung der Vorliebe für lokales Gezänk; diejenigen mundtot zu machen, die nach Ansicht der Autoritäten nicht nur die Einigkeit der Kirche, sondern auch die Sicherheit des römischen Volkes bedrohten.

Auf dem Spiel stand für die Teilnehmer jedoch nicht mehr die Beziehung des Sohns zum Vater – ein Problem das Nicäa längst triumphierend gelöst hatte – aber ein nicht minder großes Mysterium: die Identität des Sohnes selbst. Wie, wollten Christen wissen, hatten seine göttliche und menschliche Natur koexistiert? Waren sie vermischt, wie Wasser und Wein in einem Becher, um eine „mone physis“ zu bilden –einen ‚einzigen Körper‘? Oder hatten die beiden Naturen Christi tatsächlich in seinem irdischen Körper wie ganz verschiedene Einheiten getrennt gelebt, wie Wasser und Öl? Hatten beide – sein menschliches als auch sein göttliches Wesen Geburt, Leiden und Tod erlebt, oder war es die widerlichste Gotteslästerung zu erklären, wie es einige Bischöfe taten, dass Gott selbst – in personam – „für uns gekreuzigt“ wurde?
Knorrige Fragen – nicht leicht zu lösen. Das Konzil von Chalcedon tat jedoch sein Bestes und ein entschlossener Mittelweg wurde proklamiert. Das gleiche Gewicht wurde sowohl den göttlichen als auch den menschlichen Elementen Christi zuerkannt, welcher „zugleich wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch war.“ Diese Formel, von einem Bischof aus Rom entwickelt und mit freudiger Zustimmung des Kaisers publiziert, schien die Christen sowohl des Westens als auch denen Konstantinopels eminent vernünftig – so sehr, dass nie wieder versuchen würden sie zu ändern oder aufzuhebe
n.

In der Praxis jedoch wirkte das Ergebnis des Rates gegen die Monophysiten und zugunsten einer katholischen Kirche die – mit Unterstützung des Kaisers – die Verfolgung Andersgläubiger intensivierte. Während die Privatsphäre seines Palastes Justinian religiöse Toleranz erlaubte und ihn zur Mäßigung in der Frage der monophysitischen Abweichler drängte, forderte das öffentliche Bekenntnis der Goten und Vandalen zum Arianismus nicht nur seinen katholischen Glauben heraus, sondern indirekt auch seine weltliche Autorität. Belisar wurde herbeigerufen und erhielt seinen zweiten Befehl: nicht nur wieder Italia, die Herrlichkeit des Reiches, und Rom, sein Kleinod, wieder dem Kaiser zuzuführen, sondern auch Millionen von Seelen aus der religiösen Unterdrückung durch ihre verirrten gotischen Meister zu befreien.

Das Ziel der neuen Offensive, das ostgotische Italien sowie seine Anhängsel, hatte sehr unter dynastischen Komplikationen nach des großen Königs Tod gelitten, und „Machtkämpfe zwischen Theoderichs Erben zwischen 526 und 536 führten zu einer schweren Entfremdung zwischen der Regierung und Teilen der aristokratischen Elite, von denen viele in Konstantinopel Zuflucht suchten. Belisars zweite westliche Kampagne, begonnen im Jahre 536, wurde ein weiterer Erfolg, so schien es – er schlug gotische Armeen bei drei verschiedenen Gelegenheiten und deren Macht verminderte sich rapide, obwohl sie im Besitz einiger weniger Stützpunkte blieben.

Die Nachricht von Belisars Rückeroberung Italiens verbreitete sich rasend schnell durch das Reich – und fütterte wiederum Justinians Misstrauen. Der Held wurde ein zweites Mal nach Hause gerufen, aber brachte bei seiner prompten Rückkehr das königliche Paar der Ostgoten mit (Witichis, einen Mann des Militärs und seine Frau Matasuntha, Theoderichs Enkelin – als seine Gefangenen oder Gäste), die einen umfassenden Vertrag unterzeichneten. Die Vereinbarung verpflichtete die Goten in Zukunft zu unbedingtem Gehorsam gegenüber dem Kaiser und führte eine große Anzahl ihrer Jugendlichen den Legionen zu. Eine Lieferung von Geiseln substantiierte, wie es Brauch war, die Gültigkeit des Abkommens.

Aber da „die Eifersucht des byzantinischen Hofes Belisar nicht die vollständige Eroberung Italien erlaubt hatte … belebte seine plötzliche Abreise den Mut der Goten aufs neue [AD 540].“ Was als nächstes passierte, musste Justinians aufs Höchste verdrießen. Ungefähr eintausend gotische Krieger in der Stadt Pavia erhielten Nachrichten aus einer anderen kleinen Garnison, die noch Verona hielt und von einer weiteren, die noch Tirol kontrollierte. Die byzantinische Armee war, nach der Abfahrt Belisars, dem Befehl von elf gleichrangigen Generälen unterstellt worden und die Katastrophe, die eine solche Politik bald verursachen würde, kann man sich unschwer vorstellen.

Boten aus den verbliebenen gotischen Garnisonen in Italien trafen sich inzwischen ungestört mit ihren Kameraden, die noch die nördlichen Grenzen der Donau und die Alpen bewachten, und es dauerte nicht lange den Krieg, den Byzanz gewonnen glaubte, neu zu entfachen. Das Banner der gotischen Monarchie wurde von dem jungen Baduila, genannt Totila, wiederbelebt, der im Frühjahr 542 das vereinigte (überlegene) Heer der römischen Feldherren Constantianus und Alexander in der Schlacht von Faventia vernichtend schlug (Prokop spricht von 5000 Goten gegen 12000 Römer). Seine Sache profitierte danach stark von der Habsucht und den unerhörten Methoden des kaiserlichen Fiskus. Edward Gibbon vergleicht gotische Tapferkeit und byzantinische Korruption in der Tradition von Tacitus:

Saint Benedict receiving Totila, King of the Ostrogoths
Sankt Benedikt empfängt Totila, den neuen König des Ostgoten

Der schnelle Erfolg von Totila kann zum Teil auf den Abscheu zurückgeführt werden, den drei Jahre der Erfahrung oströmischer Verwaltung in den Gefühlen der Italiener ausgelöst hatte. Am Befehl oder zumindest im Namen eines katholischen Kaisers war der Papst Silverius, ihr geistiger Vater, seiner römischen Kirche entrissen worden und auf einer verlassenen Insel verhungert – oder ermordet worden.

Die Tugend und Mäßigung Belisars wurden von den – verschiedenen oder einheitlichen – Lastern von elf Generälen abgelöst, die in Rom, Ravenna, Florenz, Perugia, Spoleto, usw. ihre Autorität zum Genuss von Lust und Habsucht missbrauchten. Zur Verbesserung ihrer finanziellen Situation wurde Alexander verpflichtet, ein subtiler Schreiber, der lange den Betrug und die Unterdrückung, welche in byzantinische Schulen gelehrt wurden, praktiziert hatte, und dessen Spitznamen „Psalliction“ (die Schere), ihm aufgrund des Geschickes verliehen worden war, mit dem er die Größe der Goldmünzen reduzierte, ohne ihre Form zu sehr zu verunstalten. Anstelle die Wiederherstellung des Friedens und der Wirtschaft zu fördern, erhob er schwere zusätzliche Abgaben auf die verbliebenen finanziellen Mittel der italienischen Bevölkerung.

Diejenigen Neubürger Justinians, die dem Steuereintreiber entkamen, wurden Opfer der unregelmäßigen Besoldung der Soldaten, die, von Alexander betrogen und verachtet, ihr Heil in hastigen Expeditionen nach Reichtum oder Lebensmitteln suchten, und so die Bewohner des Landes dazu brachten, ihre Befreiung durch die Tugenden eines Barbaren zu erwarten oder zu erflehen.

Totila war keusch und gemäßigt; und niemand wurde getäuscht – weder Freund noch Feind – der auf seinen Glauben und seine Gnade baute. Den Weingärtnern und Bauern Italiens gab der Gotenkönig die willkommene Zusicherung, dass, sollten sie ihre wichtigen Arbeiten weiterhin verrichten, sich darauf verlassen könnten (gegen die Zahlung der üblichen Steuern), durch seine Tapferkeit und Umsicht von den Verheerungen des Krieges bewahrt würden. … Römische Gefangene und Deserteure wurden durch den Dienst an einem liberalen und höflichen Gegner angelockt; Sklaven wurden durch das feste Versprechen angezogen, dass sie niemals ihren ehemaligen Herren ausgeliefert würden; und aus den tausend Kriegern von Pavia wurde, unter der gleichbleibenden Bezeichnung Goten, unmerklich ein neues Volk im Lager Totilas.

Es ist offensichtlich, wo Gibbons Sympathien liegen, sondern, in der Tat, „die meisten der nichtgotischen Italiener betrachteten die Armeen Justinians bestenfalls neutral.“ Die Pro-Belisar Fraktion des Hofes konfrontierte nun den Kaiser mit dem Argument, dass nur der Rückruf des Helden den erneuten gotischen Aufstand ermöglicht hatte. Es gab nicht wirklich eine Ausrede dafür und irgendwann hatte Justinian keine andere Wahl mehr, als Belisar zurück nach Italien zu schicken. Die kaiserliche Frugalität jedoch beschränkte Belisar auf Truppen, die er mit seinen eigenen Mitteln ausstatten konnte. So kam Belisar in Ravenna mit seinen persönlichen Wachen an, aber sonst wenig anderem Personal oder Mitteln. Prokop zitiert einen Brief, den der gefesselte Held deshalb an seinen kaiserlichen Meister schrieb:

„Exzellenter Fürst, wir sind zwar in Italien angekommen, aber mittellos aller notwendigen Werkzeuge des Krieges, Menschen, Pferden, Waffen und Geld. Bei unserem Zug durch die Dörfer Thrakiens und Illyriens haben wir mit extremen Schwierigkeiten etwa viertausend Rekruten einsammeln können, nackt und ungelernt in der Verwendung von Waffen und den Anforderungen des Lagers.

Die Soldaten, die bereits hier in der Provinz Italia stationiert sind, sind unzufrieden, ängstlich und unmutig; schon bei dem Geräusch eines Feindes lassen sie ihre Pferde im Stich und werfen sich auf den Boden. Da Italien in den Händen der Barbaren ist, können wir keine Steuern erheben; der Mangel an Einkünften hat uns das Recht genommen zu befehlen oder gar zu ermahnen. Seien Sie versichert, Sir, dass der größere Teil unserer Truppen bereits zu den Goten übergelaufen ist.


Könnte der Krieg allein durch die Anwesenheit von Belisarius gewonnen werden, so sind Ihre Wünsche erfüllt; Belisarius ist in der Mitte Italiens. Aber wenn Sie es zu erobern wünschen, so sind ganz andere Mittel erforderlich: ohne militärische Gewalt ist der Titel General nur eine leere Hülle. Es wäre zweckmäßig, mich des Dienstes meiner eigenen Veteranen und Hauswachen zu versichern [welche noch in der Heimat stehen]. Bevor ich das Feld betreten kann, benötige ich ausreichend leichte und schwere Truppen; und nur mit Bargeld können Sie uns die unverzichtbare Hilfe einer mächtigen Abteilung hunnischer Kavallerie beschaffen.“

Belisars eigene Worte verdeutlichen, dass fast neunzig Jahre nach dem allgemeinen Rückzug der Hunnen, der auf Attilas Tod im Jahre 453 folgte, große Teile ihrer Söldner immer noch den Kontinent überfielen. Endlich gelang es dem Helden, einiges an Truppen und Nachschub an der gegenüberliegenden Küste der Adria in Dalmatien zu versammeln und die zweite Expedition zu beginnen, die Italia von den Goten befreien sollte. Rom und Ravenna waren die letzten beiden Plätze, die noch von Justinians Truppen gehalten wurden und daher jahrelang blockiert und belagert worden waren. Die byzantinische Flotte landete im Hafen von Ostia, fünf Meilen von Rom, aber die Nachricht von Belisars Wiedererscheinen erreichte die Stadt zu spät, um die Übergabe der Stadt an den König der Goten durch die ausgehungerte Besatzung zu verhindern. [17. Dezember AD 546]

Francesco Salviati - Portrait von Totila
Francesco Salviati – Portrait von Totila

Wie es Brauch war, baten Totilas Soldaten ihren König um die Erlaubnis, die Wände und Häuser der sündigen Stadt dem Erdboden gleichzumachen, aber der König zögerte – aufgrund einer Nachricht Belisars auf Ratschlag von Procopius – die um Gnade des Königs für die Ewige Stadt bat. Totila verschonte daraufhin Rom, unter den Bedingungen zukünftiger Neutralität der Stadt im Krieg und Gehorsams gegenüber ihm und seinen Nachfolgern – Richtlinien des erträumten neuen Romano-Gotenreichs, sozusagen. Der König verzichtete auch auf die Einrichtung einer ständigen Garnison in der Stadt; ein einziges Regiment Wachen wurde in einem vielleicht fünf Meilen entfernten Lager stationiert, für den Schutz der Stadt gegen Piraten oder Söldner, aber nicht gegen eine reguläre Armee.

Die Milde des Königs wurde schwer bestraft und Totilas Großzügigkeit wurde die Ursache seines Sturzes. Die gotische Armee hatte kaum Latium verlassen, als Belisar die gotische Wache angriff und vernichtete und zum zweiten Mal in Rom einzog [Februar AD 547]. Totila kehrte postwendend zurück, aber drei aufeinanderfolgende Versuche die Stadt im Sturm zu nehmen scheiterten und die neu gebildete Gotisch-Italienische Armee verlor die Blüte ihrer Männer. Bald lähmte schiere Erschöpfung beide Seiten, bis Belisar wieder einmal nach Byzanz berufen wurde und Totila Rom erneut eroberte [AD 549]. Während der gotischen Kriege wechselte die Stadt fünfmal den Besitzer [AD 536, 546, 547,549 und 552].

Es war die Politik Justinians, die Goten einen formellen Frieden zu verwehren, aber das Schatzamt nicht mit den Kosten dieser Kriege zu belasten, und ließ den Gotenkrieg deshalb jahrelang auf kleiner Flamme schmoren. Aber seine Entschlossenheit schwand als gotische Raubzüge in die Provinzen Epirus und Macedonia eindrangen und Konstantinopel selbst in der Reichweite der Barbaren zu liegen schien. Justinian erkannte die Dringlichkeit der Situation und die Schatzkammer wurde verspätet geöffnet – aber nicht für Belisar.

Der Kaiser war nie Vater gewesen, aber er hatte eine Nichte, die den jungen Prinzen Germanus geheiratet hatte, einen Adeligen, von dem die öffentliche Meinung behauptete, dass diese Ehe seine einzige Leistung war.

(Dies ist die Art und Weise wie die Geschichte oft erzählt wird, so etwas wie ein Klischee – und ich wiederholte es um Edward Gibbons willen – in Wirklichkeit jedoch war Germanus ein Neffe von Justin I und somit Justinians Cousin und war mit unterschiedlichem Erfolg Magister militum in verschiedenen Feldzügen gewesen. Vor seinem Aufbruch nach Italien hatte er die sowohl erotisch als auch politisch exzellente Idee, die sagenumwobene Schönheit Matasuntha, Enkelin Theoderichs und Witwe von Totila’s Vorgänger Witichis, zur zweiten Frau zu nehmen – mit Justinians Segen – ein Manöver, das Goten wie Italiker gleichermaßen verlocken sollte die Seiten zu wechseln.)

Der junge Mann wurde nun zum Oberkommandanten der gotischen Expedition ernannt und auf ein Schiff nach Sizilien geschickt, um die Truppen für das glorreichen Unternehmen der Bändigung Italiens und der Goten zu mustern. Die feierliche Inspektion musste jedoch verschoben werden, als der Jungspund plötzlich starb.

Das ganze Reich erwartete nun natürlich die Rückübertragung des gotischen Kommandos auf Belisar, als “die Völker des Reiches durch eine seltsame Nachricht zu einem Lächeln animiert wurden – welche besagte, dass der Befehl über die römischen Armeen einem Eunuchen übertragen worden war”, – dem Domestiken Narses – der „wahrscheinlich der einzige Vertreter seines eigentümlichen Geschlechtes in den Annalen der Militärgeschichte“ wurde. Narses war das komplette Gegenteil von Belisarius: von schwachem Körperbau und unerfahren im Gebrauch von Waffen, war er wohl der einzige Mann – sozusagen – am Hofe Konstantinopels, der es wagte seine Meinung zu sagen.

Er lehnte das Kommando ab, ohne die Mittel, den Erfolg zu erzwingen, und „Justinian gewährte seinem Favoriten, was er dem Helden verweigert hatte: der gotische Krieg wurde aus seiner Asche erweckt, und die Vorbereitungen waren der alten Majestät des Reiches nicht unwürdig. Der Schlüssel des Schatzamts wurde in Narses‘ Hände gelegt, um Vorräte zu beschaffen, Soldaten zu erheben, Waffen und Pferde zu kaufen, den rückständigen Sold zu begleichen, und die Treue von Flüchtlingen und Deserteuren zu versuchen.

Die Expedition von Narses [AD 552-554] war die letzte militärische Anstrengung des Reiches, die den Vergleich mit der glorreichen Vergangenheit aushielt. Es wird berichtet, dass die Römer 80.000 oder mehr Soldaten, meist Söldner, gegen Totila aufbrachten, der, nach den blutigen Verlusten in Rom zwischen AD 546 und 549, wahrscheinlich weniger als zwanzigtausend Mann ins Feld führen könne.  

Battle on Mons Lactarius by Alexander Zick
Die Schlacht am Mons Lactarius, von Alexander Zick

Mit solcher Macht wurden die gotischen Waffen letztendlich geschlagen: Totila starb auf dem Schlachtfeld von Taginae (Busta Gallorum) im Juli 552 und sein Nachfolger Teja führte den Rest der Truppen in eine letzte Schlacht, in einer Schlucht des Mons Lactarius in der Nähe von Mons Vesuvius. Der Rest der Goten, stationiert in den nördlichen Garnisonen, den Alpen und an der Donau, organisierten sich neu und versuchten, mit der Hilfe von fränkischen und alemannischen Söldnern, die Rückkehr nach Italien [AD 533]. Sie wurden ein zweites Mal besiegt, wieder durch Narses in der Schlacht am Casilinus, der – nach einem Anstandsbesuch in Konstantinopel – nach Italien zurückgeschickt wurde, um es, als Exarch oder Leutnant des Kaisers, für die nächsten etwa 15 Jahre [AD 554-568] zu regieren.

Doch etwas viel Schlimmeres als die Vandalen- und gotischen Kriege wartete nun auf die Menschen rund um die Ufer des Mittelmeers. Ein schrecklicher Ausbruch von Beulenpest wurde aus Alexandria im Herbst AD 541 gemeldet und die Handelsschiffe, die von ihren Häfen aus im Frühjahr AD 542 ihr Korn in die ganze Welt lieferten, sorgten für die nahezu weltweite Ausbreitung der Seuche. Konstantinopel wurde ebenfalls von der Epidemie verwüstet, durch die, wie Prokop schrieb, „die ganze Menschheit der Vernichtung nahe kam.“

Auch der Kaiser litt an Yersinia pestis, überlebte aber. Die Krankheit breitete sich über Konstantinopel, über den Bosporus, nach Kleinasien aus und von dort nach Syrien und Palästina. Sie drehte ihre Richtung und verbreitete sich ab AD 543 in den Provinzen des Westens, Afrika, Italien, Gallien und Spanien. Zwei Jahre später schlug sie im Fernen Osten zu und zerstörte das persische Reich nahezu vollständig: große Teile von Mesopotamien, Medien und Persien fanden sich entvölkert. *

Die Pest von Nicolas Poussin
Die Pest von Nicolas Poussin

Insgesamt erwiesen sich die Ergebnisse von Justinians anachronistischen und kurzsichtigen Bemühungen, das Reich wieder aufzubauen, nicht nur als kurzlebig, sondern bewirkten eine finanzielle Katastrophe von der sich das Reich nie erholte.

Die Zerstörung der afrikanischen und italienischen Grundlagen der Steuerbemessung im Zuge der militärischen Besetzungen bewirkte, dass die Monarchie nicht einmal ihre Unkosten zurückgewann. Und da das östliche Reich nie den Schritt machte, die durch öffentliche Steuern bezahlte Armee durch eine vom Landadel gestellte zu ersetzen, implizierten die Steuerverluste direkte Verluste an militärischer Macht. Justinians Eskapaden hatten dem Reich schon fast den Bankrott gebracht und das Nettoergebnis von Kaiser Heraklius‘ [r.AD 610-641] Krieg gegen die Perser zwischen AD 610 und 628 war, dass er, ein Jahrzehnt später, mehr verloren hatte als gewonnen, und noch viel mehr bei den folgenden Angriffen des islamischen Kalifats verlor. Das Kalifat, ironischerweise, „wurde selbst auf römischen Fundamenten wie auch auf persisch-sassanidischen gebaut“, und bewahrte „die Parameter der imperialen römischen Gesellschaft vollständiger als jeder andere Teil der post-römischen Welt, zumindest in dem Zeitraum bis zum Jahre 750.“

Bald nach des Narses’ Tod wurde Italien von den Langobarden besetzt, die sich an der unteren Elbe, in der Nähe der heutigen Hamburg, aufgehalten hatten, bevor sie sich der südlichen Migration der germanischen Stämme anschlossen. Sie waren schon vorher als Söldner verwendet worden, so von Narses gegen die Goten, aber nach dem Gotenkrieg eroberten sie die meisten ländlichen Gebiete Italiens zwischen AD 568 und 570, ohne viel Widerstand der erschöpften Einheimischen zu begegnen.

Aber die Gotenkriege waren vorbei.


* Es waren die Auswirkungen der Pest nach 540 und ihr erneutes Auftreten in Syrien, Palästina und dem oberen Mesopotamien nach AD 600 auf, als auch die ewigen römisch-persischen Grenzkriege, die die Bevölkerung rund um das östliche Mittelmeer und den Fruchtbaren Halbmond in einem Ausmaß reduzierten  – und damit auch die Verfügbarkeit von Soldaten –  welches den Aufstieg  des arabischen Kalifats im siebten Jahrhundert erst möglich machte.

[Weiterführende Links zu diesem Artikel: THEODORA / PROCOPIUS – THE SECRET HISTORY / THE END OF THE LEGIONS und CLOVIS – THE RISE OF THE FRANKS (englische Versionen auf “History of the West“]

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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