Historia Occidentalis

Ein Magazin zur Zentraleuropäischen Geschichte

Schlagwort: Preußen

La Bohème – Adolf Hitler in München vor dem Krieg


Voriger Beitrag: Jeder für sich und Gott gegen alle – Adolf Hitler als Bettler in Wien


Aus THE LITTLE DRUMMER BOY, Kapitel 12


“Every night and every morn,
Some to misery are born,
Every morn and every night,
Some are born to sweet delight,
Some are born to sweet delight,
Some are born to endless night.

William Blake “Auguries of Innocence”


Damals wie heute ist die Stadt München die Hauptstadt von Bayern, einem der ältesten deutschen Staaten – zunächst als ein Herzogtum, dann als ein Kurfürstentum, ein Königreich und dann als ein Freistaat und Bundesland. Soweit es europäische Staaten betrifft, ist Bayern von mittlerer Größe, etwa 70.000 Quadratkilometer groß; etwas kleiner als das moderne Österreich oder South Carolina, aber größer als Belgien, die Schweiz oder West Virginia, und bildet den südöstlichen Teil des modernen Deutschland. Es teilt sich Grenzen mit der Tschechischen Republik, Österreich und der Schweiz und erreicht im Norden die Bundesländer Hessen, Sachsen und Thüringen. Im Süden beherbergt es einen Teil des großen mitteleuropäischen Gebirges, die Bayerischen Alpen, mit der Zugspitze mit 2962 Metern als ihrer höchsten Erhebung – wo, wie man sagt, nur Adler zu fliegen wagen. . . .

Die bis ins frühe 19. Jahrhundert etwas verschlafene Stadt unterzog sich ab den 1830er Jahren einem längeren Zeitraum der Modernisierung und Industrialisierung. Das Land veränderte sich innerhalb von nur zwei Generationen von dem früheren fast ausschließlich ländlichen Charakter in einen modernen Industriestaat. Die erste deutsche Eisenbahnlinie (Ludwigseisenbahn) wurde zwischen den bayerischen Städten Nürnberg und Fürth im Jahre 1835 eröffnet, und schon ein halbes Jahrhundert später arbeiteten Nicolaus OttoGottlieb Daimler und Carl Benz im benachbarten Württemberg und Baden an dem Bau von pferdelosen Kutschen. Das von den beiden letztgenannten gegründete Unternehmen, Daimler-Benz, ist immer noch einer der berühmtesten Namen in der Automobilwelt und Bayern ist die Heimat der schnellen Autos von Audi und BMW.

München um die Jahrhundertwende – Auf der Theresienwiese, dem Platz des jährlichen Oktoberfestes, weiden Schafe.

Die kulturelle Kreuzbefruchtung des Durchgangslandes und das starke künstlerische Erbe der italienischen Renaissance verlieh München im beginnenden 20. Jahrhundert einen fast italienischen Charme: Im Vergleich zu Preußen war Bayern fast eine Anarchie (die königliche Familie war Beweis genug, wie wir sehen werden), aber eine angenehme und Menschen aus nah und fern strömten, um sich dort niederzulassen. Die Bayern verfolgen nach wie vor eine fast südliche Tradition der Leichtigkeit des Lebens, ein sehr unpreußisches Flair des “Dolce far niente”. Das Land rühmt sich seiner Tradition als Inbegriff der Libertas Bavariae, einer spezifisch Bayerischen Liberalität gegenüber Andersdenkenden; obwohl zutiefst katholisch, nahm es mehr als zehntausend französische Hugenotten auf , d.h. evangelisch-calvinistische Familien, die Frankreich und dem Zorn Catharina de’ Medicis im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert entflohen waren, nachdem das Edikt von Nantes – das weitgehende Religionsfreiheit gewährt hatte – widerrufen worden war. Die fleißigen Neulinge waren ein großer Gewinn für Bayern im Allgemeinen und München im Besonderen; eine Reihe von Straßen in der Schwanthalerhöhe, benannt nach prominenten hugenottischen Familien, erinnert an die Vorteile , die sie der Stadt gebracht haben.

Westliche Neuhauser Straße, Karlstor und Karlsplatz (Stachus) ca. 1900

Ab dem vierten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts, während der frühen Herrschaft von Ludwig I., begann die Stadt ihren provinziellen Charakter zu verlieren; bevor er Lola Montez getroffen hatte und in ihren Armen alles andere vergaß, hatte der König ein öffentliches Bauprogramm im neoklassizistischen Stil gefördert, dessen Ergebnisse nach wie vor auf des Boulevards der Ludwigstraße und Maximilianstraße gesehen werden können. Das Genie der Architekten Leo von Klenze und Friedrich von Gärtner bleibt weithin sichtbar in der großen Anzahl ihrer Entwürfe, die die Stadt schmücken, praktisch alle nach dem Bombenschäden des Zweiten Weltkrieges den ursprünglichen Plänen folgend wiederaufgebaut .

Mit bayerischem Charme und einem viel geselligeren sozialen Klima als das steife Preußen, das provinzielle Berlin oder das merkantile Hamburg, wurde München bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu dem zweiten Zentrum der internationalen Kunst und Kultur, gleich nach Paris – die Kaiserbesoffenheit und den Zwist Wiens und die gekünstelte imperiale Pracht Londons leicht hinter sich zurücklassend …

An dieser zweiten Stelle nach Paris, zog München – damals etwa 600.000 Einwohner beherbergend – Künstler aus allen Ländern und Bereichen des Lebens an und wurde vor allem ein Zentrum für die Avantgarde. Soweit es die Malerei angeht, erlebte allein das Jahr 1909 die Gründung von vier neuen Künstlergruppen – von denen sich eine einfach die “Neue Künstlervereinigung” nannte und Alexej von Jawlensky und Wassily Kandinsky zu ihren Mitgliedern zählte. Im Café Stephanie in der Amalienstraße konnte man zu jeder Tages- oder Nachtzeit radikale Intellektuelle wie Kurt EisnerErich Mühsam oder Ernst Toller treffen, die alle nach dem Krieg berühmt wurden. Während diese Künstler und Philosophen für Hitlers bürgerlichen Geschmack jedoch viel zu fortschrittlich waren, brachten sie künstlerischem Flair und Inbrunst nach München – unübertroffen, bis zwanzig Jahre später Berlin die Goldenen Zwanzigern erlebte. Aber im Jahre 1910 war Berlin ein kultureller Friedhof.  Ian Kershaw [Hitler 1889-1936: Hybris (London, 1998), ISBN 0-393-32035-9] schrieb:

Schwabing, das pulsierende Zentrum des Münchner künstlerischen Lebens und seiner Bohème, zog Künstler, Maler und Schriftsteller aus ganz Deutschland und aus anderen Teilen Europas an. Schwabings Cafés, Kneipen und Kabaretts verwandelten sich in experimentelle Gewächshäuser der Moderne. „In keiner Stadt in Deutschland stieß Altes und Neues kräftiger zusammen als in München“, kommentierte Lovis Corinth, ein berühmter Künstler, der die dortige Atmosphäre zur Wende des Jahrhunderts erlebte.

IAN KERSHAW, s.u.
Lovis Corinth – Die drei Grazien

Die Themen des Verfalls und der Erneuerung, des Abwerfens des sterilen, abklingenden Ordnung, Verachtung für bürgerliche Konventionen, für die alten, abgestandenen und traditionellen Sichtweisen, die Suche nach neuem Ausdruck und ästhetischen Werten, die Evokation des Gefühls über die Vernunft, die Verherrlichung von Jugend und Begeisterung, verband viele der unterschiedlichen Stränge der Münchner modernen Kulturszene.

IAN KERSHAW, s.u.
Fasching (Karneval) in Schwabing um 1900

Der Kreis um Stefan George; die Geißel der bürgerlichen Moral, Dramatiker, Liedermacher und Kabarettist Frank Wedekind; der große Lyriker Rainer Maria Rilke; und die Gebrüder Mann – Thomas, berühmt seit der Veröffentlichung im Jahre 1901 seines epischen Romans über bürgerlichen Niedergang “Buddenbrooks“,  dessen Vignette homosexueller Versuchung “Der Tod in Venedig”  im gleichen Jahr veröffentlicht wurde, in dem Hitler nach München kam (1913), und sein älterer, politisch radikalerer Bruder Heinrich – waren nur einige in der Galaxie von literarischen Koryphäen in Vorkriegs-München.

Auch in der Malerei bestimmte die Herausforderung der „Moderne“ die Ära. Rund um die Zeit, in der Hitler in München lebte, revolutionierten Wassily Kandinsky, Franz MarcPaul Klee, Alexej von Jawlensky, Gabriele Münter und August Macke – die Koryphäen der Gruppe “Der Blaue Reiter” – das Wesen künstlerischer Komposition in brillanten und spannenden neuen Formen expressionistischer Malerei. Die visuellen Künste würden nie mehr das gleiche bleiben.

Ian Kershaw [“Hitler 1889–1936: Hubris” (London, 1998), ISBN 0-393-32035-9, Seiten 81-82
Postkarte des Café Stefanie – Besucher waren, u.a. Johannes R. Becher , Hanns Bolz , Hans Carossa , Theodor Däubler , Kurt Eisner , Hanns Heinz Ewers , Leonhard Frank , Otto Gross , Emmy Hennings , Arthur Holitscher , Eduard von Keyserling , Paul Klee , Alfred Kubin , Gustav Landauer , Heinrich Mann , Gustav Meyrink , Erich Mühsam , Erwin Piscator ,Alexander Roda Roda , Ernst Toller , B. Traven und Frank Wedekind.
München – Zentrum und Marienplatz

In Schwabing priesen Revolutionäre von jeder Sorte und Kaliber ihre Lehren an der Ludwig-Maximilians-Universität – nach München im Jahr 1826 von Landshut aus umgezogen (dorthin verlegt worden aus Ingolstadt, wo sie im Jahr 1472 gegründet worden war) – wurde das komplette Spektrum der politischen Ideenlehre gleichermaßen der Aufmerksamkeit der Studenten als auch der Bürger anheimgelegt. Der Hauptcampus war in Schwabing und bot den Studenten – immer auf der Suche nach neuen und exotischen Empfindungen und Eingebungen – eine Bühne für jede denkbare und einige eher unwahrscheinliche Formen künstlerischer Expression. Der unbeschwerte Geist, in dem selbst die wildesten oder lächerlichsten Lehren der Kunst oder Politik ein aufmerksames Publikum fanden, wurde die moderne Artikulation der Libertas Bavariae. In der Juxtaposition William Blakes oben zitierten Verses wurde Schwabing klar zu süßer Freude geboren und unkonventionelle Seelen aus der ganzen Welt strömten nach München.

Eine solche unkonventionelle Seele war Herr Wladimir Iljitsch Uljanow, der Recht und Politik an der Universität hörte, wo er sich als Herr Meyer eingeschrieben hatte. Herr Meyer wohnte in der Schleißheimer Straße 106, nur ein paar Blocks westlich des Campus, und war in seiner Heimat Russland und besonders der dortigen Geheimpolizei besser bekannt unter seinem revolutionären Pseudonym “Lenin”.

Eine weitere, eher unkonventionelle Seele, ein junger Mann namens Adolf Hitler, frequentierte bald die gleichen Cafés, Kneipen und Biergärten in Schwabing; Zeitung lesend, während er langsam eine Tasse Kaffee schlürfte, oder seine Bilder in Kunstgeschäften oder einfach auf der Straße hausierend. Etwas nördlich des Hauptgebäudes der Universität, hundert Meter hinter dem Siegestor, diente (und dient noch) die erste Viertelmeile der Leopoldstraße als Outdoor-Galerie der Künstler, und bis zum heutigen Tag verkaufen die ansässigen Maler ihre Werke dort. Adolf war, wie wir herausfinden werden, selbst ein bisschen revolutionär, aber das Jahr 1913 sah ihn halb erschrocken und halb berauscht von dem schieren Ansturm der künstlerischen Szene auf seine Sinne . . .

Münchner Hauptbahnhof um 1900

Adolf Hitler und sein Freund Rudolf Häusler kamen am Münchner Hauptbahnhof am Sonntag, 25. Mai 1913 aus Wien an, und begannen sofort eine Unterkunft zu suchen. Sie gingen die Schleißheimer Straße entlang, im Nordwesten des Bahnhofs, und im Fenster einer kleinen Schneiderei, bei Nummer 34, bemerkten sie ein kleines Schild “Zimmer zu vermieten”. Sie gingen hinein und wurden sich schnell mit des Schneiders Frau, Anna Popp, einig, eine winzige Mansarde im dritten Stock zu mieten. Am 26. Mai registrierten sie sich bei der Münchner Polizei, bei der Hitler die Dauer seines Besuches mit zwei Jahren angab. In Wien hatte Hitler sich bei der Polizei anlässlich seines Weggangs abgemeldet,wie vorgeschrieben, hatte aber keine Nachsendeadresse hinterlassen; in der Polizeiakte heißt es nur „mit unbekanntem Ziel“, was darauf hinweist, dass Hitler nichts über seinen zukünftigen Aufenthaltsort verlauten wollte. Dies würde mit der Tatsache übereinstimmen, dass sein früheres “Verschwinden” im Herbst 1909 auf geradezu magische Weise mit der genauen Zeit zusammenfällt, in der er sich zur Musterung in der österreichischen Armee hätte melden müssen. Er verließ die Sechshauserstrasse 56, Wien, c/o Frau Antonie Oberlechner, am 16. September 1909, ohne eine Weiterleitungsadresse zu hinterlassen, und ließ sich erst wieder am 8. Februar 1910 bei der Wiener Polizei registrieren – dem Tag, als er wieder auftauchte und in das Männerheim in der Meldemannstraße zogt. . . .

Schleißheimer Straße 34 während der NS-Zeit, mit Erinnerungstafel (Hitlers Raumfenster markiert)

Adolf Hitler war jetzt in der Stadt angekommen, die sein Hauptwohnsitz für die nächsten 20 Jahre werden würde – die Stadt, die er später die “Hauptstadt der Bewegung”taufte. Für eine Weile wurden die Popps seine Familie. Robert Payne beschreibt uns eine mise en scène des menschlichen Lebens in der Schleißheimer Straße 34:

Viele Jahre später, als die Nationalsozialisten an der Macht waren, wurde Frau Popp gefragt, an was sie sich über ihren Mieter erinnern könne. Natürlich erinnerte sie sich an viele Dinge, die zu seinem Vorteil gereichten: Er war freundlich zu den Kindern, Peppi und Liesel und war bescheiden, gut erzogen und selbstgenügsam. Er verbrachte den ganzen Tag mit Malerei und Zeichnen, und er studierte jeden Abend und jede Nacht. …

Sie war eine dieser neugierigen Vermieterinnen, die die Besitztümer ihrer Mieter prüfen, und sie erinnerte sich, dass seine Bücher „alles politischen Sachen und wie man ins Parlament kommt.“ Sie erinnerte sich auch an etwas, dass andere ebenfalls beobachtet hatten: seine Einsamkeit.

Er schien keine Freunde zu haben, lebte vollständig allein [nachdem Häusler ausgezogen war – wie oben erwähnt, niemand erwähnte Rudolf Häusler bevor Thomas Orr die Nachbarschaft im Jahre 1952 untersuchte, aus unbekannten Gründen,¶] lehnte alle Einladungen der Popps ab, ihr Abendessen zu teilen, wies alle ihre Annäherungsversuche zurück, und verbrachte ganze Tage in seinem Zimmer, ohne sich nach außen hin zu rühren. Er lebte von Brot und Wurst; nur manchmal klopfte er höflich an ihre Küchentür, um nach heißem Wasser für seinen Tee zu fragen.

„Er lebte in seinem Zimmer wie ein Einsiedler, mit seiner Nase immer in diesen dicken, schweren Büchern“, sagte sie. Es verwunderte sie, dass er sowohl ein Maler sein sollte als auch ein unersättlicher Leser, und eines Tages fragte sie ihn, was all das Lesen mit seiner Malerei zu tun habe. Er lächelte, nahm sie am Arm und sagte: „Liebe Frau Popp, weiß jemand wirklich, was ihm später im Leben wirklich von Nutzen sein wird und was nicht?“ (4)

THE LITTLE DRUMMER BOY, Seiten 279 – 280

Die Popps mochten ihn. Er wusste sich zu verhalten, was sie beeindruckte, denn für sie schien es zu bedeuten, dass er in Wirklichkeit – jenseits der Maske, die er trug – jemand anderes, jemand besseres war als wer er zu sein vorgab. Er lebte auf seinem eigenen Planeten, nicht unbedingt im bekannten Universum, und hatte keine Kontakte, die wir kennen, außer dass ein ehemaliger Bewohner des Männerheims behauptete, ihn einmal in einer zufälligen Begegnung am Bahnhof in München getroffen zu haben. [FN 1] Er malte derweil, und verkaufte seine Werke auch; wir haben eine gute Handvoll von Berichten seiner Kunden. Der Arzt Dr. Hans Schirmer erinnerte sich:

[FN 1]: Der Name dieses Mannes war Josef Greiner, der ein Betrüger und Erpresser gewesen zu sein scheint. 1939 und 1947 veröffentlichte er Bücher, welche seine angebliche Freundschaft mit Hitler in München und Wien beschrieben. Beide Bücher wurden verboten, das von 1939 von den Nazis selbst und das 1947 Opus von der Besatzungsbehörde. Vgl. Anton Joachimsthaler (8)

… Ich saß an einen Sommerabend im Garten des Hofbräuhauses, bei meinem Bier. Gegen 20.00 Uhr bemerkte ich einen sehr bescheiden und etwas grob gekleideten jungen Mann, der mir wie ein armer Student aussah. Der junge Mann ging von Tisch zu Tisch, ein kleines Ölgemälde zum Verkauf anbietend.

Die Zeit verstrich, und es war vielleicht 22.00 Uhr, als ich ihn wiedersah und erkannte, dass er nach wie vor das Bild noch nicht verkauft hatte. Als er in meine Nähe kam, fragte ich ihn, ob ich ihm helfen könne, da sein Schicksal mich etwas beunruhigte. Er antwortete: „Ja, bitte“, und als ich nach dem Preis fragte, legte er ihn auf fünf Mark.

Mein Vermögen damals … war nicht groß, und da ich in meinen Taschen nur das wenige Bargeld hatte, das benötigt war, um ein Bier zu kaufen, gab ich dem jungen Mann drei Mark und meine Adresse auf einer Rezeptform, und bat ihn, mit dem Gemälde am nächsten Tag in meine Praxis zu kommen , wo ich ihm den Rest geben würde.

Er übergab mir das Bild sofort und sagte mir, er würde mich morgen besuchen. Sofort, nachdem die Transaktion abgeschlossen war, ging er zum Buffet und kaufte sich zwei Wiener Würstchen und eine Semmel, aber kein Bier.“

THE LITTLE DRUMMER BOY, SEITE 280
Münchner Straßenbahn, von Adolf Hitler

Ein Huthändler, Josef Würbser, wurde in seinem Laden aufgesucht.

„Es war im April 1914, ich die Kasse in dem Hutladen Zehme am Marienplatz und Dienerstraße betreute, als ein junger Mann hereinkam und mich fragte, ob ich am Kauf zwei seiner Gemälde interessiert wäre. Er müsse sie verkaufen, um Bücher für seine Studien erwerben zu können.

Da ich mich selbst ein bisschen mit Malerei beschäftigt hatte, war mein Interesse sofort geweckt, und ich studierte die beiden Bilder, von denen eines das „Alte Bürgermeisteramt“ zeigte und das andere den „Alten Hof“. Ich mochte die Bilder, die die schönen Motive in den hellsten Farben zeigten, und kaufte sie beide. Ich kann mich an den Preis nicht genau erinnern, aber es müssen jeweils zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Mark gewesen sein.“

THE LITTLE DRUMMER BOY, SEITE 280
Das Siegestor, von A. Hitler

Der Juwelier Otto Paul Kerber erinnerte sich:

„Ein junger Mann kam in mein Geschäft an einem Tag im Jahre 1912 [es muss 1913 oder Anfang 1914 gewesen, ¶] und bot mir ein Aquarell von der Münchner Residenz an. Ich mochte das Bild und kaufte dieses und anschließend noch ein paar weitere Bilder von dem jungen Mann, der regelmäßig wiederkam. Soweit ich mich erinnere, bezahlte ich, je nach Größe und Qualität, zwischen 15 und 20 Mark pro Bild.“

THE LITTLE DRUMMER BOY, SEITE 280

Sie ahnten es nicht, aber die meisten seiner Kunden hatten das Geschäft ihres Lebens gemacht, denn im Dritten Reich wurden die Gemälde für bis zu 5.000 Reichsmark verkauft. Es blieb jedoch klar, dass ihre Anziehungskraft der Künstler war, nicht die Arbeit an sich. Joachim Fest bemerkte über Hitlers künstlerische Eingebungen und Idole:

Sein Geschmack war seit seinen Tagen in Wien unverändert geblieben, als er keine Rücksicht auf die künstlerischen und geistigen Umwälzungen der Zeit nahm. Kühle klassizistische Pracht auf der einen Seite und pompöse Dekadenz auf der anderen – Anselm Feuerbach, zum Beispiel, und Hans Makart – waren seine Idole. Mit den Ressentiments des durchgefallenen Kandidaten für die Akademie erhob er seinen eigenen Geschmack zu einer absoluten Richtschnur.

Er bewunderte auch die Kunst der italienischen Renaissance und des Frühbarock; die Mehrzahl der Bilder im Berghof gehörten zu diesen Epochen. Seine Favoriten waren ein halblanger Akt von Bordone, des Schülers von Tizian und eine große farbige Skizze von Tiepolo. Auf der anderen Seite verwies er den Maler der deutschen Renaissance wegen ihrer Strenge und Sparsamkeit.

Fest, S.U.
Paris Bordone, Venus und Amor – einer von Hitlers Favoriten

Die pedantische Treue seiner eigenen Aquarelle könnte darauf hindeuten, dass er handwerkliche Präzision immer favorisierte. Er mochte den frühen Lovis Corinth, aber reagierte auf dessen brillante spätere Arbeit, gemalt in einer Art Ekstase des Alters, mit ausgeprägter Reizung und entfernte sie aus den Museen. Bezeichnenderweise liebte er auch sentimentale Genrebilder, wie die weintrinkenden Mönche und fetten Gastwirte von Eduard von Grützner. In seiner Jugend, sagte er zu seinem Gefolge, war es sein Traum gewesen, eines Tages erfolgreich genug zu sein, sich einen echten Grützner zu leisten. Später hingen viele Werke des Malers in seiner Münchner Wohnung am Prinzregentenplatz 16.

Neben ihnen liebte er sanfte, volkstümliche Idyllen von Spitzweg, ein Porträt Bismarcks von Lenbach, eine Parkszene von Anselm Feuerbach, und eine der vielen Variationen der “Sünde” von Franz von Stuck. In seinem „Plan für eine deutsche Nationalgalerie“, auf der ersten Seite seines Skizzenbuchs von 1925, erscheinen diese gleichen Maler, zusammen mit Namen wie Overbeck, Moritz von Schwind, Hans von Marées, Defregger, Böcklin, Piloty, Leibl und schließlich Adolph von Menzel, dem er nicht weniger als fünf Räume in der Galerie zuwies.

THE LITTLE DRUMMER BOY, SEITE 281

Sein Geschäft wuchs langsam, er gewann Stammkunden, von denen einige sogar im Voraus bestellten. Der Chemiker Dr. Schnell, der ein Geschäft in der Sendlinger Straße 42 nahe dem Stadtzentrum und eine kleine chemische Fabrik im nördlichen Stadtteil Milbertshofen besaß, erinnerte sich daran, dass eines Tages ein armer junger Maler in seinen Laden kam …

… dem offensichtlich von jemandem gesagt worden war, dass ich schon zuvor armen Künstlern geholfen hatte. Er bat mich um Unterstützung. „Ich bin Architekturmaler“, sagte der junge Mann und bot mir an, ein kleines Bild für mich zu malen. Auf Anfrage sagte er, sein Namen wäre Hitler, er wäre Österreicher und in der Stadt um Maler zu werden.

„Na dann bitte malen Sie mir die Asamkirche nebenan“, sagte ich. „Nach acht bis zehn Tagen brachte Hitler mir ein kleines Bild der Asamkirche, das überraschend gut gemacht war. Ich zahlte ihm die vereinbarten zwanzig Mark und habe später ein paar weitere seiner Bilder gekauft, die er immer pünktlich ablieferte. Ich konnte ihm auch auf weitere Aufträge vermitteln, die ich von Bekannten erhielt, die das Bild der Asamkirche sahen. … Dann begann der Erste Weltkrieg, und Hitler und seine Bilder waren vergessen. …

Als Hitler in die politische Szene nach dem Ersten Weltkrieg eintrat, wollte ich herausfinden, ob der Politiker Adolf Hitler und der Malereistudent der Vorkriegszeit in der Tat identisch waren. Also ging ich kurz ins Hofbräuhaus, wo Hitler eine Kundgebung abhielt und stellte fest, dass er tatsächlich der gleiche Mann war, dessen Bilder ich gekauft hatte. …

Viel später, nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, wurde ich einmal von Hitler ins Hotel “Vier Jahreszeiten” eingeladen. Er fragte, wie es mir und den Bildern ging, und ob er mir einen Gefallen tun könne. Kurze Zeit später, zwischen 1934 und 1936, besuchte mich ein Mann aus dem Stab des „Stellvertreters des Führers“ Rudolf Heß im Büro des Ladens, in dem Hitlers Gemälde hingen, und fragte, ob Heß, der an den Bildern interessiert war, kommen und sie besichtigen könne. Heß tauchte dann auf, mit zwei oder drei anderen Herren, und betrachtete die Bilder. … Später fragten einige Parteibüros nach meiner Erlaubnis, Kopien der Bilder für die Parteiarchive zu machen, welche ich gewährte.

THE LITTLE DRUMMER BOY, SEITE 281

Basierend auf den Aussagen von Hitlers Kunden und von Frau Popp, die sagte, dass er ein alle zwei oder drei Tage ein Bild malte, berechnete Anton Joachimsthaler, dass, wenn er, sagen wir, zehn Gemälde im Monat verkaufte, er recht gut davon leben konnte. In seine kommunale Verkaufslizenz, die er brauchte, um seine Gemälde legal zu verkaufen und die auch als Steuerformular diente, trug er einen Umsatz von rund hundert Mark pro Monat ein – wahrscheinlich das niedrigste, mit dem er davonkommen konnte. Auch wenn er anfangs vielleicht weniger als die fünfzehn oder zwanzig Mark verdiente, die nach einigen Monaten die Norm geworden zu sein schienen, muss er bald zwischen 150 und 200 Mark pro Monat verdient haben. Das war ziemlich anständig im Vergleich zu dem Lohn eines normalen Arbeiters, der in München zu diesem Zeitpunkt zwischen 96 und 116 Mark verdiente, aber auch für seine Familie zu sorgen hatte.

Wie in Wien, scheint es, dass Hitler auch in München mehr Geld hatte als er zugab, und die Beteuerungen seiner Armut in „Mein Kampf“ müssen mit einem großen Löffel Salz genommen werden. Selbst wenn es wahr ist, dass er, wie er später behauptete, oft nur eine Mark für sein Mittag- oder Abendessen hatte, muss dieser Betrag in Bezug auf die Preise der Zeit gesehen werden, die sehr niedrig waren. Ein Liter Bier kostete 30 Pfennige, ein Ei 7 Pfennige, ein Pfund Brot 16 Pfennige und ein Liter Milch 22 Pfennige. Eine Mark langte für so einiges.

Soweit wir wissen, wich seine Lebensweise nicht viel von der in Wien ab, was uns Vorsicht lehrt über die Geschichten, die Hitler später von seinem Studium der Politik, Philosophie und Geschichte in der Münchner Vorkriegszeit gesponnen hat. In einem der Tafelmonologe während des Zweiten Weltkrieges gab er Kunst an, nicht Politik, als seinen Grund, nach München zu gehen.

„[Ich wollte weitermachen] … als Autodidakt zu arbeiten und einen gewissen Zeitraum lang praktische Arbeit hinzufügen, sobald ich im Reich war. Ich war glücklich in München: Ich hatte mir das Ziel gesetzt, weitere drei Jahre zu lernen und dann mit 28 Jahren, als Architekt bei Heilmann & Littmann [eine Münchner Baufirma, ¶] einzutreten.

Ich hätte bei deren erstem Wettbewerb mitgemacht, und ich glaubte, sie würden mein Talent und meine Fähigkeiten anerkennen. Ich hatte mich, privat, an allen aktuellen Architekturwettbewerben beteiligt, und als die Entwürfe für das neue Opernhaus in Berlin veröffentlicht wurden, begann mein Herz zu schlagen, und ich sagte mir, dass sie viel schlechter waren als das, was ich geliefert hatte. Ich hatte mich auf Bühnenbilder spezialisiert.

THE LITTLE DRUMMER BOY, SEITE 282

Leider finden wir in keinem der ordentlichen und vollständigen Archive dieser Wettbewerbe die Entwürfe, die Hitler – privat – beitrug, sodass wir uns leider eines Urteils über ihren künstlerischen Wert enthalten müssen.

Maximilianstraße um 1900

Seine Zurückgezogenheit in München verschaffte ihm auch einen eher unauffälligen Vorteil: dass er, wie er glaubte, es dadurch vermied, in die österreichische Armee eingezogen zu werden. Es war Standard in Österreich, wie in allen anderen europäischen Ländern, dass die jungen Männer eines
bestimmten Alters (in Österreich mit zwanzig) zum Militär einberufen wurden, wo sie, nach zwei oder drei Jahren aktiven Dienstes, für die nächsten zwanzig Jahre oder so den Reserveeinheiten unterstellt blieben. Hitler hätte sich im Herbst 1909 registrieren und mustern lassen müssen – genau zu dem Zeitpunkt als er verschwand. Selbst wenn er eine gültige Ausrede gehabt hätte, sagen wir Krankheit, hätte er sich einer Neuregistrierung im Jahr 1910 oder 1911 unterziehen müssen. Da wir Hitlers ablehnende Haltung gegenüber dem Habsburgerstaat kennen, kann es uns nicht überraschen, dass er keinerlei Drang verspürte, ihm zu dienen.

Am 11. August 1913 erließ die Linzer Polizei einen Haftbefehl für Hitler, aufgrund Umgehung der Stellungspflicht. Von Hitlers Verwandten, vielleicht den Schmidts, fanden sie heraus, dass er in dem Männerheim in Wien lebte. Auf ihre Anfrage berichtete Wien nach Linz zurück, dass Hitler Wien verlassen hätte, ohne eine Weiterleitungsadresse zu hinterlassen, aber dass einige Bewohner der Herberge sich erinnerten, dass Hitler erwähnt hatte, nach München zu gehen.

Linz fragte also in München nach, und erfuhr am 8. Januar 1914, dass Hitler in der Tat in München registriert war, bei Popp, Schneider, Schleißheimer Straße 34/III. Am Nachmittag des 18. Januar 1914 wurde ein Trupp der Münchner Polizei zu Hitler losgeschickt, mit einem österreichischen Haftbefehl und einer Vorladung zur Musterung.

„Herr Adolf Hitler, geboren 1889, wohnhaft in Linz an der Donau, derzeit in München bei Popp, Schleißheimer Straße 34/III, wird hiermit einbestellt, sich des 20. Januars 1914 am Kaiserin-Elisabeth-Kai 30 in Linz zur militärischen Musterung zu präsentieren. Im Falle des Scheiterns, dieser Aufforderung nachzukommen, wird er der Strafverfolgung nach den §§ 64 und 66 des Gesetzes über Militärdienst aus dem Jahre 1912 unterliegen.”

THE LITTLE DRUMMER BOY, SEITE 282

Das war kein Scherz. Dem österreichisch-bayerischen Auslieferungsvertrag von 1831 zufolge, konnte er verhaftet, in eiserne Ketten gelegt, ausgeliefert und den Behörden in Linz zwangsweise vorgeführt werden, wenn er dem Befehl nicht folgte. Hitler sprach also mit dem Offizier des Kommandos, Wachtmeister Herle, der eine Unterschrift für den Erhalt der Vorladung verlangte. Zur Erbauung des Wachtmeisters und seiner Truppe formulierte Hitler aus dem Stand eine improvisierte Entschuldigung:

„Ich hatte es verpasst, mich im Herbst 1909 zu registrieren, aber ich korrigierte dieses Versehen im Februar 1910. Zu dieser Zeit meldete ich mich im Amt des Bürgermeisters beim Wehrpflichtamt IB, die mich an meinen Wiener Heimatbezirk zurückverwiesen, den XX. Ich beantragte dort, mich der Musterung in Wien statt in Linz unterziehen zu dürfen, unterschrieb ein Protokoll oder Affidavit, bezahlte eine Krone und habe nie wieder von der Sache gehört. Ich habe weder daran gedacht, mich der Registrierung zu entziehen, noch ist dies der Grund für meinen Umzug nach München. Ich war immer bei der Polizei in Wien registriert, [FN 2] , genauso wie jetzt hier in München.“

THE LITTLE DRUMMER BOY, SEITE 283

[FN 2] Das war eine glatte Lüge; wir wissen, dass er vom 16, September 1909 bis zum 8. Februar 1910 nicht registriert war; eine Lüge, die er in dem Schreiben an die österreichischen Behörden (siehe unten) wiederholte – aber zum Glück überprüfte niemand die falsche Behauptung.

Die Österreicher müssen ihn schlichtweg vergessen haben, behauptete er, denn er war eindeutig kein Deserteur. Wir wissen nicht, was Wachtmeister Herle von der Geschichte hielt, aber aller Wahrscheinlichkeit nach war es nicht das erste Mal in seiner Karriere, dass ein Verdächtigen einen Fehler bei den Behörden behauptete. Die Geschichte, die Hitler ausgeheckt hatte, war klar faul in sich selbst, und vielleicht zählte er auf des bayerischen Offiziers Unkenntnis der österreichischen Militärgesetze; die europäischen Nationen dieser Zeit verfolgten die Lebensumstände ihrer potenziellen Rekruten sehr sorgfältig und “vergaßen” sie nicht einfach; die Erfordernis, dass jede Adressänderung registriert werden musste, war in der Tat genau für diesen militärischen Zweck erlassen worden.

Herle jedenfalls verhaftete Hitler und brachte ihn in die Münchner Polizeizentrale an der Löwengrube. Am nächsten Morgen wurde der Gefangene dann dem österreichischen Generalkonsulat präsentiert. Es scheint, dass er dort von einem Konsularbeamten oder vielleicht einen Rechtsassistenten unterstützt wurde, denn er durfte seinen Fall in einer schriftlichen Erklärung präsentieren. Dies war nicht das ganz normale Verfahren; vielleicht begann Hitlers Kaltblütigkeit zu wirken.

In der Zwischenzeit hatte er seine Geschichte überdacht. Zuerst behauptete er – wahrheitswidrig – dass er die Vorladung zu spät erhalten hatte; dann behauptete er, dass das Problem ein Fehler des Österreichers war, die ihn irrtümlich in Linz gesucht hatten, als er tatsächlich in Wien war, oder umgekehrt. Eloquent in seiner Entschuldigung und seltsam weinerlich im Ton, erinnert der Aufsatz, indem er sein mühseliges Leben in München beschreibt, den Leser an den schmeichlerischen Stils seines Vaters Brief an den Bischof von Linz in der Sache der geplanten Hochzeit mit seiner Nichte Klara. Ein glücklicher Zufall hat uns Hitlers Dokument erhalten, das einen Blick in dieses jungen Menschen Beunruhigung und Verdrusses erlaubt:

… In der Vorladung werde ich als Künstler bezeichnet. Ich trage diesen Titel zurecht, aber er ist nur relativ zutreffend. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt als unabhängiger Maler, da ich völlig eines Einkommens beraubt bin (mein Vater war Beamter), und ich arbeite lediglich, um meine Ausbildung zu fördern. Nur ein kleiner Teil meiner Zeit kann für meinen Lebensunterhalt aufgewendet werden, denn ich strebe immer noch danach, meine Ausbildung zu einem architektonischer Maler zu vollenden.

Mein Einkommen ist daher sehr bescheiden, gerade genug um meine Kosten zu decken. Als Zeugnis dafür verweise ich Sie auf meine eingeschlossene Einkommensteuererklärung, und ich wäre dankbar, wenn sie mir zurückgegeben werden könnte. Man sieht, dass mein Einkommen um die 1200 Mark beträgt – eher mehr als ich wirklich verdiene – und dies bedeutet nicht, dass ich tatsächlich 100 Mark im Monat mache. Oh nein. …

Im Hinblick auf mein angebliches Versagen zur Meldung für den Militärdienst im Herbst 1909, muss ich bemerken, dass dies für mich eine unendlich bittere Zeit war. Ich war damals ein junger Mann ohne Erfahrung, ohne finanzielle Unterstützung von irgendjemand zu empfangen und zu stolz, um finanzielle Unterstützung von anderen zu akzeptieren, geschweige denn darum zu bitten. Ohne Unterstützung war ich auf meine eigenen Anstrengungen angewiesen, verdiente ich nur ein paar Kronen und oft nur ein paar Pfennige durch meine Arbeit, und das war oft zu wenig, um für ein Nachtlager zu bezahlen. Zwei Jahre lang kannte ich keine andere Herrin als Leid und Not, keinen anderen Begleiter als ewig nagenden Hunger. Ich kannte nie das schöne Wort Jugend.

Noch heute, fünf Jahre später, erinnere ich mich immer wieder an diese Erfahrungen, und trage deren Überreste in Form von Frostblasen an Fingern, Händen und Füßen. Und doch kann ich nicht jener Tage gedenken, ohne eine gewisse Freude darüber zu empfinden, dass ich diese Schikanen letztendlich überwunden habe. Trotz großen Mangels, in oft zweifelhafter Umgebung, hielt ich doch meinen Namen sauber, hatte ein untadeliges Verhältnis zum Gesetz, und besaß ein reines Gewissen – außer dass ich mich immer wieder daran erinnerte, dass meine Erfassung für den Militärdienst fehlgeschlagen war. Dies ist die eine Sache, für die ich mich verantwortlich fühle. Es scheint mir, dass ein moderates Bußgeld eine reichliche Strafe wäre, und natürlich werde ich diese gerne bezahlen.

Ich sende diesen Brief unabhängig von der Aussage, die ich heute im Konsulat unterzeichnet habe. Ich bitte, dass mir weitere Anweisungen durch das Konsulat übermittelt werden sollten und bitte Sie mir zu glauben, dass ich diese sofort erfüllen werde.

Alle meine Erklärungen in diesem Fall wurden von den konsularischen Behörden überprüft. Sie haben sich als sehr großzügig erwiesen und haben mir die Hoffnung vermittelt, dass ich in der Lage sein könnte, meine militärischen Verpflichtungen in Salzburg zu erfüllen. Obwohl ich es nicht wagen kann, dies zu hoffen, bitte ich, dass diese Angelegenheit für mich nicht übermäßig erschwert werde.

Ich beantrage, dass Sie dieses Schreiben zur Berücksichtigung annehmen und unterzeichne, respektvoll,

ADOLF HITLER

Künstler

München

Schleißheimer Straße 34/III

THE LITTLE DRUMMER BOY, SEITE 283 – 284

Dieser Brief ist ein früher und recht guter Einblick in den Geist einer Person, der einst ein professioneller Betrüger werden würde. Es ist nicht nur die schiere Verbiegung von Tatsachen die überrascht – es ist auch der Stil des Briefes; er zeigt, dass Hitler sehr genau wusste, was er zu schreiben hatte, und wie.

Der Brief verströmt das spezifische Aroma des Zeitalters, der servilen Weinerlichkeit, die einsetzt, wenn man ein Problem mit den Behörden hat. Der devote, manchmal arschkriecherische und manchmal schwatzhafte Ton ist, nach unseren heutigen Maßstäben, ein allzu offensichtlicher Versuch, Sympathie für seinen Antrag zu erwerben, im Angesicht eines Bürokraten, der die Macht hat, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Es mag wohl wahr sein, dass Bürokraten damals im allgemeinen byzantinische Schmeichelei und vorausschauenden Gehorsam erwarteten von der Öffentlichkeit, der sie angeblich dienen (und die ihre Gehälter bezahlt), aber Hitlers Brief klingt fast so, als ob er versuchte den Adressaten zu veräppeln. Der Stil ist einerseits umständlich und andererseits vertraulich, manchmal auf unheimliche Weise intim – als ob er sich von einem selten gesehenen Onkel Geld leihen wolle.

Herausstechend jedoch ist seine Argumentation: schon bevor das Urteil gesprochen wird, appelliert er an ein höheres Gericht, dem flüchtigen Charakter der österreichischen Militärjustiz übergeordnet. Sein Verbrechen ist nicht Desertion, behauptet er, sein Verderben war Armut. Er wird eine sehr ähnliche Taktik des Bekenntnisses zu einem inexistenten Vorwurf elf Jahre später wiederum verwenden, in der Verhandlung über den “Beer Hall Putsch“. Genauso wie dann verkündet er jetzt seine Schuldlosigkeit; in den Worten von Robert Payne:

,„Ein höheres Gericht wird ihn für unschuldig erklären, denn sein einziges Verbrechen ist Armut; sein Name ist sauber, sein Betragen schuldlos, sein Gewissen frei. Er behauptet, dass es sein einziger Ehrgeiz im Leben ist, der österreichisch-ungarischen Monarchie zu dienen; aber wenn wir diesen Brief lesen, wissen wir bereits, dass er diese Monarchie und alle ihre Werke verachtet und nicht die geringste Absicht hat, ihren Aufträgen zu folgen.“

THE LITTLE DRUMMER BOY, SEITE 284

Seine Versuche , die Sympathien des konsularischen Personals zu gewinnen, waren offensichtlich erfolgreich: Der Konsul selbst sandte Hitlers Brief nach Linz, zusammen mit einem von ihm selbst verfassten, in dem er erklärte, dass sowohl er persönlich als auch die Münchner Polizei davon ausgehen, dass Hitler ehrlich war und die Registrierung durch einen Fehler verpasst hatte, nicht durch kriminelle Absicht. Darüber hinaus empfahl der Herr Konsul , dass man Hitler erlauben solle, sich dem militärische Prüfungsausschuss in der Grenzstadt Salzburg zu stellen , anstatt ihn zu verpflichten, den ganzen Weg nach Linz zu reisen. In seltener Großzügigkeit bezahlte das Konsulat sogar Hitlers Zugfahrkarte.

Das Militärkommando in Linz pflichtete bei, und am 5. Februar 1914 fuhr Hitler mit dem Zug nach Salzburg. In einer kurzen Untersuchung fanden die Ärzte Hitler sowohl für den Kampf als auch den Hilfsdienst untauglich und entließen ihn ohne weitere Verpflichtungen. Das war genau das, worauf Hitler gehofft hatte, und er kehrte mit leichterem Herzen zurück nach Schwabing und seinen Büchern und Gemälden. In „Mein Kampf“, behauptete er später, dass die lebhaften politischen Diskussionen in den Cafés und Biergärten seinen Verstand trainiert und seine Argumentationsweise verbessert hätten. Von größter Bedeutung, schrieb er, war sein gründliches Studium des Marxismus.

„Ich habe mich dann wiederum mit der theoretischen Literatur dieser neuen Welt befasst und versucht, Klarheit über ihre möglichen Auswirkungen zu erlangen, und diese dann mit den tatsächlichen Erscheinungen und Ereignissen verglichen, die es etwa im politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben hervorbringt. Jetzt wandte ich zum ersten Mal meine Aufmerksamkeit darauf, dieser Weltplage Herr zu werden .“

THE LITTLE DRUMMER BOY, SEITE 285

Es sind drei Überlegungen, die uns dazu bringen, die Richtigkeit dieser Aussage zu zweifeln. Da Hitler nie dem im Sinne „angestellt“ war, so wie ein Fabrikarbeiter angestellt ist, kann man bezweifeln, wie viel wirklich er von den Realitäten der Tarifverhandlungen verstand oder wusste, von der Unfallversicherung, den Entschädigungen für Unfälle, dem betrieblichen Gesundheitswesen oder Rentenplänen, diesen Brot- und Butter Aufgaben der Gewerkschaften. Zweitens: Zu dem Zeitpunkt, an dem er angeblich in der Studie des Marxismus “eintauchte”, lag die russische Oktoberrevolution oder jede andere kommunistische Revolution noch Jahre in der Zukunft, und kein Land in der Welt besaß eine sozialistische Regierung. So kann man sich fragen, wie genau Hitler sich seine Meinung über die „Welt-Plage“ gebildet hatte und wo die „tatsächlichen Phänomene und Ereignisse“ aufgetreten waren, die er, wie er sagte, beobachtet hatte. Es scheint viel wahrscheinlicher, dass diese Teile von „Mein Kampf“- nicht vor 1924 geschrieben – Übungen im Nachhinein darstellen und dass er die vorausschauende Hellsichtigkeit der Übel des Marxismus als Beweis seines politischen Genies verkaufte. Drittens ist es fraglich, wie viel freie Zeit, Malerei und Verkauf der Bilder ihm ließen und es liegen keine Bibliotheksausweise von ihm vor.

Aber er liebte München so sehr wie er Wien verachtete. Die Bürger hatten eine leichte Art des Lebens, er mochte den bayerischen Dialekt, den er als Kind in Passau gelernt hatte, und das rassische und lingualen Sammelsurium, das er in
Wien zu verabscheuen gelernt hatte, war völlig abwesend. Auch in dem sehr kalten Winter 1913/14, als er weniger Kunden als üblich auf den schneebedeckten Straßen und leeren Biergärten finden konnte, war er immer noch guter Dinge;
München leuchtete für ihn weiterhin. [„München leuchtet!“ war der Titel eines beliebten Kabarettprogramms.] Doch es ist klar, dass er nicht an dem sozialen oder politischen Leben der Stadt teilnahm; nicht ein einziges Dokument, keine Zeitung erwähnt seinen Namen. Mit Ausnahme von Rudolf Häusler kennen wir auch keine anderen Bekannten. In den letzten sechzig Jahren wurden alle Archive durchsucht: Wir haben zum Beispiel einen Brief von seinem Bekannten Fritz Seidl, den Hitler während des einen Jahres in der Pension von Frau Sekira in Linz getroffen hatte, in der ersten Klasse der Unterrealschule; aber nichts aus München – nicht einmal ein Foto. (19) In einem bekannten Absatz von „Mein Kampf“ lobte Hitler die Stadt:

Daß ich heute an dieser Stadt hänge, mehr als
an irgendeinem anderen Flecken Erde auf dieser Welt,
liegt wohl mitbegründet in der Tatsache, daß sie mit der
Entwicklung meines eigenen Lebens unzertrennlich ver-
bunden ist und bleibt; daß ich aber damals schon das Glück
einer wahrhaft inneren Zufriedenheit erhielt, war nur
dem Zauber zuzuschreiben, den die wunderbare Wittels-
bacherresidenz wohl auf jeden nicht nur mit einem rechneri-
schen Verstande, sondern auch mit gefühlvollem Gemüte ge-
segneten Menschen ausübt.

ADOLF HITLER “Mein Kampf”, 851 – 855 Auflage 1943, Seite 139
Oktoberfest um 1900

Aber als er in den Cafés saß und die Zeitungen las, kam er nicht umhin, über die neuesten internationalen Spannungen informiert zu werden. Der Balkan hielt die Schlagzeilen wiederum besetzt, wie damals 1912 und 1913, als es dort Krieg gab. In eines der literarisch eher ansprechenden Passagen von “Mein Kampf” beschreibt Hitler die besondere Atmosphäre Jahres 1914:

Schon während meiner Wiener Zeit lag über dem Balkan jene fahle Schwüle, die den Orkan anzuzeigen pflegt, und schon zuckte manchmal auch ein hellerer Lichtschein auf, um jedoch rasch in das unheimliche Dunkel sich wieder zuzückzuverlieren. Dann aber kam der Balkankrieg, und mit ihm fegte der erste Windstoß über
das nervös gewordene Europa hinweg. Die nun kommende
Zeit lag wie ein schwerer Alpdruck auf den Menschen, brütend wie fiebrige Tropenglut, so dass das Gefühl der herannahenden Katastrophe infolge der ewigen Sorge endlich zur Sehnsucht wurde: der Himmel möge endlich dem Schicksal, das nicht mehr zu hemmen war, den freien Lauf gewähren. Da fuhr denn auch schon der erste gewaltige Blitzstrahl auf die Erde nieder: das Wetter brach los, und in den Donner des Himmels mengte sich das Dröhnen der Batterien des Weltkrieges.

ADOLF HITLER “MEIN KAMPF”, 851 – 855 AUFLAGE 1943, SEITE 173

Die stetige Verschlechterung Europas internationaler Beziehungen seit etwa 1906 wird Gegenstand der folgenden Kapitel sein. Aber alle Berichte, die wir vom Juni und Juli 1914 besitzen, sind sich einig – in einer seltsamen Art und Weise – im Hinblick auf das perfekte Wetter, das so krass mit dem kontrastierte, was folgen sollte. In diesen langen Sommernächten verkaufte Hitler noch die Früchte von Pinsel und Bleistift in den Biergärten – es sei denn er war beschäftigt damit, das Glühen der Sonnenuntergänge zu malen. Aber er war allein in seiner Mansarde, in ein Buch vertieft, am Nachmittag des 28. Juni 1914, als seine Vermieterin die Treppe heraufgestürmt kam und sein Zimmer betrat, ohne an der Tür zu klopfen.

Weinend informierte Frau Popp ihren Mieter, dass früher an diesem Tag der Thronfolger des österreichischen Throns, Erzherzog Franz Ferdinand von Habsburg und seine Frau Sophie, von einem jungen Mann in Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien, ermordet worden waren. Der Täter war Gavrilo Princip, ein Anarchist mit mutmaßlichen Verbindungen zu Serbien.

Der Erzherzog, ein Neffe von Kaiser Franz Joseph, war drei Tage zuvor in Bosnien eingetroffen, um die jährlichen Militärmanöver zu inspizieren. Nach dem Abschluss der Übungen bestand der Prinz auf einem Besuch der bosnischen Hauptstadt, obwohl die lokale Verwaltung Warnungen vor einem Anschlag erhalten hatte. Ein halbes Dutzend Verschwörer, verteilt über die Hauptverkehrsstraßen der Stadt, hatte auf das Königspaar gewartet, aber es war nur pures Glück – bzw. Pech – dass Princip den offenen königlichen Wagen langsam rückwärts aus dem falschen Ende einer Einbahnstraße fahrend antraf. Er feuerte seine Pistole zweimal und tötete sowohl die Erzherzog als auch seine Frau.

Hitler lief die Treppe hinunter und gesellte sich zu den Massen, die sich auf den Straßen versammelten. In Wien belagerte ein Mob bereits die serbische Botschaft. Die Nachricht aus Sarajevo war die Sensation des Jahres.

Vorschau

Zum nächsten geplanten Beitrag über Hitlers Einrücken zur bayerischen Armee und seinen Dienst an der Westfront (ca. Februar 2020) haben wir einen ganz kurzen Filmausschnitt gefunden von der Vereidigung des Reserve-Infanterieregiments XVI (Regiment List) im Beisein des bayerischen Königs Ludwig III, den wir schon hier präsentieren:

Vereidigung des Regiments List

Chronologisch folgender Beitrag: Sarajevo, 28. Juni 1914 – Der letzte Tag Europas


© John Vincent Palatine 2015/19

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Das Zweite Reich 1871 – 1918

Titelbild: Dieses Wandgemälde von Carl Steffeck von 1884 zeigt den französischen Generaladjutanten Reille bei der Überbringung der Kapitulation von Napoleon III bei der Schlacht von Sedan am 2. September 1870


Kurzes ZDF Video


Nachdem Österreich-Ungarn durch den Krieg von 1866 und die Niederlage von Königgrätz an den Rand innerdeutscher Politik gedrängt worden war, übernahm Preußen die Führung der deutschen Staaten, die noch immer mehr als ein Dutzend zählten. Auf der Karte waren die Änderungen geringfügig; die Geografie des “Deutschen Bundes” wurde durch das Verschwinden Österreichs unglücklicher Verbündeter kaum verändert. Wichtigere Änderungen traten im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der deutschen Staaten auf, insbesondere im kritischen Bereich der Zollunion. Trotz fortschreitender Industrialisierung, in der direkte Steuern immer wichtiger wurden, waren Zölle nach wie vor ein großer Teil der staatlichen Einkommen.

Linguistische Karte um 1870
Linguistische Karte um 1870 mit den Grenzflüssen des “Liedes der Deutschen” von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, geschrieben am 26. August 1841

Der Deutsche Zollverein war im 19. Jahrhundert stetig gewachsen, ausgehend von seinen profanen Ursprüngen als Gemeinsamer Preußischer Zolltarif von 1828; später umfasste er die süddeutschen Königreiche Bayern und Württemberg und das Großherzogtum Baden und nachdem Österreich 1867 aus dem Bild gefallen war, trat der Großteil des Restes der deutsche Staaten bei; die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Mecklenburg und das Königreich Hannover. Im Jahr 1869 waren die geografischen Grenzen von Zollverein und Deutschem Bund nahezu identisch. Durch ein kleines Update der politischen Struktur wurde der Deutsche Bund in “Norddeutscher Bund” umbenannt; der einzig bedeutsame Unterschied war die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer im Alter von über einundzwanzig Jahren.

Erstaunlicherweise deckten die ersten Wahlergebnisse unter den neuen Bedingungen eine seltene Fehleinschätzung Otto von Bismarcks auf: Er war davon ausgegangen, dass der Sieg über Österreich am meisten seinen konservativen parlamentarischen Verbündeten zugutekommen würde, aber im  Fall der Fälle ging die Mehrheit der Sitze an seine Gegner, die Liberalen, und einige sogar an seine Todfeinde, an die Sozialdemokraten und an das katholische Zentrum. Aufgrund dieser überraschenden Pflichtvergessenheit der deutschen Wähler wurden Bismarcks weitere Pläne nun mit einigen parlamentarischen Hemmnissen konfrontiert, aber der Eiserne Kanzler erwies sich als Meister darin, solch triviale Herausforderungen zu umgehen.

Seine Überlegungen im Hinblick auf eine mögliche deutsche Einigung gingen von der Ansicht aus, dass, durch die Leidenschaften eines Krieges, die Deutschen wiederum – wie 1866 – politische Hürden überwinden könnten. Falls die südlichen Staaten, insbesondere die ausgesprochen unabhängigen Königreiche Bayern und Württemberg, zögerten, seiner Führung zu folgen, könnten der Eifer eines erneuten Krieges den Ausschlag der Waage bewirken.

Ein geeigneter Gegner und Buhmann wurde leicht identifiziert in der Person von Napoleon III., Kaiser von Frankreich.

Seit 1815 hatten keine offenen Feindseligkeiten zwischen Frankreich und Preußen stattgefunden hatten, aber Bismarck – aufgrund der Erfahrungen, die er in den 1850er Jahren als preußischer Botschafter in Paris gemacht hatte – hatte  klare Ideen, welche Knöpfe zu drücken waren, um Frankreich in patriotischer Kriegsbereitschaft zu entflammen.

Napoleon III., Neffe und Nachfolger des großen Korsen, der sich 1852 zum Kaiser von Frankreich ausgerufen hatte, brauchte dringend frischen militärischen – oder auch jeden anderen Ruhm. Sein Eingreifen in Mexiko zur Unterstützung von Kaiser Maximilian hatte in einer kompletten Katastrophe geendet [1861-1867] und der Glanz der französischen Waffen  war dringend restaurierungsbedürftig. Er hatte die Entstehung Preußens als neue deutsche Zentralmacht mit Abneigung betrachtet; nicht so sehr wegen seiner Prinzipien – solche hatte er nicht – sondern weil er den Erwerb des Herzogtums Luxemburg für Frankreich gerne als Preis für seine Neutralität im Prusso-Österreichischen Krieg von 1866 gesehen hätte. Er war wütend, als Bismarck nach dem Sieg erklärte, dass, da Luxemburg nicht zu Preußen gehöre, man es nicht an Frankreich abtreten könne.

Bismarck konferierte mit Graf Helmuth von Moltke, dem Chef des preußischen Generalstabs, über die Chancen eines Preußisch-Französischen Krieges. Moltke schätzte, dass ein Erfolg wahrscheinlich sei, und Bismarck begann nach einer günstigen Gelegenheit zum Krieg, nach einem Casus Belli, zu suchen. Er musste nicht lange warten.

Otto von Bismarck, Kriegsminster von Roon und Chef des Generalstabs Graf Helmuth von Moltke (der Ältere)
Otto von Bismarck, Kriegsminster Albrecht von Roon und Chef des Generalstabs Graf Helmuth von Moltke (der Ältere)

Im Jahr 1869 war der spanische Thron wieder einmal heftig umstritten und nach langer Diskussion beschloss der spanische Kronrat, die Krone einem Vetter Wilhelms, dem Prinzen  Leopold von Hohenzollern anzubieten, aus der schwäbischen, katholischen Seitenlinie der Hohenzollern. Als die Nachricht über das spanische Angebot und die Akzeptanz des Prinzen Paris erreichte, interpretierten sowohl Kaiser Napoleon als auch seine loyalen Untertanen die Botschaft aus Madrid als Beweis für eine erneute Verschwörung Deutschlands, Frankreich zu umzingeln. Wachsamkeit und natürlich die Ehre der französischen Nation geboten, sofort die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um das geplante Verbrechen im Keim zu ersticken.

Der französische Botschafter in Preußen, Vincent Benedetti, wurde also mit dringender Botschaft nach Bad Ems geschickt, wo Wilhelm zur Kur weilte. Benedettis Mission bestand darin, zwei Forderungen Napoleons zu überbringen. Erstens müsse Prinz Leopolds Zusage sofort widerrufen werden und zweitens müsse Wilhelm, in seiner Eigenschaft als Chef der Familie Hohenzollern, eine öffentliche Erklärung abgeben, dass auf keinen Fall ein Prinz des Hauses ein spanisches Angebot annehmen werde, sollte es erneuert werden.

Die Forderungen waren, um es gelinde auszudrücken, ziemlich starker Tobak, denn Napoleon III. hatte in dieser Sache weder Anlass noch Autorität. Wilhelm ließ bestellen, dass nichts den Kaiser von Frankreich daran hindere, das Thema mit Prinz Leopold selbst zu diskutieren – dieser sei ein erwachsener Mann, und er, Wilhelm, wäre nicht seine Mutter. In Bezug auf die zweite Forderung wies Wilhelm auf seinen Mangel an Autorität hin, für zukünftige Generationen von Hohenzollern Zusagen abgeben zu können. Benedetti kabelte nach Paris, berichtete Wilhelms Antworten, und es wurde ihm befohlen, um eine zweites Audienz zu bitten und Napoleons Anfragen zu wiederholen. Solch wiederholten Anfragen waren nicht gerade guter diplomatischer Stil. Wilhelms Sekretär Heinrich Abeken fasste das zweite Interview in einem Telegramm an Bismarck zusammen:

Seine Majestät, der König, hat mir geschrieben:

Graf Benedetti hat mich auf der Promenade abgefangen und von mir in einer sehr inopportunen Manier gefordert, dass ich ihn ermächtigen sollte, sofort zu telegrafieren, dass ich mich auf ewig gebunden hätte, nie wieder meine Zustimmung zu geben, falls die Hohenzollern ihre Kandidatur erneuerten.

Ich habe diese Forderung etwas streng abgelehnt, da es weder richtig noch möglich ist, Verpflichtungen solcher Art [für immer und ewig] einzugehen. Natürlich erzählte ich ihm, dass ich noch keine Nachrichten erhalten hatte und da er über Paris und Madrid besser informiert wäre als ich, müsse ihm klar sein, dass meine Regierung in diesem Falle nicht betroffen war.

[Auf Anraten eines seiner Minister] entschied sich der König – angesichts der oben genannten Forderungen – Graf Benedetti nicht mehr zu empfangen, aber er ließ ihn von einem Adjutanten ausrichten, dass Seine Majestät mittlerweile von Leopold eine Bestätigung seines Thronverzichts erhalten habe, was Benedetti bereits aus Paris wisse, und er dem Botschafter daher nichts weiter zu sagen hätte.

Seine Majestät legt Ihrer Exzellenz (dem Adressaten) nahe, dass Benedettis neue Forderungen und ihre Ablehnung sowohl an unsere Botschafter als auch an die Presse kommuniziert werden sollten. [29]

Bismarck redigierte den Text ein wenig und leitete ihn an das französische Pressebüro HAVAS weiter:

Nachdem die Nachricht vom Verzicht des Fürsten von Hohenzollern dem Kaiser von der Königlich Spanischen Regierung mitgeteilt worden war, stellte die französische Regierung, durch den französische Botschafter in Ems, eine weitere Forderung an Seine Majestät den König; dass er den Botschafter ermächtigen sollte, nach Paris zu senden, dass Seine Majestät der König sich zu jeder Zeit verpflichte, nie wieder seine Zustimmung zu erteilen, sollten die Hohenzollern ihre Kandidatur wiederaufgreifen.

 Seine Majestät der König lehnte es daraufhin ab, den Botschafter erneut zu empfangen, und ließ ihm vom diensthabenden Adjutanten ausrichten, dass Seine Majestät keine weitere Mitteilung mehr an den Botschafter zu richten habe. [30]

Bismarcks Entwurf der Emser Depesche
Bismarcks Entwurf der Emser Depesche

Dadurch bekam die Botschaft einen neuen Twist:

Er (Bismarck) schnitt Wilhelms versöhnliche Phrasen aus und betonte die eigentliche Frage. Die Franzosen hatten Forderungen unter Androhung von Krieg gestellt und Wilhelm hatte sie abgelehnt. Dies war keine Fälschung; es war die klare Wiedergabe der Fakten. Sicherlich erweckte die Bearbeitung des Telegramms, das am Abend desselben Tages (13. Juli) an die Medien und die ausländischen Botschaften veröffentlicht wurde, den Eindruck, dass Benedetti etwas zu fordernd war und der König äußerst abrupt. Sie sollte den Franzosen den Eindruck vermitteln,  König Wilhelm I. habe Graf Benedetti beleidigt – andersherum interpretierten die Deutschen das modifizierte Telegramm so, dass der Graf ihren König beleidigt habe. …

Die französische Übersetzung der Agentur Havas änderte die Forderung des Botschafters („il a exigé“ – ‘er hat gefordert’) in eine Frage um. Das deutsche “Adjutant”, was auf einen hochrangigen Mitarbeiter des Königs  (Aide-de-camp) verweist, wurde nicht übersetzt, sondern auf Französisch belassen, wo es nur einen Unteroffizier (Adjudant) bedeutet – was darauf hindeuten sollte, dass der König den Botschafter absichtlich beleidigt hatte, indem er einen Soldaten mit niedrigem Rang auswählte, um ihm die Nachricht zu übermitteln. Dies war die Version die die meisten Zeitungen am folgenden Tag, der auch noch zufällig der 14. Juli (Feiertag der Erstürmung der Bastille) war, veröffentlichten, und damit die Franzosen glauben ließen, dass der König ihren Botschafter absichtlich beleidigt hatte noch bevor der Botschafter seine Geschichte erzählen konnte. …

Die falsche Einschätzung Frankreichs in Bezug auf seine eigene Position in der Sache entflammte die Dinge weit über das Notwendige heraus und Frankreich begann zu mobilisieren. Nach weiteren unsachgemäßen Übersetzungen und Fehlinterpretationen des Telegramms in der Presse, verlangten aufgeregte Massen in Paris den Krieg, genau wie Bismarck es erwartet hatte. Die Emser Depesche hatte nun auch in Deutschland die nationalen Gefühle aufgeputscht. Es ging jetzt nicht mehr nur um Preußen alleine; aller süddeutsche Partikularismus wurde verworfen.

Benedetti, der Beauftragte des französischen Außenministers Herzog Antoine Alfred Agénors de Gramont  für dessen sinnlose Forderungen (die Hohenzollern-Sigmaringer hatten die Kandidatur von Prinz Leopold schon am 11. Juli 1870 mit Wilhelms „voller und uneingeschränkte Zustimmung“  zurückgezogen), wurde zu einem unsichtbaren Nebendarsteller; seine eigenen Schreiben an Paris spielten keine Rolle mehr. Mit überwältigender Mehrheit stimmten Parlament und Regierung für Kriegskredite und Frankreich erklärte Preußen den Krieg am 19. Juli 1870. [31]

Genau das hatte Bismarck erwartet. In einer Reihe von geheimen Verträgen mit den süd- und mitteldeutschen Staaten seit 1866 hatte er den Grundstein für den nun eingetretenen Fall gelegt – Krieg mit Frankreich. Für den Fall, dass Frankreich Preußen den Krieg erklärte, hatten die übrigen deutschen Staaten Preußen militärische Unterstützung zugesagt. Zwei weitere Vereinbarungen, die Bismarck mit Russland und Österreich sub-rosa verhandelt hatte, sicherten deren Neutralität bei den Ereignissen, die sich nun entfalteten. Napoleon konnte keinen einzigen Verbündeten finden und die deutschen Länder, die er ursprünglich für sich hatte gewinnen wollen, marschierten nun an der Seite von Preußen, um den dritten Bonaparte zu besiegen, so wie sie den ersten besiegt hatten.

Zum ersten Mal seit der Niederlage der Türken in Wien im 17. Jahrhundert erschien eine gemeinsame deutsche Armee auf dem Feld. Der Feldzug von 1870 wurde daraufhin zur Apotheose moderner militärischer Planung, weil er weitgehend so lief wie geplant. Zum ersten Mal in einem bedeutenden europäischen Krieg wurden die Eisenbahnlinien zum Hauptmittel des Truppentransports und Koordination der Zugbewegungen der entscheidende Faktor für die richtige Anlieferung und den späteren Einsatz der Kräfte. Die Eröffnungsgefechte an den Grenzen wurden größtenteils gewonnen, so wie Moltke es erwartet hatte, und gefolgt von einem groß angelegten Stoß nach Lothringen. Die Hauptachse des Angriffs zielte auf die Maas, von deren Überquerung die Franzosen den Feind um jeden Preis abhalten mussten, denn sie war die letzte natürliche Verteidigungslinie auf dem Weg nach Paris.

Schlacht bei Sedan, 1. und 2. September 1870
Schlacht bei Sedan, 1. und 2. September 1870

Napoleon III. war selbst nach Sedan gereist, wo die französischen Truppen konzentriert waren. Moltkes Plan war es, durch die gleichzeitige Vorwärtsbewegung zweier Zangen nördlich und südlich ihrer Defensivposition die französische Armee einzuschließen und den Fluss zu verwenden, um ihren eventuellen Rückzug zu blockieren. Die Operation war erfolgreich und am 2. September 1870 mussten sich Napoleon III und die französische Armee ergeben. Zahlenmäßig wurde die Schlacht von Sedan zum größten Sieg in modernen Zeiten, der in einer einzigen Begegnung erreicht wurde; über 100.000 französische Soldaten mussten in Gefangenschaft marschieren. Die Kapitulation des Kaisers besiegelte den endgültigen Erfolg, selbst wenn die deutschen Soldaten durch Aufräumarbeiten und die langwierige Belagerung von Paris noch ein paar Monate beschäftigt blieben.

Bismarck und Napoleon nach der Schlacht von Sedan
Bismarck und Napoleon nach der Schlacht von Sedan
Der Spiegelsaal von Versailles
Der Spiegelsaal von Versailles

Am 18. Januar 1871 versammelten sich die deutschen Fürsten im großen Spiegelsaal des Schlosses von Versailles und erklärten die Gründung eines neuen “Deutschen Reiches“. Sie wählten einstimmig Wilhelm I., König in Preußen, zur neuen Würde des „Deutschen Kaisers“ [nicht ‚Kaiser von Deutschland‘]. Da das neue Staatswesen technisch gesehen nur eine „ewige“ Föderation von souveränen Fürsten war, die in verschiedener Hinsicht unabhängig blieben – wie der Vertrag es bestimmte – war und wurde das Zweite Reich nie ein zentralisierter Staat wie Frankreich oder Russland.

Das berühmte Bild Anton von Werners - Kaiserproklamation am 18. Januar 1871
Das berühmte Bild Anton von Werners – Kaiserproklamation am 18. Januar 1871
Siegesparade durch Paris am 1. März 1871
Siegesparade durch Paris am 1. März 1871
Siegesfeier in Berlin
Siegesfeier in Berlin

Doch schon bald traten Mängel in Bismarcks großem Entwurf auf, der treffend als “Revolution von oben” bezeichnet wird. Die Vereinigung war nicht auf den Willen des deutschen Volkes zurückzuführen, sondern auf einen Bund von 36 deutschen Fürsten, die sich zwar einig waren, einen von ihnen zum Kaiser zu erheben, aber sonst in wenig anderem. Die deutsche Bourgeoisie hatte nicht erreichen können, was den Bürger der Vereinigten Staaten, Englands oder Frankreichs zugesichert worden war, nämlich politische Emanzipation: nicht aus Mangel an Versuchen, sondern durch die blutige Niederschlagung der Reformbewegung von 1848. Die Bemühungen der deutschen Bevölkerung waren zusammengebrochen in den Horrorbildern von Soldaten, die auf ihre eigenen Familien schossen und erstickt durch den Terror politischer Polizei. Diese schrecklichen Erfahrungen dürfen keinesfalls unterschätzt werden: zusammen mit den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, die noch tief im volkstümlichen Unterbewusstsein lebten, erklären sie vieles von der politischen Apathie, die vor 1871 in Deutschland herrschte. Für die Bourgeoisie verstärkte Bismarcks “Revolution von oben” nur das Gefühl, von politischen Entscheidungen ausgeschlossen zu sein. Peter Watson erklärt:

In einem echten Sinn und wie es Gordon Craig betont hat, haben die einfachen Menschen in Deutschland keine Rolle bei der Gründung des Reiches gespielt. “Der neue Staat war ein ‚Geschenk‘ an die Nation, zu der der Empfänger nicht befragt worden war.”  Seine Verfassung war nicht verdient oder erkämpft worden; sie war nur ein Vertrag zwischen den Fürsten der bestehenden deutschen Staaten, die ihre Kronen bis 1918 behielten.

Für unser modernes Denken hatte dies einige außergewöhnliche Konsequenzen. Ein Ergebnis war, dass das Reich ein Parlament ohne Macht, hatte, politische Parteien ohne Zugang zu Regierungsverantwortung und Wahlen, deren Ergebnis nicht die Zusammensetzung der Regierung bestimmte. Dies war alles ganz anders – und noch viel weiter rückwärtsgewandt – als was es unter den deutschen Konkurrenten im Westen gab. Die Angelegenheiten des Staates verblieben in den Händen des Landadels, obwohl Deutschland zu einer Industriemacht geworden war. Um so mehr und mehr Menschen zu den industriellen, wissenschaftlichen und intellektuellen Erfolgen Deutschlands beitrugen, desto mehr fiel es auf, dass das Land von einer sehr kleinen Gruppe traditioneller Figuren regiert wurde – ländliche Aristokraten und militärische Befehlshaber –  an deren Spitze der Kaiser selbst. Dieses Missverhältnis wurde für das politische Bewusstsein des “Deutschtums” im Vorfeld des Ersten Weltkrieges von grundlegender Bedeutung.

Es war einer der größten Anachronismen der Geschichte und hatte zwei Auswirkungen, die uns hier direkt beschäftigen. Die Mittelklasse, politisch ausgeschlossen und dennoch bestrebt, ein gewisses Maß an Gleichheit zu erreichen, griff auf Bildung und Kultur zurück, also Schlüsselbereiche, in denen Erfolge erzielt werden konnte – Gleichheit mit der Aristokratie und Überlegenheit im Vergleich zu vielen Ausländern in einer wettbewerbsfähigen, nationalistischen Welt. “Hochkultur” war daher im Kaiserreich immer wichtiger als anderswo und das ist ein Grund, warum … sie in der Zeit von 1871 bis 1933 so gut gedieh. Aber dies gab der deutschen Kultur einen eigentümlich schizoiden Ton: Freiheit, Gleichheit und persönliche Unterscheidungskraft verblieben tendenziell im “Inneren” Heiligtum” des Individuums, während die Gesellschaft oft als eine ” willkürliche, oberflächliche und häufig feindliche Welt dargestellt wurde.”

Wilhelm II

Der zweite Effekt, der sich mit dem ersten überschneidet, war ein Rückzug in den Nationalismus, jedoch  in einen klassenbasierten Nationalismus, der sich gegen die neu geschaffene industrielle Arbeiterklasse (und den erwachenden Sozialismus) richtete, gegen Juden und nichtdeutsche Minderheiten. “Nationalismus wurde als eine Möglichkeit sozialen Fortschritt mit utopischen Möglichkeiten gesehen.”

Vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Massengesellschaft betrachtete die gebildete Mittelschicht Kultur als ein Netz stabiler Werte, die ihr Leben verbesserten, sie vom “Pöbel” (Freuds Wort) abhoben und insbesondere ihre nationalistische Orientierung verstärkte. Das “Volk”, ein semi-mystisches, nostalgisches Ideal wie ganz normale Deutsche einmal gewesen wären – ein zufriedenes, talentiertes, unpolitisches, “reines” Volk – war zu einem populären Stereotyp in Deutschland geworden. [32]

Es ist wohl fast unnötig zu erwähnen, dass solche “zufriedenen, unpolitischen und reinen” Menschen” niemals außerhalb der Vorstellung von übereifrigen Geschichtsprofessoren und rassistischen Journalisten existierten. Aber der Stereotyp “Volk” funktionierte und führte zu einer Art gegen Sozialdemokratie und Katholiken gerichteten Nationalismus, der nicht wirklich gegen andere Nationen gerichtet war, sondern gegen den “inneren Feind” – Liberale, Demokraten, Sozialisten, Katholiken, Juden und so weiter – gegen deren “Internationalismus” die preußischen säkularen und protestantischen kirchlichen Behörden nie müde wurden zu warnen. Es war im Wesentlichen ein Nationalismus der oberen Gesellschaftsschichten, der versuchte, die Unterstützung der bürgerlichen Mittelschicht gegen die verschiedenen Feinde der “Kultur“zu schüren, erhalten und einzubinden. Dieser Nationalismus des Zweiten Reiches lief fast auf eine Negation der Auswirkungen der Industrialisierung hinaus, der Moderne, in gewisser Weise sogar der Aufklärung. Sein Charakter blieb mittelalterlich.

Berlin, Unter den Linden, ca. 1900

Der Kern dieses “inneren” Nationalismus formte in den Jahren nach der Reichsgründung des Nukleus der “Völkischen Bewegung“, der wir – und die Welt – mehr oder weniger den Ersten und Zweiten Weltkrieg verdanken. Sie absorbierte die “blutige Romantik” der napoleonischen Zeit [siehe dazu einen Artikel von Elke Schäfer] und wurde von der Elite später als nützliche Idioten wahrgenommen und benutzt. Nicht umsonst hatten die idealisierten Darstellungen der “Germania”, unten zwei von Philip Veit, immer Schwerter in der Hand.

Als zum Beispiel eine „Deutsche Arbeiterpartei“ in Böhmen (d. h. technisch gesehen Österreich) vor dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde, war es nicht das Ziel dieser Partei, die Sache der Arbeiterklasse voranzutreiben, wie man naiverweise annehmen könnte, sondern den Schutz und Vorrang der Interessen deutscher Arbeiter gegenüber tschechischen oder mährischen Arbeitern sicherzustellen. Das deutsche Volk blieb indes ein politisches Mündel der alten Eliten, die absolut nicht gewillt waren, die kostbare Autorität aufzugeben, die sie nach den Schocks der Revolutionen von 1789 und 1848 und der napoleonischen Kriege gerade mal so wiedergewonnen hatten. Die Verfassung, die der Adel nach seinen Bedürfnissen und Ängsten 1871 maßschneiderte, konnte man in ihrer offensichtlichen Furcht vor Demokratie und Liberalismus mit gutem Grund anachronistisch nennen.

Denn den “zufriedenen, unpolitischen und reinen” Deutschen, die das offizielle Kaiserreich beschwor, ging es nicht gut, falls sie nicht gerade als Adelige geboren waren. Die deutsche Industrialisierung ging über Leichen – Bismarcks spätere Sozialgesetzgebung entstand nicht aus seinem Herzblut für die Leiden der Arbeiterklasse, sondern waren seine minimalen Zugeständnisse, die sozialistische Revolution zu verhindern. Es gab inoffizielle Sklaverei – die Schwabenkinder – und die Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse in den Großstädten waren unbeschreiblich schlecht. Zwischen 1870 und 1919 wanderten alleine 3.279.021 Deutsche nach den USA aus.

Kinderarbeit
Kinderarbeit

Der verfassungsrechtliche Rahmen des Deutschen Reiches … unterschied sich in wichtigen Punkten stark von dem Großbritanniens oder Frankreich, deren unterschiedlich strukturierte, aber relativ flexible parlamentarische Demokratien ein besseres Potenzial boten, den sozialen und politischen Anforderungen gerecht zu werden, die sich aus dem raschen wirtschaftlichen Wandel ergeben.

In Deutschland wurde das Wachstum des parteipolitischen Pluralismus, der sich im Reichstag manifestierte, nicht in parlamentarische Demokratie übertragen. Mächtige Interessen – große Grundbesitzer, … das Offizierskorps der Armee, die obersten Ebene der Staatsbürokratie, selbst die meisten Reichstagsparteien setzten ihre Blockade fort.

Der Reichskanzler blieb ein Angestellter des Kaisers, der ihn jederzeit ernennen oder entlassen konnte, unabhängig von den Kräfteverhältnissen im Reichstag. Die Regierung selbst stand über dem Reichstag, unabhängig von der Parteipolitik – zumindest in der Theorie. Wichtige politische Bereiche, insbesondere die außenpolitischen und militärischen Angelegenheiten, lagen außerhalb parlamentarischer Kontrolle.

Die Macht wurde – angesichts des zunehmenden Drucks nach radikalen Veränderungen – von den bedrängten Kräften der alten Ordnung eifersüchtig bewacht. Einige von ihnen, die zunehmend Angst vor der Revolution hatten, waren sogar bereit, über Krieg nachzudenken – als eine Möglichkeit, an der Macht festzuhalten und die Bedrohung durch den Sozialismus abzuwehren. [33]

Diese Bereitschaft war jedoch nicht auf Deutschland beschränkt: die meisten reaktionäreren Monarchien des Kontinents, insbesondere Russland, aber auch Italien, Spanien und einige Balkanländer, fürchteten die Sozialisten viel mehr als die Armeen der anderen Fürsten, mit denen man sich immer arrangieren konnte. Die Gründung der Sozialistischen Internationale (SI) erwies sich als Schreckgespenst der Monarchien. Aber was auch immer die wirkliche Bedrohung durch den Sozialismus oder irgend einer anderen modernen Entwicklung bedeuten mochte, das Zweite Reich personifizierte in gewissen Hinsichten, vor allem in seinen inneren Beziehungen, einen deutlich vormodernen Charakter – als hätte sich seit 1806 nichts verändert. Man sieht es am deutlichsten in …

… der föderalen Struktur des Reiches, die den Rechten und Befindlichkeiten insbesondere der süddeutschen Bundesländer Rechnung zu tragen versuchte. Die Gründung einer badischen Gesandtschaft in Berlin und einer preußischen in Karlsruhe (der Hauptstadt von Baden) ist ein Hinweis auf den bemerkenswert “unfertigen” Charakter der Struktur des Reiches – es ist, als wäre die Entwicklung hin zu einer modernen, einheitlichen Verfassungsstruktur auf halbem Weg stehengeblieben.

Aber das föderale System des Kaiserreichs ging noch weiter: 1894 wurden auch in München und Stuttgart badische Gesandtschaften eröffnet und etwas später schlug Russland sogar vor, einen russischen Militärattaché in Bayern zu stationieren. Diese Botschaften waren nicht bloß Institutionen aus Höflichkeit, sondern repräsentierten einen wichtiger Bestandteil der politischen Struktur des Reiches, und sie waren ein Hinweis darauf, dass das kleinere Deutsche Reich (ohne Österreich), durch Krieg und Diplomatie geschmiedet, in vielerlei Hinsicht sogar nach seiner sogenannten Vereinigung mit außenpolitischen Methoden regiert wurde.

Deutsches Reich 1871 - 1918
Deutsches Reich 1871 – 1918

Ein verwandtes Problem, über das sich die badischen Gesandten häufig beschwerten, war der Fortbestand und das konstante Wachstum des Partikularismus, insbesondere in Bayern. Der aufmerksame badische Gesandte in München, Baron Ferdinand von Bodman, berichtete im Dezember 1895 aus der bayerischen Landeshauptstadt, dass “unter dem Einfluss des alles beherrschenden Hofes und der österreichisch-klerikalen (Katholischen) Partei, alle Maßnahmen … auf den Aufbau Bayerns als autarkem Staat … gerichtet sind.“ Vor allem in den beiden bayerischen Armeekorps, so Bodman, „werden das Reich und der Kaiser, sein Kopf, so weit wie möglich eliminiert.”

Graf Anton Monts, der preußische Gesandte in München, war überzeugt, dass “ein Prozess der Distanzierung von dem Reich stattfände”, so berichtete Bodman weiter. Ebenso beobachtete der kluge Arthur von Brauer, der  viele Jahre unter Bismarck gedient hatte, im Mai 1893, dass der bayerische Partikularismus enorme Fortschritte mache. Er schrieb an den Großherzog: ” … dass unter dem Einfluss der altbayerischen Partei die monströse Idee immer mehr an Boden gewinnt, dass Süddeutschland unter die besondere Hegemonie Bayerns gestellt werden sollte, so wie Norddeutschland unter die von Preußen. ” 1898 fühlte sich der Großherzog von Baden selbst gezwungen, die Reichsregierung vor einer Annäherung an die katholische Zentrumspartei zu warnen, da es das Ziel dieser Partei war “das heutige Reich zu zerstören, um eine neue Bundesverfassung mit einem katholischen Kopf an der Spitze zu schaffen.“

Ob sie nun auf einer nüchternen Einschätzung objektiver Umstände beruhten oder letztendlich nur in psychologischer Hinsicht erklärbar sind, sind solche Angstkomplexe doch von allergrößter Bedeutung für die Beurteilung der politischen Kultur des wilhelminischen Deutschland. [34]

Der Kaiser und seine Söhne

Diese Analyse von John Röhl identifiziert den einen psychologischen Faktor in der Politik des neuen Imperiums, aber es gab noch eine andere, unausgesprochene, psychologische Implikation. Das Reich, das Bismarck eine letztendlich “über eine stark fragmentierte Gesellschaft gelegte” Konstruktion genannt hatte, war eine Formel geboren aus der Notwendigkeit, der spezifischen deutschen Situation, vor allem ihrem politischen Partikularismus, Rechnung zu tragen; somit musste Nationalismus und Zusammenhalt von außen her beigebracht bzw. geschaffen werden, und zwar von oben nach unten statt von unten nach oben und durch die Menschen selber. Ausschlaggebend war für Bismarck jedoch, dass das Ergebnis akzeptabel für seinen König sein würde, anders als die Krone von 1849. Im Wesentlichen jedoch wurden einfach die neuen Kleider des Kaisers über das gleiche, alte und autoritäre preußische Regime gehängt.


Fußnoten: [29] [30] [31] Heinrich Abeken, Otto von Bismarck – Emser Depesche siehe Wikipedia

[32] Watson, Peter, The German Genius, Harper Collins 2010, ISBN 978-0-06-076022-9, S. 112 – 113

[33] [34] Röhl, John C.G., The Kaiser and his Court, Cambridge University Press, ISBN 0-521-56504-9, S. 112 – 113 und 153 – 154

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Der Aufstieg Preußens durch Reformen

[Unser Titelbild ist ein Ausschnitt aus einer Fotografie der Schlacht von Königgrätz – oder Sadowa – 1866 und zeigt einen Angriff des Infanterie-Regiments No. 68]


Aus „The Little Drummer Boy“, Kapitel IV

Napoleons Armeen hatten die Preußen bei Jena und Auerstedt 1807 vernichtend geschlagen und anschließend den größten Teil des Landes besetzt; das heißt, diejenigen Teile, die Napoleon nicht seinem Bruder Jerome geschenkt hatte (den er zum Monarchen des neugegründeten Königreichs Westphalens gemacht hatte, oder das ebenfalls neu gegründete kurzlebige Großherzogtum Polen).

Doch gelegentlich kann ein Verlust in einem unerwarteten Gewinn enden. Es war gerade in den Jahren seiner Erniedrigung, nach der Niederlage der stolzen Armeen, dass Preußen die Reformen einleitete, die es zu einem modernen Staat machten, der in mancherlei Hinsicht die Welt anführte.

Viele Dinge, die wir heutzutage – zum Besseren oder Schlechteren – mit den Funktionen eines modernen Staates verbinden, wurden allgemeingültig und dauernd mit zuerst in Preußen in den frühen Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eingeführt: kommunale Selbstverwaltung, postfeudale Freiheit des Handels und der Verträge, die ständige Einkommensteuer, öffentliche, verpflichtende, nicht konfessionsgebundene und kostenlose Bildung und, nicht zuletzt, kompulsiver Militärdienst ohne Ausnahmen – die Wehrpflicht.

Im Feudalsystem waren wirtschaftliche Aktivitäten entlang sozialer Grenzen beschränkt: Kauf oder Verkauf von Land war das Vorrecht des Adels und um ein Kaufmann oder Handwerker zu werden, musste man ein Bürgerlicher sein. Diese Einschränkungen fielen weg und mit der eventuellen Aufhebung der Leibeigenschaft wurde der erste Arbeitsmarkt der Welt geschaffen; eine notwendige Bedingung für die in Deutschland danach extrem schnell einsetzende Industrialisierung.

Die Wirtschaft des feudalen Preußens hing von den Leibeigenen der umfangreichen landwirtschaftlichen Betriebe der „Junker“ ab, der lokalen Großgrundbesitzer. Sie regierten mit harter Hand; im wesentlichen unabhängig von staatlicher Aufsicht. Auf ihrem Hab und Gut waren sie Arbeitgeber, Polizisten und Richter in einem. Sie hatten das Recht, körperliche Strafen zu verhängen, konnten Ehen gewähren oder verbieten; in einigen Fällen – obwohl technisch gesehen illegal – wurden ganze Bauernfamilien verkauft oder gekauft, insbesondere an den Rändern des Landes, wo das Auge des Gesetzes meist abwesend war.

Der Aufgabe eines bestimmten alten feudalen Rechtes waren die Junker besonders abgeneigt – das „ius primae noctis“ oder Recht der ersten Nacht; das angebliche Recht des Grundherren, die sexuellen Gefälligkeiten der Braut eines Vasallen in ihrer Hochzeitsnacht einzufordern. Ob dieses Recht nun tatsächlich bestand oder eine eher morbide Fantasie war, ist eine andere Frage – siehe Beaumarchais’ “Die Hochzeit des Figaro” für den ohne Zweifel bestehenden negativen Propagandawert gegen Adelige. Unter dem Einfluss der Französischen Revolution tauchten Rufe nach der Abschaffung solcher und anderer alter Gewohnheiten auch in Preußen auf.

Die nüchternen, evangelisch-lutheranischen Könige Preußens hatten seit jeher ein größeres Interesse an der Befindlichkeit ihrer Untertanen gezeigt, als es die Norm war, und 1732, zum Beispiel, gewährte Friedrich Wilhelm I den vertriebenen Salzburger Protestanten Schutz und Unterkunft.

Konstantin Cretius Empfang der Salzburger Protestanten durch König Friedrich Wilhelm I. in Berlin am Leipziger Tor am 30. April 1732, Ölgemälde um 1860
Konstantin Cretius – Empfang der Salzburger Protestanten durch König Friedrich Wilhelm I. in Berlin am Leipziger Tor am 30. April 1732, Ölgemälde um 1860

Vor allem Friedrich der Große war dafür bekannt, landauf und landab an den unmöglichsten Stellen aufzutauchen um nach dem Rechten zu schauen – er förderte vor allem den Anbau von Kartoffeln als Nahrungsgrundlage der Bevölkerung.

Robert Warthmüller Der König überall, Ölgemälde von 1886. – König Friedrich II. begutachtet den Kartoffelanbau in Preußen.
Robert Warthmüller Der König überall, Ölgemälde von 1886. – König Friedrich II. begutachtet den Kartoffelanbau in Preußen.

Obwohl die Forderungen nach politischen Reformen, wie in Frankreich, auf den Theorien von Rousseau, Locke und John Stuart Mill beruhten, war es eine andere wichtige Theorie, die für die Verfasser des neuen preußischen Staatsrechts maßgeblich wurde: Adam SmithsThe Wealth of Nations” (1776), welche ein mögliches neues wirtschaftliches Modell für das Land beschrieb. Smiths Paradigmen waren, erstens, privates Eigentumsrecht, zweitens das Prinzip des Wettbewerbs, der „freie Markt“, und drittens die Abschaffung von Handelshemmnissen wie Zöllen, Verbrauchssteuern oder Abgaben.

Diese grundlegenden Lehren des Kapitalismus entstanden nahezu zeitgleich mit der wichtigsten Einführung der Neuzeit, der Partnerschaft von Kohle und Dampfmaschine, welche die Menschen von einem Großteil körperlicher Arbeit entband. Die Industrialisierung begann in den englischen Midlands im achtzehnten Jahrhundert, aber es dauerte Jahrzehnte, bis Preußen und die anderen deutschen Staaten aufholen konnten.

Fünf Namen sind auf ewig mit den folgenden preußischen Reformen verbunden: auf der – weniger wichtigen – militärischen Seite, die Generäle Gerhard von Scharnhorst und August von Gneisenau; auf der zivilen Seite die Freiherren von Stein und von Hardenberg; doch keiner von ihnen hätte wohl viel erreicht ohne die Reformen von Wilhelm von Humboldt, des Bruders des berühmten Geografen und Botanikers Alexander von Humboldt.

Wilhelm von Humboldt
Wilhelm von Humboldt

Jede ernsthafte Reform des Landes, so viel war klar – Reformern und Gegnern gleichermaßen – hatte mit der Veränderung der Situation der Bauern zu beginnen. Sie bildeten die Grundlage der Bevölkerung, der Landwirtschaft und des Militärs, und ihr Los zu verbessern sollte auf den Rest der Nation positive Auswirkungen haben.

Das erste Problem auf der Tagesordnung der Reformer war die soziale Integration aller „Preußen“, denn da gab es ein Problem. Das Konzept oder Bewusstsein, ein „Preuße“ zu sein, war durchaus nicht landläufig, aus dem einfachen Grund, dass viele Einwohner erst vor kurzem Preußen geworden waren; nur eine Generation früher oder so waren sie noch Brandenburger, Schlesier oder Pommern gewesen, doch nun von Preußen als Kriegsbeute eingesammelt.

Im Herbst 1807 überzeugte Minister von Stein König Friedrich Wilhelm III, dass Agrarreform der Schlüssel für die Entwicklung des Landes sei und erhielt die königliche Sanktion, ein Reformgesetz zu erlassen. Am 9. Oktober 1807 wurde die Leibeigenschaft im Königreich Preußen aufgehoben  – Bauern von ihren feudalen Verpflichtungen befreit, der Zehnte abgeschafft und Teilpacht (Sharecropping) verboten. Etwa die Hälfte der Bauern wurde sofort frei und der Rest am St. Michaels-Tag des 11. November 1810.

Jeder konnte nun, zumindest in der Theorie, eigenes Land erwerben, oder ohne Erlaubnis heiraten. Wie zu vermuten, war der Adel nicht übermäßig erfreut über das Reformpaket und leistete heftigen Widerstand. Sie hatten die unbezahlte Arbeit durch ihre „Untertanen“ zu sehr genossen und argumentierten, dass sie aufgrund des Verlustes zu einer Entschädigung berechtigt waren. Sie organisierten sich in Ligen und Clubs und für eine Zeitlang gelang es ihnen, wesentliche Bestimmungen des Gesetzes zu verwässern.

Aufgrund ihres Widerstandes dauerte es ungefähr eine Generation lang, bis die Änderungen ihre volle Wirksamkeit erreichten. Und doch war ein spürbarer Anfang gemacht worden und die Nahrungsmittelproduktion stieg innerhalb von zehn Jahren um 40 %. Andere Reformen erwiesen sich als ebenso entscheidend.

Gerhard von Scharnhorst wurde im Juli 1807 zum Leiter einer Militärreformkommission befördert, die das alte Landknechtstum zu reformieren hatte und er entwickelte ein paar Ideen, die seine adeligen Kollegen nur als „radikal“ empfinden konnten. Seit ewigen Zeiten waren nur Aristokraten in der Lage gewesen, sich Offizierspatente zu sichern: diese Tradition wurde jetzt ohne Tuten und Blasen abgeschafft, ebenso wie die Tradition, dass Beförderungen von des Offiziers Beliebtheit bei den Hofdamen oder dem Wildhüter des Königs abhingen: ab jetzt würden Beförderungen nach Leistung gewertet, lernten schockierte Oldtimer.

Der Fehdehandschuh, also das Duell, wurde abgeschafft, ebenso wie das Schikanieren und der Spießrutenlauf, und in der Zukunft, so Scharnhorsts Plan, würde der Militärdienst zu einer obligatorischen Bürgerpflicht werden. So einen Brocken war der König allerdings noch nicht bereit zu schlucken und Scharnhorst wurde 1810 gefeuert. Die wichtigste Reform allerdings war schon durch: Wilhelm von Humboldt schuf das preußische Bildungssystem, das erste, das eine ganze Nation umfasste. Er führte die Schulpflicht ein und sorgte für den Bau und die Instandhaltung von Schulen und die Beschäftigung von weltlichen – nicht kirchlichen – Lehrern an allen Ecken und Enden des Landes.

Es ist schwer, sich das heutzutage vorzustellen, aber schon die einfache Regelung, dass ein Schuljahr nur einmal im Jahr beginnt, erkannte niemand als eine praktische Notwendigkeit – bis Humboldt es befahl. Von nun an begann die Schule im September, und in aller Welt gehorchen Kinder noch der Regel des ehrwürdigen preußischen Gelehrten. Reform bestürmte auch die alten Privilegien der Universitäten: nicht nur, dass Humboldt genügend Mittel aus dem Haushalt des sparsamen König loszumachen verstand, um die Universität am Laufen zu halten – wo das Lehrpersonal bald weltberühmte Namen wie Hegel und Fichte zu sich zählte – er erfand auch die Symbiose aus Lehre und Forschung: Professoren mussten beides leisten.

Aber nicht nur Grundschulen wurden gegründet, Humboldt erfand auch das deutsche Gymnasium, als das primäre Vorbereitungssinstitut für Hochschulen und Universitäten. Der Lehrplan wurde gesetzlich vorgeschrieben und solche Schulen, die nicht willens oder nicht in der Lage dazu waren, mit den Anforderungen Schritt zu halten – so einige religiöse Schulen – wurden geschlossen. Humboldt gründete auch persönlich die Berliner Universität, die immer noch seinen Namen trägt.

Zu den wichtigsten Innovationen Baron von Steins in Bezug auf die praktischen Aspekte der Regierung gehörte die Erfindung des Ministers mit Portefeuille, also Zuständigkeitsbereich; es klingt wie eine einfache Idee, war aber völlig unbekannt. Seit Anbeginn der Zeit hatten sich Entscheidungsträger auf die Hilfe von Beratern verlassen, aber selten war die angestellte Hilfe systematisch organisiert; die jeweiligen Herren konnten gegeneinander arbeiten oder sich gegenseitig ignorieren, und so basierten die meisten Regierungsformen auf einer Art Chaostheorie.

Freiherr von Stein ersetzte Chaos mit einer Pyramide aus Macht und Verantwortung: der König als Regierungschef konnte auf ein Ministerkabinett mit spezialisierten Portfolios unter ihm vertrauen, die sich ihrerseits auf einen Stab von höheren Beamten verlassen konnten, der sich nicht mit jedem neuen Minister änderte und so für Kontinuität sorgen konnte. So wurde der (hoffentlich) gut informierte Ministerialsekretär geboren, der aufeinander folgenden Regierungen dienen konnte. Dieses System wurde von jeder Nation übernommen.


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(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Aufbau einer Division im Ersten Weltkrieg

Das 76. Füsilierbataillon in the Schlacht von Loigny am 2. Dezember 1870

Relevante Beiträge:

Die Organisation des Heeres

Die Preußischen Armeereformen


Wenn wir über moderne Kriegsführung nach 1800 sprechen, fällt immer der Ausdruck “Division “. Aber was genau ist eine „Division“? Untersuchen wir dieses Konzept am Beispiel des Ersten Weltkriegs:

Notabene: Dieser Beitrag bezieht sich auf „Division“, wie das Wort im Landkrieg verwendet wird. Es kann in anderen Zusammenhängen sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Bei Seestreitkräften hat die Benutzung des Begriffes „Division“ oft eine ganz andere Bedeutung, die sich auf entweder eine administrative oder funktionelle Untereinheit einer Abteilung (z.B. die Feuerkontrolldivision der Waffenleitstelle) an Bord von Marine oder Küstenschutzschiffen beziehen kann, oder auf Marineflieger-Einheiten, zu einer Untereinheit von mehreren innerhalb einer Flotte oder Fliegerstaffel, oder auf zwei oder drei Gruppierungen von Flugzeugen unter einem bestimmten Kommandoführer. Einige Sprachen wie Russisch, Serbokroatisch und Polnisch, verwenden das ähnliche Wort „Divizion“ bzw. „Dywizjon“ für ein Bataillon als größte Artillerie oder Kavallerie-Formation der jeweiligen Einheit.

Die Aufteilung der Armeen in ‚Divisionen‘ wurde Praxis während der beiden Französischen Koalitionskriege (Frankreich gegen das konterrevolutionäre Österreich, Russland und Preußen) in den 1790er Jahren und der anschließenden napoleonische Ära, in denen Armeen aufgeteilt werden mussten, um sich gegen oder Angriff mehr als eines Feindes zu verteidigen oder zu bestimmten Zeitpunkten taktische Aufgaben zu erfüllen, wie Flankenangriffe oder Einkesselungsmanöver. Im Gegensatz zu den Kabinettskriegen des vorherigen Jahrhunderts, die zumeist lokal begrenzt waren, musste die französische Revolutionsarmee an verschiedenen fronten zugleich operieren, wodurch sich die Schaffung einer zusätzlichen Kommandoebene zwischen Armeeführung und Regiment als notwendig erwies.

Das System zeigte Kinderkrankheiten – manchmal gelang es, Divisionen von ihren Nachbarn zu trennen und einzeln zu vernichten und so wird es im allgemeinen Napoleon zugeschrieben, das Armeekorps als weiter übergeordnete Führungsebene eingeführt zu haben.

Die Definition einer ‚Division” ist, dass es die kleinste Untereinheit einer Armee ist, die unabhängigen Aufgaben erfüllen kann, d.h. die kleinste Einheit, die alles besitzt, um einen eigenen kleinen Krieg zu führen. Daraus folge, dass eine Division mehr als Soldaten, Waffen und Munition haben muss: sie muss einen Führungsstab haben, Ingenieure bzw. Pioniere, Signal- bzw. Nachrichtentruppen, Versorgungstruppen, einen Sanitätsdienst, ein Krankenhaus, ein Postamt, Küchen, Wäschereien, einen Kartenraum und so weiter.

Organisationsplan

Bis 1915 waren in der deutschen Armee die Spezialtruppen – Fernsprech-Abteilungen, Flak-Züge, Pionier-Bataillone, Minenwerfer-Kompanien, Sanitäts-Kompanien, Feldlazarette, Kraftwagen-Kolonnen, Pferde-Lazarette, Jäger, Fußartillerie und Train etc. – nicht der Division direkt, sondern dem übergeordneten Armeekorps als Korpstruppen unterstellt. Dies erwies sich im Kriegsfall jedoch als unpraktisch, und wurde geändert. Ebenfalls stellte sich im Weltkrieg, zumindest im Stellungskrieg an der Westfront, schnell heraus dass Kavallerie dort im Prinzip überflüssig war – die vorhandenen Einheiten wurden verkleinert bzw. an die Ostfront verlegt, wo ihre traditionelle Funktion der Aufklärung eher noch verwendet werden konnte. Aufgrund der allerhöchsten Wünsche seiner Majestät Wilhelm II wurden noch bis in die Kaisermanöver von 1913 unsinnige Kavallerieangriffe geübt, die sich in der Praxis ab 1914 jedoch als Massenselbstmord per Maschinengewehr erwiesen.

Kavallerieattacke Kaisermanöver 1913

Es gab durchaus, zumindest anfangs, seltsame Bräuche. Die Garde der preußischen Divisionen wurde z.B. nach Körpergröße geordnet.

Die Zahlen gaben die Körpergröße über 1 Meter an …

Im Ersten Weltkrieg bestand ab 1915 eine voll ausgerüstete deutsche Infanteriedivision, zumindest theoretisch, aus folgenden Truppen:

4 Infanterieregimentern mit jeweils 3000 Mann; jedes Regiment bestehend aus 3 Bataillonen von jeweils 1000 Mann; jedes Bataillon bestehend aus 4 Kompanien von jeweils 250 Mann; insgesamt 12.000 Infanteristen;

1 Artillerieregiment, bestehend aus 12 Feldbatterien von je 6 x 135 mm Kanonen und 2 schweren Batterien mit jeweils 4 x 155 mm Kanonen (einige Divisionen hatten ein zusätzliches Schweres Haubitzen-Bataillon mit 16 x 150 mm Haubitzen);

2 Kavalleriebrigaden mit jeweils 680 Säbeln, manchmal unterstützt durch zwei eigene Geschützbatterien und einer Kompanie mit 6 schweren Maschinengewehren; da sich die Kavallerie an der Westfront als eher überflüssig erwies, wurde sie dort stark verkleinert – oft blieb nur eine Eskadron übrig. Mache Kavallerietruppen wurden aufgelöst und die Pferde den Nachschubtruppen zugeteilt. Kavallerie spielte eigentlich nur an der Ostfront als Aufklärungstruppe eine Rolle.

1 Staffel Aufklärungsflugzeuge mit sechs Maschinen, Piloten und Mechanikern;

1 Artillerie-Brigade zbV. nach dem Ermessen des Divisionskommandeurs (54 leichte 77 mm Kanonen und 18 135 mm Geschütze);

1 schwere MG-Kompanie mit 6 MGs;

1 Haubitzenbataillon mit 18 105 mm Geschützen;

Dazu Divisionstruppen und Unterstützungspersonal:

1 Battalion Pioniere;
1 Signal- und Nachrichtenabteilung mit 2 Kompanien;

1 Quartiermeisterzug mit 2 Kompanien;

1 Verwaltungskompanie;

2 Küchenkompanien (Metzger, Bäcker, Köche);

1 Feldpostamt;

1 Sanitätskorps, bestehend aus 2 Krankenhauskompanien und 4 Transportkompanien;

1 Veterinärkompanie;

1 Divisionsstabskompanie mit 4 Stäben: Kommandant, Operationsoffizier (Ia), Versorgungsoffizier (Ib) und Nachrichtenoffizier (lc);

1 Kartenraum;

1 Musikkorps und

1 Kompanie Feldpolizei (MP).

Infanterie zu Beginn des Krieges

Eine komplette Infanteriedivision bestand also aus rund 20.000 Menschen, 7.000 Pferden und einem Zug von 1.200 Versorgungswagen. Doch eine Division, die alle diese Truppen tatsächlich besaß, müsste sich in der Tat glücklich nennen – nach der ersten Schlacht mussten sich die meisten Divisionen mit der Hälfte dieser Zahlen behelfen – oder weniger. In der Praxis – nach den großen Verlusten der ersten Wochen – stellten Generalstäbe gleich ganze Korps ab, um die unabhängigen taktischen Rollen zu übernehmen, die einzelnen Divisionen vor der Schlacht zugewiesen worden waren.

Offiziere an der Ostfront

In Bezug auf die vertikale Zusammensetzung bildeten zwei Divisionen ein Korps und zwei Korps eine Armee. In der Praxis, als sich der Krieg hinzog und viele Einheiten mit kleineren Zahlen auskommen mussten, neigten Korps zu rascher Vergrößerung, manchmal bis zu vier Divisionen. Verluste hatten die durchschnittlichen Divisionsstärken schnell halbiert. Wenn ganze Divisionen nicht verfügbar waren oder aufgeteilt werden mussten, wurden Infanteriebrigaden gebildet, halbe Divisionen – zwei Regimenter Infanterie und was immer an Artillerie zur Verfügung stand.

Jedes Land wich von der Regelung in charakteristischer Weise ab. Französische Divisionen waren mit einer ganzen Brigade aus vorher festgelegten Reserven ausgestattet und während ihre Feldartillerie, die 75 – mm – Kanone , sich als ausgezeichnet erwies – besser als das deutsche 77 mm Modell – waren sie in der Regel in den größeren Artilleriekalibern schwächer. Britische Divisionen waren etwas größer und kompensierten einen anfänglichen Mangel an Maschinengewehren mit ausgezeichneter infanteristischer Treffsicherheit. Russische Divisionen – zumindest während der frühen Feldzüge – waren riesig, da sie nicht nur drei, sondern vier Infanterie-Regimenter besaßen, also sechzehn Bataillone statt zwölf. Amerikanische Divisionen waren in der Tat kolossal, etwa doppelt so groß wie deutsche.


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