Historia Occidentalis

Ein Magazin zur Zentraleuropäischen Geschichte

Schlagwort: Russland

Das Zweite Reich 1871 – 1918

Titelbild: Dieses Wandgemälde von Carl Steffeck von 1884 zeigt den französischen Generaladjutanten Reille bei der Überbringung der Kapitulation von Napoleon III bei der Schlacht von Sedan am 2. September 1870


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Nachdem Österreich-Ungarn durch den Krieg von 1866 und die Niederlage von Königgrätz an den Rand innerdeutscher Politik gedrängt worden war, übernahm Preußen die Führung der deutschen Staaten, die noch immer mehr als ein Dutzend zählten. Auf der Karte waren die Änderungen geringfügig; die Geografie des “Deutschen Bundes” wurde durch das Verschwinden Österreichs unglücklicher Verbündeter kaum verändert. Wichtigere Änderungen traten im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der deutschen Staaten auf, insbesondere im kritischen Bereich der Zollunion. Trotz fortschreitender Industrialisierung, in der direkte Steuern immer wichtiger wurden, waren Zölle nach wie vor ein großer Teil der staatlichen Einkommen.

Linguistische Karte um 1870
Linguistische Karte um 1870 mit den Grenzflüssen des “Liedes der Deutschen” von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, geschrieben am 26. August 1841

Der Deutsche Zollverein war im 19. Jahrhundert stetig gewachsen, ausgehend von seinen profanen Ursprüngen als Gemeinsamer Preußischer Zolltarif von 1828; später umfasste er die süddeutschen Königreiche Bayern und Württemberg und das Großherzogtum Baden und nachdem Österreich 1867 aus dem Bild gefallen war, trat der Großteil des Restes der deutsche Staaten bei; die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Mecklenburg und das Königreich Hannover. Im Jahr 1869 waren die geografischen Grenzen von Zollverein und Deutschem Bund nahezu identisch. Durch ein kleines Update der politischen Struktur wurde der Deutsche Bund in “Norddeutscher Bund” umbenannt; der einzig bedeutsame Unterschied war die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer im Alter von über einundzwanzig Jahren.

Erstaunlicherweise deckten die ersten Wahlergebnisse unter den neuen Bedingungen eine seltene Fehleinschätzung Otto von Bismarcks auf: Er war davon ausgegangen, dass der Sieg über Österreich am meisten seinen konservativen parlamentarischen Verbündeten zugutekommen würde, aber im  Fall der Fälle ging die Mehrheit der Sitze an seine Gegner, die Liberalen, und einige sogar an seine Todfeinde, an die Sozialdemokraten und an das katholische Zentrum. Aufgrund dieser überraschenden Pflichtvergessenheit der deutschen Wähler wurden Bismarcks weitere Pläne nun mit einigen parlamentarischen Hemmnissen konfrontiert, aber der Eiserne Kanzler erwies sich als Meister darin, solch triviale Herausforderungen zu umgehen.

Seine Überlegungen im Hinblick auf eine mögliche deutsche Einigung gingen von der Ansicht aus, dass, durch die Leidenschaften eines Krieges, die Deutschen wiederum – wie 1866 – politische Hürden überwinden könnten. Falls die südlichen Staaten, insbesondere die ausgesprochen unabhängigen Königreiche Bayern und Württemberg, zögerten, seiner Führung zu folgen, könnten der Eifer eines erneuten Krieges den Ausschlag der Waage bewirken.

Ein geeigneter Gegner und Buhmann wurde leicht identifiziert in der Person von Napoleon III., Kaiser von Frankreich.

Seit 1815 hatten keine offenen Feindseligkeiten zwischen Frankreich und Preußen stattgefunden hatten, aber Bismarck – aufgrund der Erfahrungen, die er in den 1850er Jahren als preußischer Botschafter in Paris gemacht hatte – hatte  klare Ideen, welche Knöpfe zu drücken waren, um Frankreich in patriotischer Kriegsbereitschaft zu entflammen.

Napoleon III., Neffe und Nachfolger des großen Korsen, der sich 1852 zum Kaiser von Frankreich ausgerufen hatte, brauchte dringend frischen militärischen – oder auch jeden anderen Ruhm. Sein Eingreifen in Mexiko zur Unterstützung von Kaiser Maximilian hatte in einer kompletten Katastrophe geendet [1861-1867] und der Glanz der französischen Waffen  war dringend restaurierungsbedürftig. Er hatte die Entstehung Preußens als neue deutsche Zentralmacht mit Abneigung betrachtet; nicht so sehr wegen seiner Prinzipien – solche hatte er nicht – sondern weil er den Erwerb des Herzogtums Luxemburg für Frankreich gerne als Preis für seine Neutralität im Prusso-Österreichischen Krieg von 1866 gesehen hätte. Er war wütend, als Bismarck nach dem Sieg erklärte, dass, da Luxemburg nicht zu Preußen gehöre, man es nicht an Frankreich abtreten könne.

Bismarck konferierte mit Graf Helmuth von Moltke, dem Chef des preußischen Generalstabs, über die Chancen eines Preußisch-Französischen Krieges. Moltke schätzte, dass ein Erfolg wahrscheinlich sei, und Bismarck begann nach einer günstigen Gelegenheit zum Krieg, nach einem Casus Belli, zu suchen. Er musste nicht lange warten.

Otto von Bismarck, Kriegsminster von Roon und Chef des Generalstabs Graf Helmuth von Moltke (der Ältere)
Otto von Bismarck, Kriegsminster Albrecht von Roon und Chef des Generalstabs Graf Helmuth von Moltke (der Ältere)

Im Jahr 1869 war der spanische Thron wieder einmal heftig umstritten und nach langer Diskussion beschloss der spanische Kronrat, die Krone einem Vetter Wilhelms, dem Prinzen  Leopold von Hohenzollern anzubieten, aus der schwäbischen, katholischen Seitenlinie der Hohenzollern. Als die Nachricht über das spanische Angebot und die Akzeptanz des Prinzen Paris erreichte, interpretierten sowohl Kaiser Napoleon als auch seine loyalen Untertanen die Botschaft aus Madrid als Beweis für eine erneute Verschwörung Deutschlands, Frankreich zu umzingeln. Wachsamkeit und natürlich die Ehre der französischen Nation geboten, sofort die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um das geplante Verbrechen im Keim zu ersticken.

Der französische Botschafter in Preußen, Vincent Benedetti, wurde also mit dringender Botschaft nach Bad Ems geschickt, wo Wilhelm zur Kur weilte. Benedettis Mission bestand darin, zwei Forderungen Napoleons zu überbringen. Erstens müsse Prinz Leopolds Zusage sofort widerrufen werden und zweitens müsse Wilhelm, in seiner Eigenschaft als Chef der Familie Hohenzollern, eine öffentliche Erklärung abgeben, dass auf keinen Fall ein Prinz des Hauses ein spanisches Angebot annehmen werde, sollte es erneuert werden.

Die Forderungen waren, um es gelinde auszudrücken, ziemlich starker Tobak, denn Napoleon III. hatte in dieser Sache weder Anlass noch Autorität. Wilhelm ließ bestellen, dass nichts den Kaiser von Frankreich daran hindere, das Thema mit Prinz Leopold selbst zu diskutieren – dieser sei ein erwachsener Mann, und er, Wilhelm, wäre nicht seine Mutter. In Bezug auf die zweite Forderung wies Wilhelm auf seinen Mangel an Autorität hin, für zukünftige Generationen von Hohenzollern Zusagen abgeben zu können. Benedetti kabelte nach Paris, berichtete Wilhelms Antworten, und es wurde ihm befohlen, um eine zweites Audienz zu bitten und Napoleons Anfragen zu wiederholen. Solch wiederholten Anfragen waren nicht gerade guter diplomatischer Stil. Wilhelms Sekretär Heinrich Abeken fasste das zweite Interview in einem Telegramm an Bismarck zusammen:

Seine Majestät, der König, hat mir geschrieben:

Graf Benedetti hat mich auf der Promenade abgefangen und von mir in einer sehr inopportunen Manier gefordert, dass ich ihn ermächtigen sollte, sofort zu telegrafieren, dass ich mich auf ewig gebunden hätte, nie wieder meine Zustimmung zu geben, falls die Hohenzollern ihre Kandidatur erneuerten.

Ich habe diese Forderung etwas streng abgelehnt, da es weder richtig noch möglich ist, Verpflichtungen solcher Art [für immer und ewig] einzugehen. Natürlich erzählte ich ihm, dass ich noch keine Nachrichten erhalten hatte und da er über Paris und Madrid besser informiert wäre als ich, müsse ihm klar sein, dass meine Regierung in diesem Falle nicht betroffen war.

[Auf Anraten eines seiner Minister] entschied sich der König – angesichts der oben genannten Forderungen – Graf Benedetti nicht mehr zu empfangen, aber er ließ ihn von einem Adjutanten ausrichten, dass Seine Majestät mittlerweile von Leopold eine Bestätigung seines Thronverzichts erhalten habe, was Benedetti bereits aus Paris wisse, und er dem Botschafter daher nichts weiter zu sagen hätte.

Seine Majestät legt Ihrer Exzellenz (dem Adressaten) nahe, dass Benedettis neue Forderungen und ihre Ablehnung sowohl an unsere Botschafter als auch an die Presse kommuniziert werden sollten. [29]

Bismarck redigierte den Text ein wenig und leitete ihn an das französische Pressebüro HAVAS weiter:

Nachdem die Nachricht vom Verzicht des Fürsten von Hohenzollern dem Kaiser von der Königlich Spanischen Regierung mitgeteilt worden war, stellte die französische Regierung, durch den französische Botschafter in Ems, eine weitere Forderung an Seine Majestät den König; dass er den Botschafter ermächtigen sollte, nach Paris zu senden, dass Seine Majestät der König sich zu jeder Zeit verpflichte, nie wieder seine Zustimmung zu erteilen, sollten die Hohenzollern ihre Kandidatur wiederaufgreifen.

 Seine Majestät der König lehnte es daraufhin ab, den Botschafter erneut zu empfangen, und ließ ihm vom diensthabenden Adjutanten ausrichten, dass Seine Majestät keine weitere Mitteilung mehr an den Botschafter zu richten habe. [30]

Bismarcks Entwurf der Emser Depesche
Bismarcks Entwurf der Emser Depesche

Dadurch bekam die Botschaft einen neuen Twist:

Er (Bismarck) schnitt Wilhelms versöhnliche Phrasen aus und betonte die eigentliche Frage. Die Franzosen hatten Forderungen unter Androhung von Krieg gestellt und Wilhelm hatte sie abgelehnt. Dies war keine Fälschung; es war die klare Wiedergabe der Fakten. Sicherlich erweckte die Bearbeitung des Telegramms, das am Abend desselben Tages (13. Juli) an die Medien und die ausländischen Botschaften veröffentlicht wurde, den Eindruck, dass Benedetti etwas zu fordernd war und der König äußerst abrupt. Sie sollte den Franzosen den Eindruck vermitteln,  König Wilhelm I. habe Graf Benedetti beleidigt – andersherum interpretierten die Deutschen das modifizierte Telegramm so, dass der Graf ihren König beleidigt habe. …

Die französische Übersetzung der Agentur Havas änderte die Forderung des Botschafters („il a exigé“ – ‘er hat gefordert’) in eine Frage um. Das deutsche “Adjutant”, was auf einen hochrangigen Mitarbeiter des Königs  (Aide-de-camp) verweist, wurde nicht übersetzt, sondern auf Französisch belassen, wo es nur einen Unteroffizier (Adjudant) bedeutet – was darauf hindeuten sollte, dass der König den Botschafter absichtlich beleidigt hatte, indem er einen Soldaten mit niedrigem Rang auswählte, um ihm die Nachricht zu übermitteln. Dies war die Version die die meisten Zeitungen am folgenden Tag, der auch noch zufällig der 14. Juli (Feiertag der Erstürmung der Bastille) war, veröffentlichten, und damit die Franzosen glauben ließen, dass der König ihren Botschafter absichtlich beleidigt hatte noch bevor der Botschafter seine Geschichte erzählen konnte. …

Die falsche Einschätzung Frankreichs in Bezug auf seine eigene Position in der Sache entflammte die Dinge weit über das Notwendige heraus und Frankreich begann zu mobilisieren. Nach weiteren unsachgemäßen Übersetzungen und Fehlinterpretationen des Telegramms in der Presse, verlangten aufgeregte Massen in Paris den Krieg, genau wie Bismarck es erwartet hatte. Die Emser Depesche hatte nun auch in Deutschland die nationalen Gefühle aufgeputscht. Es ging jetzt nicht mehr nur um Preußen alleine; aller süddeutsche Partikularismus wurde verworfen.

Benedetti, der Beauftragte des französischen Außenministers Herzog Antoine Alfred Agénors de Gramont  für dessen sinnlose Forderungen (die Hohenzollern-Sigmaringer hatten die Kandidatur von Prinz Leopold schon am 11. Juli 1870 mit Wilhelms „voller und uneingeschränkte Zustimmung“  zurückgezogen), wurde zu einem unsichtbaren Nebendarsteller; seine eigenen Schreiben an Paris spielten keine Rolle mehr. Mit überwältigender Mehrheit stimmten Parlament und Regierung für Kriegskredite und Frankreich erklärte Preußen den Krieg am 19. Juli 1870. [31]

Genau das hatte Bismarck erwartet. In einer Reihe von geheimen Verträgen mit den süd- und mitteldeutschen Staaten seit 1866 hatte er den Grundstein für den nun eingetretenen Fall gelegt – Krieg mit Frankreich. Für den Fall, dass Frankreich Preußen den Krieg erklärte, hatten die übrigen deutschen Staaten Preußen militärische Unterstützung zugesagt. Zwei weitere Vereinbarungen, die Bismarck mit Russland und Österreich sub-rosa verhandelt hatte, sicherten deren Neutralität bei den Ereignissen, die sich nun entfalteten. Napoleon konnte keinen einzigen Verbündeten finden und die deutschen Länder, die er ursprünglich für sich hatte gewinnen wollen, marschierten nun an der Seite von Preußen, um den dritten Bonaparte zu besiegen, so wie sie den ersten besiegt hatten.

Zum ersten Mal seit der Niederlage der Türken in Wien im 17. Jahrhundert erschien eine gemeinsame deutsche Armee auf dem Feld. Der Feldzug von 1870 wurde daraufhin zur Apotheose moderner militärischer Planung, weil er weitgehend so lief wie geplant. Zum ersten Mal in einem bedeutenden europäischen Krieg wurden die Eisenbahnlinien zum Hauptmittel des Truppentransports und Koordination der Zugbewegungen der entscheidende Faktor für die richtige Anlieferung und den späteren Einsatz der Kräfte. Die Eröffnungsgefechte an den Grenzen wurden größtenteils gewonnen, so wie Moltke es erwartet hatte, und gefolgt von einem groß angelegten Stoß nach Lothringen. Die Hauptachse des Angriffs zielte auf die Maas, von deren Überquerung die Franzosen den Feind um jeden Preis abhalten mussten, denn sie war die letzte natürliche Verteidigungslinie auf dem Weg nach Paris.

Schlacht bei Sedan, 1. und 2. September 1870
Schlacht bei Sedan, 1. und 2. September 1870

Napoleon III. war selbst nach Sedan gereist, wo die französischen Truppen konzentriert waren. Moltkes Plan war es, durch die gleichzeitige Vorwärtsbewegung zweier Zangen nördlich und südlich ihrer Defensivposition die französische Armee einzuschließen und den Fluss zu verwenden, um ihren eventuellen Rückzug zu blockieren. Die Operation war erfolgreich und am 2. September 1870 mussten sich Napoleon III und die französische Armee ergeben. Zahlenmäßig wurde die Schlacht von Sedan zum größten Sieg in modernen Zeiten, der in einer einzigen Begegnung erreicht wurde; über 100.000 französische Soldaten mussten in Gefangenschaft marschieren. Die Kapitulation des Kaisers besiegelte den endgültigen Erfolg, selbst wenn die deutschen Soldaten durch Aufräumarbeiten und die langwierige Belagerung von Paris noch ein paar Monate beschäftigt blieben.

Bismarck und Napoleon nach der Schlacht von Sedan
Bismarck und Napoleon nach der Schlacht von Sedan
Der Spiegelsaal von Versailles
Der Spiegelsaal von Versailles

Am 18. Januar 1871 versammelten sich die deutschen Fürsten im großen Spiegelsaal des Schlosses von Versailles und erklärten die Gründung eines neuen “Deutschen Reiches“. Sie wählten einstimmig Wilhelm I., König in Preußen, zur neuen Würde des „Deutschen Kaisers“ [nicht ‚Kaiser von Deutschland‘]. Da das neue Staatswesen technisch gesehen nur eine „ewige“ Föderation von souveränen Fürsten war, die in verschiedener Hinsicht unabhängig blieben – wie der Vertrag es bestimmte – war und wurde das Zweite Reich nie ein zentralisierter Staat wie Frankreich oder Russland.

Das berühmte Bild Anton von Werners - Kaiserproklamation am 18. Januar 1871
Das berühmte Bild Anton von Werners – Kaiserproklamation am 18. Januar 1871
Siegesparade durch Paris am 1. März 1871
Siegesparade durch Paris am 1. März 1871
Siegesfeier in Berlin
Siegesfeier in Berlin

Doch schon bald traten Mängel in Bismarcks großem Entwurf auf, der treffend als “Revolution von oben” bezeichnet wird. Die Vereinigung war nicht auf den Willen des deutschen Volkes zurückzuführen, sondern auf einen Bund von 36 deutschen Fürsten, die sich zwar einig waren, einen von ihnen zum Kaiser zu erheben, aber sonst in wenig anderem. Die deutsche Bourgeoisie hatte nicht erreichen können, was den Bürger der Vereinigten Staaten, Englands oder Frankreichs zugesichert worden war, nämlich politische Emanzipation: nicht aus Mangel an Versuchen, sondern durch die blutige Niederschlagung der Reformbewegung von 1848. Die Bemühungen der deutschen Bevölkerung waren zusammengebrochen in den Horrorbildern von Soldaten, die auf ihre eigenen Familien schossen und erstickt durch den Terror politischer Polizei. Diese schrecklichen Erfahrungen dürfen keinesfalls unterschätzt werden: zusammen mit den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, die noch tief im volkstümlichen Unterbewusstsein lebten, erklären sie vieles von der politischen Apathie, die vor 1871 in Deutschland herrschte. Für die Bourgeoisie verstärkte Bismarcks “Revolution von oben” nur das Gefühl, von politischen Entscheidungen ausgeschlossen zu sein. Peter Watson erklärt:

In einem echten Sinn und wie es Gordon Craig betont hat, haben die einfachen Menschen in Deutschland keine Rolle bei der Gründung des Reiches gespielt. “Der neue Staat war ein ‚Geschenk‘ an die Nation, zu der der Empfänger nicht befragt worden war.”  Seine Verfassung war nicht verdient oder erkämpft worden; sie war nur ein Vertrag zwischen den Fürsten der bestehenden deutschen Staaten, die ihre Kronen bis 1918 behielten.

Für unser modernes Denken hatte dies einige außergewöhnliche Konsequenzen. Ein Ergebnis war, dass das Reich ein Parlament ohne Macht, hatte, politische Parteien ohne Zugang zu Regierungsverantwortung und Wahlen, deren Ergebnis nicht die Zusammensetzung der Regierung bestimmte. Dies war alles ganz anders – und noch viel weiter rückwärtsgewandt – als was es unter den deutschen Konkurrenten im Westen gab. Die Angelegenheiten des Staates verblieben in den Händen des Landadels, obwohl Deutschland zu einer Industriemacht geworden war. Um so mehr und mehr Menschen zu den industriellen, wissenschaftlichen und intellektuellen Erfolgen Deutschlands beitrugen, desto mehr fiel es auf, dass das Land von einer sehr kleinen Gruppe traditioneller Figuren regiert wurde – ländliche Aristokraten und militärische Befehlshaber –  an deren Spitze der Kaiser selbst. Dieses Missverhältnis wurde für das politische Bewusstsein des “Deutschtums” im Vorfeld des Ersten Weltkrieges von grundlegender Bedeutung.

Es war einer der größten Anachronismen der Geschichte und hatte zwei Auswirkungen, die uns hier direkt beschäftigen. Die Mittelklasse, politisch ausgeschlossen und dennoch bestrebt, ein gewisses Maß an Gleichheit zu erreichen, griff auf Bildung und Kultur zurück, also Schlüsselbereiche, in denen Erfolge erzielt werden konnte – Gleichheit mit der Aristokratie und Überlegenheit im Vergleich zu vielen Ausländern in einer wettbewerbsfähigen, nationalistischen Welt. “Hochkultur” war daher im Kaiserreich immer wichtiger als anderswo und das ist ein Grund, warum … sie in der Zeit von 1871 bis 1933 so gut gedieh. Aber dies gab der deutschen Kultur einen eigentümlich schizoiden Ton: Freiheit, Gleichheit und persönliche Unterscheidungskraft verblieben tendenziell im “Inneren” Heiligtum” des Individuums, während die Gesellschaft oft als eine ” willkürliche, oberflächliche und häufig feindliche Welt dargestellt wurde.”

Wilhelm II

Der zweite Effekt, der sich mit dem ersten überschneidet, war ein Rückzug in den Nationalismus, jedoch  in einen klassenbasierten Nationalismus, der sich gegen die neu geschaffene industrielle Arbeiterklasse (und den erwachenden Sozialismus) richtete, gegen Juden und nichtdeutsche Minderheiten. “Nationalismus wurde als eine Möglichkeit sozialen Fortschritt mit utopischen Möglichkeiten gesehen.”

Vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Massengesellschaft betrachtete die gebildete Mittelschicht Kultur als ein Netz stabiler Werte, die ihr Leben verbesserten, sie vom “Pöbel” (Freuds Wort) abhoben und insbesondere ihre nationalistische Orientierung verstärkte. Das “Volk”, ein semi-mystisches, nostalgisches Ideal wie ganz normale Deutsche einmal gewesen wären – ein zufriedenes, talentiertes, unpolitisches, “reines” Volk – war zu einem populären Stereotyp in Deutschland geworden. [32]

Es ist wohl fast unnötig zu erwähnen, dass solche “zufriedenen, unpolitischen und reinen” Menschen” niemals außerhalb der Vorstellung von übereifrigen Geschichtsprofessoren und rassistischen Journalisten existierten. Aber der Stereotyp “Volk” funktionierte und führte zu einer Art gegen Sozialdemokratie und Katholiken gerichteten Nationalismus, der nicht wirklich gegen andere Nationen gerichtet war, sondern gegen den “inneren Feind” – Liberale, Demokraten, Sozialisten, Katholiken, Juden und so weiter – gegen deren “Internationalismus” die preußischen säkularen und protestantischen kirchlichen Behörden nie müde wurden zu warnen. Es war im Wesentlichen ein Nationalismus der oberen Gesellschaftsschichten, der versuchte, die Unterstützung der bürgerlichen Mittelschicht gegen die verschiedenen Feinde der “Kultur“zu schüren, erhalten und einzubinden. Dieser Nationalismus des Zweiten Reiches lief fast auf eine Negation der Auswirkungen der Industrialisierung hinaus, der Moderne, in gewisser Weise sogar der Aufklärung. Sein Charakter blieb mittelalterlich.

Berlin, Unter den Linden, ca. 1900

Der Kern dieses “inneren” Nationalismus formte in den Jahren nach der Reichsgründung des Nukleus der “Völkischen Bewegung“, der wir – und die Welt – mehr oder weniger den Ersten und Zweiten Weltkrieg verdanken. Sie absorbierte die “blutige Romantik” der napoleonischen Zeit [siehe dazu einen Artikel von Elke Schäfer] und wurde von der Elite später als nützliche Idioten wahrgenommen und benutzt. Nicht umsonst hatten die idealisierten Darstellungen der “Germania”, unten zwei von Philip Veit, immer Schwerter in der Hand.

Als zum Beispiel eine „Deutsche Arbeiterpartei“ in Böhmen (d. h. technisch gesehen Österreich) vor dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde, war es nicht das Ziel dieser Partei, die Sache der Arbeiterklasse voranzutreiben, wie man naiverweise annehmen könnte, sondern den Schutz und Vorrang der Interessen deutscher Arbeiter gegenüber tschechischen oder mährischen Arbeitern sicherzustellen. Das deutsche Volk blieb indes ein politisches Mündel der alten Eliten, die absolut nicht gewillt waren, die kostbare Autorität aufzugeben, die sie nach den Schocks der Revolutionen von 1789 und 1848 und der napoleonischen Kriege gerade mal so wiedergewonnen hatten. Die Verfassung, die der Adel nach seinen Bedürfnissen und Ängsten 1871 maßschneiderte, konnte man in ihrer offensichtlichen Furcht vor Demokratie und Liberalismus mit gutem Grund anachronistisch nennen.

Denn den “zufriedenen, unpolitischen und reinen” Deutschen, die das offizielle Kaiserreich beschwor, ging es nicht gut, falls sie nicht gerade als Adelige geboren waren. Die deutsche Industrialisierung ging über Leichen – Bismarcks spätere Sozialgesetzgebung entstand nicht aus seinem Herzblut für die Leiden der Arbeiterklasse, sondern waren seine minimalen Zugeständnisse, die sozialistische Revolution zu verhindern. Es gab inoffizielle Sklaverei – die Schwabenkinder – und die Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse in den Großstädten waren unbeschreiblich schlecht. Zwischen 1870 und 1919 wanderten alleine 3.279.021 Deutsche nach den USA aus.

Kinderarbeit
Kinderarbeit

Der verfassungsrechtliche Rahmen des Deutschen Reiches … unterschied sich in wichtigen Punkten stark von dem Großbritanniens oder Frankreich, deren unterschiedlich strukturierte, aber relativ flexible parlamentarische Demokratien ein besseres Potenzial boten, den sozialen und politischen Anforderungen gerecht zu werden, die sich aus dem raschen wirtschaftlichen Wandel ergeben.

In Deutschland wurde das Wachstum des parteipolitischen Pluralismus, der sich im Reichstag manifestierte, nicht in parlamentarische Demokratie übertragen. Mächtige Interessen – große Grundbesitzer, … das Offizierskorps der Armee, die obersten Ebene der Staatsbürokratie, selbst die meisten Reichstagsparteien setzten ihre Blockade fort.

Der Reichskanzler blieb ein Angestellter des Kaisers, der ihn jederzeit ernennen oder entlassen konnte, unabhängig von den Kräfteverhältnissen im Reichstag. Die Regierung selbst stand über dem Reichstag, unabhängig von der Parteipolitik – zumindest in der Theorie. Wichtige politische Bereiche, insbesondere die außenpolitischen und militärischen Angelegenheiten, lagen außerhalb parlamentarischer Kontrolle.

Die Macht wurde – angesichts des zunehmenden Drucks nach radikalen Veränderungen – von den bedrängten Kräften der alten Ordnung eifersüchtig bewacht. Einige von ihnen, die zunehmend Angst vor der Revolution hatten, waren sogar bereit, über Krieg nachzudenken – als eine Möglichkeit, an der Macht festzuhalten und die Bedrohung durch den Sozialismus abzuwehren. [33]

Diese Bereitschaft war jedoch nicht auf Deutschland beschränkt: die meisten reaktionäreren Monarchien des Kontinents, insbesondere Russland, aber auch Italien, Spanien und einige Balkanländer, fürchteten die Sozialisten viel mehr als die Armeen der anderen Fürsten, mit denen man sich immer arrangieren konnte. Die Gründung der Sozialistischen Internationale (SI) erwies sich als Schreckgespenst der Monarchien. Aber was auch immer die wirkliche Bedrohung durch den Sozialismus oder irgend einer anderen modernen Entwicklung bedeuten mochte, das Zweite Reich personifizierte in gewissen Hinsichten, vor allem in seinen inneren Beziehungen, einen deutlich vormodernen Charakter – als hätte sich seit 1806 nichts verändert. Man sieht es am deutlichsten in …

… der föderalen Struktur des Reiches, die den Rechten und Befindlichkeiten insbesondere der süddeutschen Bundesländer Rechnung zu tragen versuchte. Die Gründung einer badischen Gesandtschaft in Berlin und einer preußischen in Karlsruhe (der Hauptstadt von Baden) ist ein Hinweis auf den bemerkenswert “unfertigen” Charakter der Struktur des Reiches – es ist, als wäre die Entwicklung hin zu einer modernen, einheitlichen Verfassungsstruktur auf halbem Weg stehengeblieben.

Aber das föderale System des Kaiserreichs ging noch weiter: 1894 wurden auch in München und Stuttgart badische Gesandtschaften eröffnet und etwas später schlug Russland sogar vor, einen russischen Militärattaché in Bayern zu stationieren. Diese Botschaften waren nicht bloß Institutionen aus Höflichkeit, sondern repräsentierten einen wichtiger Bestandteil der politischen Struktur des Reiches, und sie waren ein Hinweis darauf, dass das kleinere Deutsche Reich (ohne Österreich), durch Krieg und Diplomatie geschmiedet, in vielerlei Hinsicht sogar nach seiner sogenannten Vereinigung mit außenpolitischen Methoden regiert wurde.

Deutsches Reich 1871 - 1918
Deutsches Reich 1871 – 1918

Ein verwandtes Problem, über das sich die badischen Gesandten häufig beschwerten, war der Fortbestand und das konstante Wachstum des Partikularismus, insbesondere in Bayern. Der aufmerksame badische Gesandte in München, Baron Ferdinand von Bodman, berichtete im Dezember 1895 aus der bayerischen Landeshauptstadt, dass “unter dem Einfluss des alles beherrschenden Hofes und der österreichisch-klerikalen (Katholischen) Partei, alle Maßnahmen … auf den Aufbau Bayerns als autarkem Staat … gerichtet sind.“ Vor allem in den beiden bayerischen Armeekorps, so Bodman, „werden das Reich und der Kaiser, sein Kopf, so weit wie möglich eliminiert.”

Graf Anton Monts, der preußische Gesandte in München, war überzeugt, dass “ein Prozess der Distanzierung von dem Reich stattfände”, so berichtete Bodman weiter. Ebenso beobachtete der kluge Arthur von Brauer, der  viele Jahre unter Bismarck gedient hatte, im Mai 1893, dass der bayerische Partikularismus enorme Fortschritte mache. Er schrieb an den Großherzog: ” … dass unter dem Einfluss der altbayerischen Partei die monströse Idee immer mehr an Boden gewinnt, dass Süddeutschland unter die besondere Hegemonie Bayerns gestellt werden sollte, so wie Norddeutschland unter die von Preußen. ” 1898 fühlte sich der Großherzog von Baden selbst gezwungen, die Reichsregierung vor einer Annäherung an die katholische Zentrumspartei zu warnen, da es das Ziel dieser Partei war “das heutige Reich zu zerstören, um eine neue Bundesverfassung mit einem katholischen Kopf an der Spitze zu schaffen.“

Ob sie nun auf einer nüchternen Einschätzung objektiver Umstände beruhten oder letztendlich nur in psychologischer Hinsicht erklärbar sind, sind solche Angstkomplexe doch von allergrößter Bedeutung für die Beurteilung der politischen Kultur des wilhelminischen Deutschland. [34]

Der Kaiser und seine Söhne

Diese Analyse von John Röhl identifiziert den einen psychologischen Faktor in der Politik des neuen Imperiums, aber es gab noch eine andere, unausgesprochene, psychologische Implikation. Das Reich, das Bismarck eine letztendlich “über eine stark fragmentierte Gesellschaft gelegte” Konstruktion genannt hatte, war eine Formel geboren aus der Notwendigkeit, der spezifischen deutschen Situation, vor allem ihrem politischen Partikularismus, Rechnung zu tragen; somit musste Nationalismus und Zusammenhalt von außen her beigebracht bzw. geschaffen werden, und zwar von oben nach unten statt von unten nach oben und durch die Menschen selber. Ausschlaggebend war für Bismarck jedoch, dass das Ergebnis akzeptabel für seinen König sein würde, anders als die Krone von 1849. Im Wesentlichen jedoch wurden einfach die neuen Kleider des Kaisers über das gleiche, alte und autoritäre preußische Regime gehängt.


Fußnoten: [29] [30] [31] Heinrich Abeken, Otto von Bismarck – Emser Depesche siehe Wikipedia

[32] Watson, Peter, The German Genius, Harper Collins 2010, ISBN 978-0-06-076022-9, S. 112 – 113

[33] [34] Röhl, John C.G., The Kaiser and his Court, Cambridge University Press, ISBN 0-521-56504-9, S. 112 – 113 und 153 – 154

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Zur Kriegserklärung Österreich-Ungarns

Österreichisches Außenministerium am Ballhausplatz
Österreichisches Außenministerium am Ballhausplatz

Dieser Beitrag entsprang ursprünglich einer Fußnote (Nr. 77, siehe da, in “The Origins of World War I” [Richard F. Hamilton und Holger H. Herwig (Ed.), Cambridge University Press 2003, ISBN 978–0-521-81735-6 (hc.), S. 145], und zwar in Graydon A. Tunstall, Jr’s Kapitel über Österreich-Ungarn, die da lautet:

Ein anderes Mitglied des Auswärtigen Amtes, das in einigen Berichten über die Entscheidungsfindung auftaucht, ist Baron Alexander von Musulin, Forgachs Vertrauter am Ballhausplatz. Er war Botschafter in Moskau gewesen; später in Belgrad und 1901 zurück in Moskau. Aber er war nicht direkt in die frühen Diskussionen involviert und diente später auch nur noch in instrumenteller Funktion: Als versierter Schriftsteller wurde er aufgefordert, das Ultimatum zu formulieren. Später wurde er gebeten, eine Antwort auf die serbischen Kommentare zum Ultimatum der Monarchie zu schreiben, die ebenfalls in den europäischen Hauptstädte verteilt werden sollte. Seine Memoiren, die 1924 veröffentlicht wurden, enthalten einen Bericht, der stark von dem hier im Text angegebenen Bericht abweicht. Die auffälligste Aussage: “Im Außenministerium glaubte man nicht, dass das Ultimatum zum Krieg führen würde.” (in Alexander Musulin, Das Haus am Ballplatz: Erinnerungen eines österreichisch-ungarischen Diplomaten (München, 1924), p. 227). Musulins Memoiren enthalten mehrere andere Kuriositäten: “Die führenden Staatsmänner der Monarchie glaubten, dass sich die Solidarität europäischer Konservativer und dynastischer Interessen auch im Jahr 1914 manifestieren würde, und dies glaubten sie insbesondere im Hinblick auf Russland.” (S.228).

In einer weiteren Fußnote, Nr. 78, ebenda, wird auch sein Vorgesetzter und Kollege János Forgách zitiert, mit einem Auszug aus seinem Brief vom 16. Juli an den k. u. k. Botschafter in Italien, in dem er schreibt: “Wenn überhaupt möglich, wollen wir alle natürlich einen Weltkrieg verhindern, auch wenn Deutschland wohl darauf vorbereitet ist, einen alleine zu führen.” Wie sind diese Äußerungen mit den späteren Geschehnissen zu vereinen? Wer also schwindelt hier, und warum?

Bei näherer Betrachtung ergeben sich jede Menge Ungereimtheiten. Ein Blick in die verfügbare englischsprachige Literatur erweist schnell, dass Musulins und Forgáchs Beiträge kaum erwähnt werden, obwohl Luigi Albertini (“The Bedrock of Discussion” in den Worten John Keegans) Musulin in seinem grundlegenden Werk [“The Origins of the War of 1914”, Original 1952 Oxford University Press, Enigma Books 2005, ISBN 1-292631-31-6, -32-4 und -33-2] neunzehnmal erwähnt bzw. zitiert, in dem für die Tage der Julikrise am meisten relevanten zweiten Band alleine vierzehnmal, und Forgách [u.a. Gesandter in Belgrad von 1907 bis 1911] auch vierzehnmal.

Wie aus seinen Kurzbiografien (hier und hier) zu entnehmen ist, war Musulin als Gesandtschaftsattaché sowohl in Moskau als auch in Belgrad tätig. 1908 wurde er zum außerordentlichen Gesandten befördert und leitete von 1910 bis 1916 die Kirchenpolitischen bzw. Ostasiatischen Referate. Nicht verzeichnet in diesen Abrissen sind die Tätigkeiten für Minister Alois Lexa von Aerenthal – der sein früher Förderer war – dem er schon im Verlauf der Bosnischen Annexionskrise 1908 zuarbeitete (Albertini I, p. 192) und mit ihm den Kaiser in Ischl traf (I, p.198) um die Reaktion der Slawen auf die Annexion zu besprechen (I, p.222). 1913 schrieb er, als gebürtiger Kroate, einen Bericht über das wachsende serbische Nationalbewusstsein,

Nun zu den o.a. Kernaussagen. Luigi Albertini schreibt:

Als der gegenwärtige Schriftsteller diese Frage Musulin, einem sehr hochrangigen ehemaligen Beamten am Ballplatz, stellte, antwortete er, Berchtold habe erstens bis zum 31. Juli nicht an einen Krieg geglaubt, und zweitens war er gemeinsam mit allen Anwesenden am Ballplatz fest davon überzeugt, dass Italien sich im Falle des Ausbruchs eines europäischen Krieges dem Dreibund anschließen würde. Daher widmete er seine Aufmerksamkeit nicht Italien, sondern Montenegro, dessen Neutralität Russland beeinflussen könnte, während in Wirklichkeit die italienische Haltung als ausschlaggebender Faktor angesehen werden musste. Die Wahrheit ist, dass, wie Musulin den gegenwärtigen Schriftsteller schrieb:

“… um das Kriegsglück zu unseren Gunsten wenden, hätte es für Italien genügt, auch ohne Kriegserklärung mehrere Armeekorps an die französische Grenze zu schicken.” (um Kräfte zu binden, Anm. d. Verf.)

Der überzeugendste Teil der obigen Erklärung aber ist, dass Berchtold hoffte, dass es keinen europäischen Krieg geben würde und dass der Streit mit Serbien letztendlich behoben werden könne. (Albertini II, p.222)

Das Interessante an Musulins Darstellung ist, dass sie der gängigen Interpretation widerspricht, nach der, nachdem der anfängliche Widerstand des ungarischen Premierministers István Tisza gegen Krieg während der Kronkonferenz am 7. Juli eine Woche später durch hartnäckiges Argumentieren überwunden worden war, die gesamte Regierung Krieg wollte – die Frage ist, wer war die Regierung?

Österreich-Ungarn hatte keine gemeinsame Verfassung. Die sogenannte Dezemberverfassung, in Kraft gesetzt am 21. Dezember 1867 von Kaiser Franz Joseph, bestand aus fünf Staatsgrundgesetzen und einem Delegationsgesetz, das zusammen mit der Pragmatischen Sanktion von 1713 (welche die habsburgische Erbfolge regelte), die Grundlage für Österreich bildete, jedoch nur für diese cisleithanischen, d.h. nicht-ungarischen Landesteile galt. In Ungarn war die Verfassung von 1848 mit kleineren Abänderungen wiederhergestellt worden, doch die weitere Anbindung an Österreich erfolgte nur aufgrund von Vereinbarungen, die die Schaffung drei gemeinsamer Ministerien (Außenministerium, Kriegsministerium und Finanzministerium – dieses jedoch nur soweit Rüstungsausgaben betroffen waren) vorsahen, die im Ministerrat für Gemeinsame Angelegenheiten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zusammentraten. Es wurde von ungarischer Seite sehr viel Wert darauf gelegt, dieses Gremium nicht als eine gemeinsame Regierung anzusehen, und daher wurden diese Institutionen nur als “K & K”, ‘kaiserlich und königliche’ Ämter bezeichnet – denn einen persönlichen Treueid auf Franz Joseph als König Ungarns hatten die Ungarn abgelegt. Der Außenminister war Vorsitzender, einen Kanzler bzw. Regierungschef des Gesamtreiches gab es nicht.

Chaos pur - Österreich-Ungarn
Chaos pur – Österreich-Ungarn

Auch Christopher Clark, der in “The Sleepwalkers” [Allen Lane, 2012, ISBN 978-0-713-999-42-6, p. 170 ff.] auf die Frage eingeht “Wer regierte eigentlich in X, Y, Z …”, bleibt in Bezug auf Österreich-Ungarn merkwürdig zurückhaltend. “Austro-Hungarian foreign policy was shaped not by the executive fiats of the Emperor, but by the interaction of factions and lobbies within and around the ministry.” (p.183) Er meint hier das Außenministerium – im Kriegsministerium war man sich in der Befürwortung, nein, der Erwartung des Krieges unter den rabiaten Falken Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf und Kriegsminister Alexander von Krobatin längst einig. War das Außenministerium aber tatsächlich federführend?

Was dachte der Außenminister Leopold Berchtold? Von 1906 bis 1911 war er Botschafter in Moskau und spielte eine Rolle als Handlanger von Aerenthal 1908 in der Annexion von Bosnien-Herzegowina. Er hatte 1912 seinen Vorgänger abgelöst und verfolgte dessen anti-Russische und anti-Serbische Politik weiter. In den Balkankriegen 1912/13 musste er einiges an diplomatischen Niederlagen einstecken und galt – eigentlich schon immer – als Falke. Nach dem Kronrat vom 7. Juli arbeitete er eng – praktisch jeden Tag – mit dem deutschen Botschafter Heinrich von Tschirschky zusammen, der mit dem deutschen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Gottlieb von Jagow, in ständigem telegrafischen Kontakt blieb.

In allen Dokumenten – außer den internen seines Ministeriums – erscheint er als Kriegstreiber. Die Diskrepanz zu Musulins Aussage ließe sich dadurch erklären, dass er die – zur Vorsicht neigenden – Diplomaten seines Hauses absichtlich im Dunkeln hielt – anders ließe sich schlichtweg nicht erklären wie Musulin, ein äußerst erfahrener Mann mit Verbindungen nach Russland und Serbien, als außerordentlicher Botschafter und dazu noch Verfasser des Ultimatums plus dazugehöriger Kommentare notwendigerweise mit allen Einzelheiten vertraut – soweit sie diplomatischer Natur waren – zu seiner Meinung kommen kann.

Zu den österreichischen Forderungen in der Note (dem “Ultimatum”) vom 22. Juni 1914 ist durchaus einiges zu korrigieren. Manfried Rauchensteiners Standardwerk “Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburger – Monarchie” (Böhlau Verlag 2013, ISBN 978-3-205-78283-4) führt hierzu aus:

Im ersten Entwurf … lasen sich die Forderungen an Serbien noch vergleichsweise harmlos. Zunächst wurde gesagt, dass die k. u. k. Regierung davon ausgehe, dass die serbische Regierung den Mord am Thronfolger und seiner Gemahlin genauso verurteile wie die ganze Kulturwelt. Um aber den guten Willen zu demonstrieren, wäre eine Reihe von Maßnahmen notwendig. Die Note schloss mit dem Ersuchen um gefällige Rückäußerung.

Graf Forgách verlangte eine weit schärfere Formulierung, und Musulin fügte vor allem den Punkt 6 ein, der dann lautete:

“Die königlich serbische Regierung verpflichtet sich, eine Untersuchung gegen jene Teilnehmer des Komplottes vom 28. Juni einzuleiten, die sich auf serbischem Territorium befinden; von der k.u. k. Regierung hierzu delegierte Organe werden an den diesbezüglichen Erhebungen teilnehmen.”

Es ging also nicht darum, österreichische Organe an der serbischen Rechtsprechung teilnehmen zu lassen, wie das dann die Serben in ihrer Antwortnote anklingen ließen, sondern um die Teilnahme an der Untersuchung. Dabei wäre sogar ein Präzedenzfall anzuführen gewesen, denn Österreich-Ungarn hatte es 1868 nach dem Mord am serbischen Fürsten Mihailo serbischen Funktionären ermöglicht, auch auf dem Gebiet der Donaumonarchie Erhebungen zu pflegen.

Dennoch: Die Forderungen waren erheblich verschärft worden, und aus der “gefälligen Rückäußerung” wurde eine 48-Stunden-Frist. Wie schrieb doch Emanuel Urbas Jahrzehnte später so bildhaft:

“Ein Dokument sollte geschaffen werden, das durch die unerhörte Wucht und Knappheit seiner Sprache die Welt bezwingen musste. Wir waren doch Zeitgenossen des Karl Kraus … So hatten wir gelernt, an die autonome Magie des Wortes als des Schoßes des Gedankens und der Tat zu glauben.”

Forgách hatte Sorge gehabt, sein Minister könnte womöglich nachgeben wollen. Doch Berchtold bewegte ganz anderes, da er dem Kaiser gegenüber mutmaßte, dass eine “schwächliche Haltung unsere Stellung Deutschland gegenüber diskreditieren könnte” und dass es im Grunde genommen darauf ankäme, die praktische Kontrolle über Serbien ausüben zu können. Jeder fürchtete, der andere könnte nachgeben und “weich werden” wollen. Weiterhin wurde nur an Krieg gedacht, und auch das Deutsche Reich drängte unentwegt. Botschafter von Tschirschky wurde nunmehr zum stetigen Mahner und Übermittler von Botschaften Berlins (des deutschen Außenministeriums, Anm.), die in zahllosen Varianten von Wien nur eines forderten: Krieg, so schnell wie möglich!

S. 108-109

Der dritte gemeinsame Minister, Finanzminister Leon Ritter von Biliński, war zumindest Anfangs eine Taube und warnte den Kaiser eindringlich, das Ultimatum werde zu einem Krieg führen. Ziehen wir dazu noch in Betracht dass, entgegen allen Usancen, Franz Joseph vor seiner endgültigen Entscheidung weder den Kronrat noch den Reichsrat zusammenrief, noch einen informellen “Kriegsrat” abhielt, und auch keine letzten Rücksprachen mit den engsten Mitarbeitern hielt, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Entscheidung auf das Anraten Berchtolds zurückzuführen ist, der ja auch als Vorsitzender des Ministerrates der Chef der Exekutive war. Die Militärs waren sowieso dafür.

Die Diplomaten mussten wohl die Morgenzeitungen lesen.


Beitrag Österreichisches Staatsarchiv


Das Ultimatum im Wortlaut


Der Verfasser steht in Kontakt mit dem österreichischen Staatsarchiv, um eine Kopie der Erinnerungen Musulins zu beschaffen. (© John Vincent Palatine 2019)

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Die Häresie des Schlieffen-Plans


Update: Dieser und der folgende Beitrag werden demnächst unter Berücksichtigung des neuen Buches “Der Weg in den Ersten Weltkrieg – Das Deutsche Militär in der Julikrise 1914” von Anscar Jansen ergänzt – darin eine erste Analyse des bisher kaum bekannten Memorandums von Erich von Falkenhayn zur Lage 1914.


Folgender Beitrag: Moltkes Kriegsplan 1914


Vielleicht das berühmteste – und am meisten fehlinterpretierte militärische Dokument der Weltgeschichte – aber nicht, wie oft behauptet, die Blaupause für 1914 – ist das sogenannte “Große Memorandum” ( auch als “Schlieffen-Plan” bekannt), des deutschen Generalfeldmarschalls und Generalstabschefs Alfred Graf von Schlieffen – datiert auf 1905, dem Jahre seiner Pensionierung, aber wahrscheinlich erst 1906 fertiggestellt. Es war eine Denkschrift – eine militärpolitische Stellungnahme, die mehrmals das Thema der (Schlieffens Meinung nach) dringend nötigen Vergrößerung des deutschen Heeres behandelte – zu einer Zeit als ein Großteil des Budgets an die Flotte ging. Es war kein aktueller Aufmarsch-, geschweige denn ein Mobilisierungsplan. Link zur PDF – File

Dieses Bild zeigt 1914, nicht den Plan an sich, der lediglich durch die gestrichelten grauen Linien angedeutet wird.

Anmerkung des Verfassers: Der geneigte Leser möge bitte beachten Sie, dass dieser Beitrag das originale Große Memorandum des Grafen Schlieffen von 1905 behandelt – nicht was im Jahr 1914 passierte. “Was wäre, wenn” Betrachtungen a posteriori sind also in diesem Zusammenhang nicht hilfreich.

Die anvisierte Kriegsführung wurde auf beiden Seiten von offensiver Grundhaltung bestimmt – die Generäle glaubten, mit ausreichender Artillerieunterstützung jede Frontlinie durchbrechen zu können.

Der “Schlieffen-Plan” ist, wie jedes andere Dokument, in dem geschichtlichen Rahmen und Zusammenhang zu sehen, indem es entstand. Zwei Argumente sind hierbei besonders zu beachten: (1) Der Plan entstand aus einer bestimmten Tradition – der des preußischen Generalstabs, schnelle Feldzüge für begrenzte Ziele zu planen und durchzuführen, was 1866 und 1870/71 so gut geklappt hatte, und (2) niemand hatte eine Alternative. Holger Herwig, mit dem dieser Autor nicht unbedingt in allem übereinstimmt, argumentierte 2003 in dem Sammelband “The Origins of World War I”, Cambridge University Press, ISBN 0-521-81735-8, S. 155:

Den Kritikern von Schlieffen fehlte es jedoch an einer brauchbaren Alternative. Ihre Vision (oder Angst) eines zwischen sieben und dreißig Jahre andauernden Volkskrieges war inakzeptabel – für Kaiser, Generäle, das Parlament und die Nation. Das Zweite Reich war nicht das Dritte – eine totale Mobilisierung für totalen Krieg war für alle Anathema.
Würde man Schlieffens Blaupause eines kurzen Krieges für begrenzte Ziele – eine Strategie, die vor allem seit den Erfolgen von 1866 und 1870/71, tief in den preußischen militärischen Annalen verwurzelt war – a priori ablehnen, würde das die ganze Existenz und Berechtigung des Kriegshandwerks, wie Historiker Gerhard Ritter es nannte (und auf das der Generalstab so stolz war), ad Absurdum führen. Um es krass auszudrücken, müsse man folglicherweise zugeben, dass der gepriesene preußische Generalstab keine kurzen und erfolgreichen Vernichtungskriege mehr führen könne, was bedeuten würde, dass
Krieg an sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine gangbare Option mehr war. Für eine derart radikale Idee gab es in Deutschland nur wenige Abnehmer.

Also musste es Krieg sein. Nachdem der Erste Weltkrieg jedoch verloren war, wurde in verschiedenen Nachkriegswerken deutscher Offiziere, so von Hermann von Kuhl, Gerhard Tappen, Wilhelm Groener und einer Truppe von Historikern des Reichsarchivs unter der Regie des ehemaligen Oberstleutnants Wolfgang Förster, eine These oder Erzählung entwickelt, die in etwa besagte:

I. Dass, schon ab dem Jahre 1905, der ehemalige Chef des deutschen Generalstabs, Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen, einen Operationsplan für den Krieg im Westen konzipiert hatte, der den Sieg so gut wie garantierte, und

II. Dass das Scheitern von 1914 das Unvermögen seines Nachfolgers als  Generalstabschef, Generaloberst Helmuth von Moltkes des Jüngeren war,  den Plan korrekt auszuführen, was zum Verlust des Weltkrieges führte.

Die  frühe Nachkriegsgeschichte hat die These ohne rechten Widerstand hingenommen, auf Treu und Glauben sozusagen – vielleicht weil der Sieg von 1870/71 viele Theoretiker davon überzeugte, dass was damals gelang, auch 1914 möglich sein müsste. Auf Treu und Glauben jedoch auch, weil der berühmte Plan nie zur Verfügung gestellt wurde – nicht ein Fitzelchen wurde veröffentlicht, das die Vorwürfe unterstützen könnte. Doch im Prinzip – so viel wurde bekannt – sah der Plan einen Angriff auf Nordfrankreich durch Belgien vor und eine darauf folgende Einkreisung und anschließende Belagerung von Paris vor, welche zu der französischen Kapitulation führen sollte – mehr oder weniger wie in der irreführenden West-Point Karte unten dargestellt:

Nachdem die meisten deutschen Militärarchive in den alliierten Bombardierungen des Zweiten Weltkrieges zerstört worden waren, wurde eine Kopie des verloren geglaubten Plans 1953 von dem deutschen monarchistischen Historiker Gerhard Ritter in den National Archives in Washington gefunden. Wie es sich herausstellte, hatte sich das ursprüngliche Dokument gar nicht in irgendeinem militärischen Archiv, sondern in des Grafen Hause befunden – im Nachlass seiner Töchter. Im Jahr 1958 veröffentlichte Ritter das Papier in englischer Sprache, mit einem Vorwort von B.H. Liddell-Hart, unter dem Titel „The Schlieffen Plan – Critique of a Myth“ bei Praeger, New York (die ursprüngliche deutsche Fassung war 1956 bei R. Oldenbourg, München, erschienen). [Keine ISBN Nummer oder Library of Congress – Karte für die englische Ausgabe verfügbar]

Warum ist das Dokument mit Vorsicht zu behandeln? Einige Hinweise: Das Memorandum beschreibt einen Krieg allein gegen Frankreich – keinen Zweifrontenkrieg einschließlich Russlands – und ohne britische Beteiligung. Der Plan setzt alles in allem 94 Divisionen ein – eine Zahl, die nie existierte (Moltke musste sich im Jahre 1914 mit 68 Divisionen behelfen, von denen einige Wachdienst an der Nordseeküste schoben und einige andere die Städte Maubeuge und Brüssel belagerten) – aber von entscheidender Bedeutung sind die zahlreichen logistischen und räumlichen Unmöglichkeiten des Plans. John Keegan analysierte sie gnadenlos in „The First World War“, Vintage Books 2000, ISBN 0-375-40052-4361, und ich darf seine Analyse ausführlich zitieren:

Ritters Buch – Kopie des Autors
Schlieffens Karte 1: Der Aufmarsch

Schlieffens mitternächtliche Haarspalterei hatte sich nicht zum Ziel gesetzt, einen exakten zahlenmäßigen Vergleich zwischen deutscher und französischer Truppenstärke zu liefern, sondern die maximale Kapazität der belgischen und französischen Straßennetze zu eruieren. Solche Berechnungen gehörten zu den Grundlagen der Ausbildung an den Kriegsschulen; wo Studenten aus vorbereiteten Tabellen die Länge von Marschkolonnen bestimmten  – neunundzwanzig Kilometer für ein Korps, zum Beispiel – um auf Straßenkarten zu messen, wie viele Truppen einen gegebenen Sektor mit welcher Geschwindigkeit passieren könnten.

Da zweiunddreißig Kilometer die Grenze eines Eilmarsches war,  wäre dies der maximale Vormarsch eines Korps auf einer einzigen Straße; aber das Ende einer neunundzwanzig Kilometer langen Säule würde sich am Ende des Tages immer noch nahe oder am Abmarschpunkt selbst befinden.

Gäbe es zwei parallel verlaufende Straßen, würden die Enden die halbe Distanz vorrücken, wenn vier, drei Viertel, und so weiter. Idealerweise würden die Einheiten eines Korps nicht als Kolonne, sondern in Linie nebeneinander voranziehen, sodass alle Mann am Ende des Tages zweiunddreißig Kilometer weiter ankämen; in der Praxis, wie Schlieffen selbst in einer Korrektur zugab, waren parallele Straßen bestenfalls alle ein bis zwei Kilometer auseinander zu finden.

Geplante Situation am 22. Tag – alle Korps nummeriert und alle Straßen proppenvoll …

Während sich seine große Kreisbewegung sich auf einer Front von dreihundert Kilometern mit etwa dreißig Korps nach vorn bewegte, würde jedes Korps nur über ungefähr zehn Kilometer Front zum Vorrücken verfügen, an denen es bestenfalls sieben parallele Straßen gäbe. Das war nicht genug, um der Nachhut zu erlauben, am Ende des Tages zur Vorhut aufzuschließen. Der Nachteil war nicht zu korrigieren; er verbot absolut jeden Versuch, mehr Truppen in den Radius des Rades zu pressen. Sie hätten keinen Raum zum Manövrieren, es gab einfach nicht genug Platz.

Hier kommen wir nun zu der Frage, auf welchen Straßen die sechs (nicht existenten) Ersatz-Corps, die wie der aufmerksame Leser bemerkt, plötzlich aus der Luft in Karte 3 erscheinen, nach Paris marschiert sind?

Am 31. Tag erscheinen plötzlich die (nicht existenten) sechs Ersatzkorps (d.h. 12 Divisionen, markiert in Grün), wie von Scotty hingebeamt, um Paris …

Es ist an dieser Stelle, dass der aufmerksame Leser des Großen Memorandum den Plan auseinanderfallen sieht: Karte 3 zeigt in keiner Weise, wie die neuen Korps sich „Paris, dem zentralen Stützpunkt der großen Festung, die Schlieffens Frankreich war“, überhaupt erreichen könnten, geschweige denn die Stadt belagern. Das Korps erscheinen einfach auf der Karte, ohne Hinweis darauf, wie sie den Stadtrand von Paris erreichen. Die „Kapazität der Bahn“ ist irrelevant; in Schlieffens Plan war die Eisenbahn nur dazu da, die Angreifer bis zur deutschen Grenze von Belgien und Frankreich zu bringen. Danach war es das weiterführende Straßennetz und die Stiefel der Infanterie, die die Geschwindigkeit des Vormarsches bestimmen würden.

Schlieffen selbst berechnete die durchschnittliche Marschleistung mit 12 Meilen (ca. 19 km) pro Tag. In der Krise vom August und September 1914, würden sowohl deutsche wie auch französische und britische Einheiten dies überbieten, manchmal Tag für Tag – das 1. Bataillon des Gloucestershire Regiments legte gemittelt sechzehneinhalb Meilen während des großen Rückzugs von Mons nach der Marne zurück, vom 24. August bis 5. September und schaffte dreiundzwanzig bzw. einundzwanzig Meilen am 27. und 28. August – aber Schlieffens Mittelwert war nicht weit von der Marke. Von Klucks Armee auf dem äußeren Flügel des großen Rades erreichte etwas mehr als 13 Meilen (ca. 21 km) pro Tag zwischen dem 18. August und 5. September 1914, über eine Entfernung von 260 Meilen (ca. 418 km).

Damit die „acht neuen Korps“, die Schlieffen als Clincher für seinen Plan brauchte, in die vorgesehene Position hätten gelangen können, hätten sie tatsächlich nicht nur schneller und weiter als benötigt marschieren müssen, was gegen alle Wahrscheinlichkeit spricht, aber dies entlang denselben Straßen zu tun die schon von anderen Korps besetzt sind ist eine einfache Unmöglichkeit.

Es ist daher nicht verwunderlich, im Text des Großen Memorandum des Autors´Geständnisse begraben zu finden wie, dass „wir zu schwach sind“, um den Plan zu einem Abschluss zu bringen und, in einer späteren Anmerkung, „auf solch einer verlängerten Linie noch größere Kräfte brauchen werden als wir bisher geschätzt haben.“ Er war in eine logistische Sackgasse gelaufen. Die Eisenbahnen würden die Truppen für sein großes Rad positionieren; die belgischen und französischen Straßen würden es ihnen ermöglichen, den Stadtrand von Paris in der sechsten Woche ab dem Tag der Mobilisierung zu erreichen; aber sie würden nicht in der notwendigen Stärke ankommen, um die entscheidende Schlacht zu gewinnen, wenn sie nicht von acht Korps begleitet wären – 200.000 Menschen – für die es keinen Raum gab. Sein Plan für den Blitzsieg war in sich selbst fehlerhaft – wurde aber dennoch zum Einsatz vorgemerkt.

In der ursprünglichen 1956er Ausgabe von Gerhard Ritter (siehe obiges Foto) sind die Karten an der Rückseite des Buchs gebunden und von geringer Qualität. Ich habe sie in die relevanten Teilen des Textes platziert und farbig gekennzeichnet, um dem Memorandum besser folgen zu können.

Das Problem des Plans, so wie er vorliegt, ist seine Interpretation. Nachdem der Praktiker Terence Zuber (ehemaliger Offizier der US Army und in Würzburg promovierter Historiker) ab 1999 in verschiedenen Veröffentlichungen argumentierte, dass der Plan eben nur eine Denkschrift sei, und es keine Anzeichen dafür gäbe, dass er jemals Grundlage von Manövern oder auch nur einer nachvollziehbaren fachlichen Diskussion war (im Gegenteil – in den 1990ern wurden Dokumente über die tatsächlichen Übungen, die sein Nachfolger Moltke bis 1914 abhielt, aus Beständen der ehemaligen DDR gefunden), gab es ein großes Geschrei der etablierten Historiker, weil nicht sein kann was nicht sein darf. Siehe Zuber, Terence, “The Real German War Plan 1904-14“, The History Press 2001, ISBN 978-0-7524-5664-5.

Es wurden eigens internationale Tagungen einberufen, um die Häresie zu unterbinden, jedoch macht Zuber’s Kritik, deren Eckpunkte man vielleicht am besten in dem Artikel der englischen Wikipedia nachlesen kann, durchaus Sinn. Das Problem der konservativen Gegenkritik- also des Status Quo – das leider praktisch nie angesprochen wird – ist, das man davon ausgehen müsste, dass der deutsche Generalstabschef bis 1905 sich Planungen hingab, die seit dem französisch-russischen Bündnis seit 1890 völlig unrealistisch waren – es würde keinen Einfrontenkrieg geben, worauf Terence Holmes ebenfalls hinwies.

Es wird argumentiert dass die Denkschrift die kurzzeitige militärische Schwächung Russlands nach der Katastrophe des russisch-japanischen Kriegs miteinbezieht. Dies ist jedoch eher irrelevant, da in diesem Krieg die Hauptverluste Russlands ihre Flotte betrafen, die die deutsche Marine sowieso nicht interessierte – die Hochseeflotte rüstete gegen England.

Das Hauptproblem der bisherigen Gegenkritik ist, dass sie eben die Geschehnisse von 1914 argumentiert – nicht wirklich das Memorandum von 1905 an sich. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) hat 2007 “Der Schlieffenplan: Analysen und Dokumente“, editiert von Michael Epkenhans, Hans Ehlert and Gerhard P. Groß. Das Buch ist nun angekommen und wird ausgewertet und für die englische Version dieses Beitrags übersetzt. Es enthält auch vier großformatige Kartenblätter.

Erster Eindruck [Update 05.06.2019]: Das Problem des Kompendiums liegt wohl in der Organisation der zugrundeliegenden Konferenz vom 30. September bis 1. Oktober 2004. Der Grund für die Einberufung der Konferenz war die grundlegende Kritik von Terence Zuber gewesen – siehe oben. In der Durchführung wurde dies aber nicht zum Thema gemacht, sondern es erhielten verschiedene Teilnehmer die Gelegenheit, ihre eigenen Thesen zum “Schlieffenplan” vorzutragen – aber nicht, wie oben angesprochen, auf die Denkschrift von 1906 einzugehen, sondern ihre eigene, bisher unveröffentlichten Meinungen zu den Entwicklungen der deutschen Aufmarschpläne 1905 – 1914 bzw. den Geschehnissen von 1914 kund zu geben.

Man muss hier differenzieren: Als Zuber nach 2000 den Schlieffenplan als “Mythos” bezeichnete, meinte er nicht dass der Plan nicht existierte – die Denkschrift liegt ja vor – sondern er wies auf die Inkongruenz der Denkschrift (siehe John Keegan’s Analyse der taktischen Undurchführbarkeit und die “Geisterdivisionen”) mit der nach 1918 entwickelten Legende hin, dass Schlieffen einen perfekten Plan vorgelegt habe, den der jüngere Moltke nicht begriff, oder durch Planänderungen “verwässerte”.

Dieser Beitrag betrifft die Denkschrift von 1905/6, wie oben angeführt, nicht die Ereignisse von 1914 oder die Vorbereitungen und eventuellen Planungen unter Moltke. Dies war jedoch nicht das Thema der Konferenz. Annika Mombauer entwickelt Thesen zu etwas, das sie den “Moltkeplan” nennt, also zur Geschichte des immer noch unbekannten tatsächlichen Kriegsplans von 1914. Andere Beiträge behandeln die Situationen, Planungen und politischen Realitäten in Österreich-Ungarn (Günter Kronenbitter), Frankreich (Stefan Schmidt), Russland (Jan Kusber), Großbritannien (Hew Strachan), Belgien (Luc De Vos) und der Schweiz (Hans Rudolf Fuhrer und Michael Olsansky). Ungeachtet der Qualitäten dieser Beiträge stellt sich dabei die Frage der Relevanz.

Ein weiteres Kernproblem ist dass die Frage der Kriegsschuld, die grundsätzlich eine politische, keine militärische Frage ist, unauslöschlich mit der Diskussion vermengt wird – manchmal entsteht der unausgesprochene Eindruck “offensiv” wäre synonym mit “böse” oder “schuldig” und “defensiv” bedeute “gut”. Fakt ist dass alle Großmächte 1914 offensive planten und daher dürfte sich diese Frage im Militärbereich nicht stellen.

Die Kernthese Zubers war, dass der “Schlieffenplan” (in der Form der vorliegenden Denkschrift) kein tatsächlich durchführbarer Plan war und nichts dafür spricht, dass er tatsächlich die Grundlage für die Planung von 1914 bildete.

Ein weiteres schwerwiegendes Beispiel für die taktische Undurchführbarkeit des Plans, das John Keegan wohl aus Platzmangel ausließ, wäre die Umzingelung von Paris, wie geplant von der 1. Armee (und sechs nicht existierenden Ersatzkorps). Wenn wir einen Einschließungsring in der Linie Compiègne – Pontoise – Plaisir – Orsay – Évry – Brie-Comte-Robert zugrunde legen – siehe Grafik – bedeutet dies eine zusätzliche Frontlänge von über 400 Kilometern (zweiseitige Einschließungsfront wie in Alesia) ohne jede Flankensicherung oder Rückendeckung – die die Franzosen geradezu zu einer katastrophalen Einkesselung des Westteils einladen würde.

Angenommene Belagerungslinie von Paris
Das Risiko einer Einkesselung

Folgender Beitrag: Moltkes Kriegsplan 1914


(© John Vincent Palatine 2019)

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Aufbau einer Division im Ersten Weltkrieg

Das 76. Füsilierbataillon in the Schlacht von Loigny am 2. Dezember 1870

Relevante Beiträge:

Die Organisation des Heeres

Die Preußischen Armeereformen


Wenn wir über moderne Kriegsführung nach 1800 sprechen, fällt immer der Ausdruck “Division “. Aber was genau ist eine „Division“? Untersuchen wir dieses Konzept am Beispiel des Ersten Weltkriegs:

Notabene: Dieser Beitrag bezieht sich auf „Division“, wie das Wort im Landkrieg verwendet wird. Es kann in anderen Zusammenhängen sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Bei Seestreitkräften hat die Benutzung des Begriffes „Division“ oft eine ganz andere Bedeutung, die sich auf entweder eine administrative oder funktionelle Untereinheit einer Abteilung (z.B. die Feuerkontrolldivision der Waffenleitstelle) an Bord von Marine oder Küstenschutzschiffen beziehen kann, oder auf Marineflieger-Einheiten, zu einer Untereinheit von mehreren innerhalb einer Flotte oder Fliegerstaffel, oder auf zwei oder drei Gruppierungen von Flugzeugen unter einem bestimmten Kommandoführer. Einige Sprachen wie Russisch, Serbokroatisch und Polnisch, verwenden das ähnliche Wort „Divizion“ bzw. „Dywizjon“ für ein Bataillon als größte Artillerie oder Kavallerie-Formation der jeweiligen Einheit.

Die Aufteilung der Armeen in ‚Divisionen‘ wurde Praxis während der beiden Französischen Koalitionskriege (Frankreich gegen das konterrevolutionäre Österreich, Russland und Preußen) in den 1790er Jahren und der anschließenden napoleonische Ära, in denen Armeen aufgeteilt werden mussten, um sich gegen oder Angriff mehr als eines Feindes zu verteidigen oder zu bestimmten Zeitpunkten taktische Aufgaben zu erfüllen, wie Flankenangriffe oder Einkesselungsmanöver. Im Gegensatz zu den Kabinettskriegen des vorherigen Jahrhunderts, die zumeist lokal begrenzt waren, musste die französische Revolutionsarmee an verschiedenen fronten zugleich operieren, wodurch sich die Schaffung einer zusätzlichen Kommandoebene zwischen Armeeführung und Regiment als notwendig erwies.

Das System zeigte Kinderkrankheiten – manchmal gelang es, Divisionen von ihren Nachbarn zu trennen und einzeln zu vernichten und so wird es im allgemeinen Napoleon zugeschrieben, das Armeekorps als weiter übergeordnete Führungsebene eingeführt zu haben.

Die Definition einer ‚Division” ist, dass es die kleinste Untereinheit einer Armee ist, die unabhängigen Aufgaben erfüllen kann, d.h. die kleinste Einheit, die alles besitzt, um einen eigenen kleinen Krieg zu führen. Daraus folge, dass eine Division mehr als Soldaten, Waffen und Munition haben muss: sie muss einen Führungsstab haben, Ingenieure bzw. Pioniere, Signal- bzw. Nachrichtentruppen, Versorgungstruppen, einen Sanitätsdienst, ein Krankenhaus, ein Postamt, Küchen, Wäschereien, einen Kartenraum und so weiter.

Organisationsplan

Bis 1915 waren in der deutschen Armee die Spezialtruppen – Fernsprech-Abteilungen, Flak-Züge, Pionier-Bataillone, Minenwerfer-Kompanien, Sanitäts-Kompanien, Feldlazarette, Kraftwagen-Kolonnen, Pferde-Lazarette, Jäger, Fußartillerie und Train etc. – nicht der Division direkt, sondern dem übergeordneten Armeekorps als Korpstruppen unterstellt. Dies erwies sich im Kriegsfall jedoch als unpraktisch, und wurde geändert. Ebenfalls stellte sich im Weltkrieg, zumindest im Stellungskrieg an der Westfront, schnell heraus dass Kavallerie dort im Prinzip überflüssig war – die vorhandenen Einheiten wurden verkleinert bzw. an die Ostfront verlegt, wo ihre traditionelle Funktion der Aufklärung eher noch verwendet werden konnte. Aufgrund der allerhöchsten Wünsche seiner Majestät Wilhelm II wurden noch bis in die Kaisermanöver von 1913 unsinnige Kavallerieangriffe geübt, die sich in der Praxis ab 1914 jedoch als Massenselbstmord per Maschinengewehr erwiesen.

Kavallerieattacke Kaisermanöver 1913

Es gab durchaus, zumindest anfangs, seltsame Bräuche. Die Garde der preußischen Divisionen wurde z.B. nach Körpergröße geordnet.

Die Zahlen gaben die Körpergröße über 1 Meter an …

Im Ersten Weltkrieg bestand ab 1915 eine voll ausgerüstete deutsche Infanteriedivision, zumindest theoretisch, aus folgenden Truppen:

4 Infanterieregimentern mit jeweils 3000 Mann; jedes Regiment bestehend aus 3 Bataillonen von jeweils 1000 Mann; jedes Bataillon bestehend aus 4 Kompanien von jeweils 250 Mann; insgesamt 12.000 Infanteristen;

1 Artillerieregiment, bestehend aus 12 Feldbatterien von je 6 x 135 mm Kanonen und 2 schweren Batterien mit jeweils 4 x 155 mm Kanonen (einige Divisionen hatten ein zusätzliches Schweres Haubitzen-Bataillon mit 16 x 150 mm Haubitzen);

2 Kavalleriebrigaden mit jeweils 680 Säbeln, manchmal unterstützt durch zwei eigene Geschützbatterien und einer Kompanie mit 6 schweren Maschinengewehren; da sich die Kavallerie an der Westfront als eher überflüssig erwies, wurde sie dort stark verkleinert – oft blieb nur eine Eskadron übrig. Mache Kavallerietruppen wurden aufgelöst und die Pferde den Nachschubtruppen zugeteilt. Kavallerie spielte eigentlich nur an der Ostfront als Aufklärungstruppe eine Rolle.

1 Staffel Aufklärungsflugzeuge mit sechs Maschinen, Piloten und Mechanikern;

1 Artillerie-Brigade zbV. nach dem Ermessen des Divisionskommandeurs (54 leichte 77 mm Kanonen und 18 135 mm Geschütze);

1 schwere MG-Kompanie mit 6 MGs;

1 Haubitzenbataillon mit 18 105 mm Geschützen;

Dazu Divisionstruppen und Unterstützungspersonal:

1 Battalion Pioniere;
1 Signal- und Nachrichtenabteilung mit 2 Kompanien;

1 Quartiermeisterzug mit 2 Kompanien;

1 Verwaltungskompanie;

2 Küchenkompanien (Metzger, Bäcker, Köche);

1 Feldpostamt;

1 Sanitätskorps, bestehend aus 2 Krankenhauskompanien und 4 Transportkompanien;

1 Veterinärkompanie;

1 Divisionsstabskompanie mit 4 Stäben: Kommandant, Operationsoffizier (Ia), Versorgungsoffizier (Ib) und Nachrichtenoffizier (lc);

1 Kartenraum;

1 Musikkorps und

1 Kompanie Feldpolizei (MP).

Infanterie zu Beginn des Krieges

Eine komplette Infanteriedivision bestand also aus rund 20.000 Menschen, 7.000 Pferden und einem Zug von 1.200 Versorgungswagen. Doch eine Division, die alle diese Truppen tatsächlich besaß, müsste sich in der Tat glücklich nennen – nach der ersten Schlacht mussten sich die meisten Divisionen mit der Hälfte dieser Zahlen behelfen – oder weniger. In der Praxis – nach den großen Verlusten der ersten Wochen – stellten Generalstäbe gleich ganze Korps ab, um die unabhängigen taktischen Rollen zu übernehmen, die einzelnen Divisionen vor der Schlacht zugewiesen worden waren.

Offiziere an der Ostfront

In Bezug auf die vertikale Zusammensetzung bildeten zwei Divisionen ein Korps und zwei Korps eine Armee. In der Praxis, als sich der Krieg hinzog und viele Einheiten mit kleineren Zahlen auskommen mussten, neigten Korps zu rascher Vergrößerung, manchmal bis zu vier Divisionen. Verluste hatten die durchschnittlichen Divisionsstärken schnell halbiert. Wenn ganze Divisionen nicht verfügbar waren oder aufgeteilt werden mussten, wurden Infanteriebrigaden gebildet, halbe Divisionen – zwei Regimenter Infanterie und was immer an Artillerie zur Verfügung stand.

Jedes Land wich von der Regelung in charakteristischer Weise ab. Französische Divisionen waren mit einer ganzen Brigade aus vorher festgelegten Reserven ausgestattet und während ihre Feldartillerie, die 75 – mm – Kanone , sich als ausgezeichnet erwies – besser als das deutsche 77 mm Modell – waren sie in der Regel in den größeren Artilleriekalibern schwächer. Britische Divisionen waren etwas größer und kompensierten einen anfänglichen Mangel an Maschinengewehren mit ausgezeichneter infanteristischer Treffsicherheit. Russische Divisionen – zumindest während der frühen Feldzüge – waren riesig, da sie nicht nur drei, sondern vier Infanterie-Regimenter besaßen, also sechzehn Bataillone statt zwölf. Amerikanische Divisionen waren in der Tat kolossal, etwa doppelt so groß wie deutsche.


Relevante Beiträge:

Die Organisation des Heeres

Die Preußischen Armeereformen


(© John Vincent Palatine 2015/19)

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