Historia Occidentalis

Ein Magazin zur Zentraleuropäischen Geschichte

Schlagwort: Sozialdemokraten

Das Zweite Reich 1871 – 1918

Titelbild: Dieses Wandgemälde von Carl Steffeck von 1884 zeigt den französischen Generaladjutanten Reille bei der Überbringung der Kapitulation von Napoleon III bei der Schlacht von Sedan am 2. September 1870


Kurzes ZDF Video


Nachdem Österreich-Ungarn durch den Krieg von 1866 und die Niederlage von Königgrätz an den Rand innerdeutscher Politik gedrängt worden war, übernahm Preußen die Führung der deutschen Staaten, die noch immer mehr als ein Dutzend zählten. Auf der Karte waren die Änderungen geringfügig; die Geografie des “Deutschen Bundes” wurde durch das Verschwinden Österreichs unglücklicher Verbündeter kaum verändert. Wichtigere Änderungen traten im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der deutschen Staaten auf, insbesondere im kritischen Bereich der Zollunion. Trotz fortschreitender Industrialisierung, in der direkte Steuern immer wichtiger wurden, waren Zölle nach wie vor ein großer Teil der staatlichen Einkommen.

Linguistische Karte um 1870
Linguistische Karte um 1870 mit den Grenzflüssen des “Liedes der Deutschen” von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, geschrieben am 26. August 1841

Der Deutsche Zollverein war im 19. Jahrhundert stetig gewachsen, ausgehend von seinen profanen Ursprüngen als Gemeinsamer Preußischer Zolltarif von 1828; später umfasste er die süddeutschen Königreiche Bayern und Württemberg und das Großherzogtum Baden und nachdem Österreich 1867 aus dem Bild gefallen war, trat der Großteil des Restes der deutsche Staaten bei; die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Mecklenburg und das Königreich Hannover. Im Jahr 1869 waren die geografischen Grenzen von Zollverein und Deutschem Bund nahezu identisch. Durch ein kleines Update der politischen Struktur wurde der Deutsche Bund in “Norddeutscher Bund” umbenannt; der einzig bedeutsame Unterschied war die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer im Alter von über einundzwanzig Jahren.

Erstaunlicherweise deckten die ersten Wahlergebnisse unter den neuen Bedingungen eine seltene Fehleinschätzung Otto von Bismarcks auf: Er war davon ausgegangen, dass der Sieg über Österreich am meisten seinen konservativen parlamentarischen Verbündeten zugutekommen würde, aber im  Fall der Fälle ging die Mehrheit der Sitze an seine Gegner, die Liberalen, und einige sogar an seine Todfeinde, an die Sozialdemokraten und an das katholische Zentrum. Aufgrund dieser überraschenden Pflichtvergessenheit der deutschen Wähler wurden Bismarcks weitere Pläne nun mit einigen parlamentarischen Hemmnissen konfrontiert, aber der Eiserne Kanzler erwies sich als Meister darin, solch triviale Herausforderungen zu umgehen.

Seine Überlegungen im Hinblick auf eine mögliche deutsche Einigung gingen von der Ansicht aus, dass, durch die Leidenschaften eines Krieges, die Deutschen wiederum – wie 1866 – politische Hürden überwinden könnten. Falls die südlichen Staaten, insbesondere die ausgesprochen unabhängigen Königreiche Bayern und Württemberg, zögerten, seiner Führung zu folgen, könnten der Eifer eines erneuten Krieges den Ausschlag der Waage bewirken.

Ein geeigneter Gegner und Buhmann wurde leicht identifiziert in der Person von Napoleon III., Kaiser von Frankreich.

Seit 1815 hatten keine offenen Feindseligkeiten zwischen Frankreich und Preußen stattgefunden hatten, aber Bismarck – aufgrund der Erfahrungen, die er in den 1850er Jahren als preußischer Botschafter in Paris gemacht hatte – hatte  klare Ideen, welche Knöpfe zu drücken waren, um Frankreich in patriotischer Kriegsbereitschaft zu entflammen.

Napoleon III., Neffe und Nachfolger des großen Korsen, der sich 1852 zum Kaiser von Frankreich ausgerufen hatte, brauchte dringend frischen militärischen – oder auch jeden anderen Ruhm. Sein Eingreifen in Mexiko zur Unterstützung von Kaiser Maximilian hatte in einer kompletten Katastrophe geendet [1861-1867] und der Glanz der französischen Waffen  war dringend restaurierungsbedürftig. Er hatte die Entstehung Preußens als neue deutsche Zentralmacht mit Abneigung betrachtet; nicht so sehr wegen seiner Prinzipien – solche hatte er nicht – sondern weil er den Erwerb des Herzogtums Luxemburg für Frankreich gerne als Preis für seine Neutralität im Prusso-Österreichischen Krieg von 1866 gesehen hätte. Er war wütend, als Bismarck nach dem Sieg erklärte, dass, da Luxemburg nicht zu Preußen gehöre, man es nicht an Frankreich abtreten könne.

Bismarck konferierte mit Graf Helmuth von Moltke, dem Chef des preußischen Generalstabs, über die Chancen eines Preußisch-Französischen Krieges. Moltke schätzte, dass ein Erfolg wahrscheinlich sei, und Bismarck begann nach einer günstigen Gelegenheit zum Krieg, nach einem Casus Belli, zu suchen. Er musste nicht lange warten.

Otto von Bismarck, Kriegsminster von Roon und Chef des Generalstabs Graf Helmuth von Moltke (der Ältere)
Otto von Bismarck, Kriegsminster Albrecht von Roon und Chef des Generalstabs Graf Helmuth von Moltke (der Ältere)

Im Jahr 1869 war der spanische Thron wieder einmal heftig umstritten und nach langer Diskussion beschloss der spanische Kronrat, die Krone einem Vetter Wilhelms, dem Prinzen  Leopold von Hohenzollern anzubieten, aus der schwäbischen, katholischen Seitenlinie der Hohenzollern. Als die Nachricht über das spanische Angebot und die Akzeptanz des Prinzen Paris erreichte, interpretierten sowohl Kaiser Napoleon als auch seine loyalen Untertanen die Botschaft aus Madrid als Beweis für eine erneute Verschwörung Deutschlands, Frankreich zu umzingeln. Wachsamkeit und natürlich die Ehre der französischen Nation geboten, sofort die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um das geplante Verbrechen im Keim zu ersticken.

Der französische Botschafter in Preußen, Vincent Benedetti, wurde also mit dringender Botschaft nach Bad Ems geschickt, wo Wilhelm zur Kur weilte. Benedettis Mission bestand darin, zwei Forderungen Napoleons zu überbringen. Erstens müsse Prinz Leopolds Zusage sofort widerrufen werden und zweitens müsse Wilhelm, in seiner Eigenschaft als Chef der Familie Hohenzollern, eine öffentliche Erklärung abgeben, dass auf keinen Fall ein Prinz des Hauses ein spanisches Angebot annehmen werde, sollte es erneuert werden.

Die Forderungen waren, um es gelinde auszudrücken, ziemlich starker Tobak, denn Napoleon III. hatte in dieser Sache weder Anlass noch Autorität. Wilhelm ließ bestellen, dass nichts den Kaiser von Frankreich daran hindere, das Thema mit Prinz Leopold selbst zu diskutieren – dieser sei ein erwachsener Mann, und er, Wilhelm, wäre nicht seine Mutter. In Bezug auf die zweite Forderung wies Wilhelm auf seinen Mangel an Autorität hin, für zukünftige Generationen von Hohenzollern Zusagen abgeben zu können. Benedetti kabelte nach Paris, berichtete Wilhelms Antworten, und es wurde ihm befohlen, um eine zweites Audienz zu bitten und Napoleons Anfragen zu wiederholen. Solch wiederholten Anfragen waren nicht gerade guter diplomatischer Stil. Wilhelms Sekretär Heinrich Abeken fasste das zweite Interview in einem Telegramm an Bismarck zusammen:

Seine Majestät, der König, hat mir geschrieben:

Graf Benedetti hat mich auf der Promenade abgefangen und von mir in einer sehr inopportunen Manier gefordert, dass ich ihn ermächtigen sollte, sofort zu telegrafieren, dass ich mich auf ewig gebunden hätte, nie wieder meine Zustimmung zu geben, falls die Hohenzollern ihre Kandidatur erneuerten.

Ich habe diese Forderung etwas streng abgelehnt, da es weder richtig noch möglich ist, Verpflichtungen solcher Art [für immer und ewig] einzugehen. Natürlich erzählte ich ihm, dass ich noch keine Nachrichten erhalten hatte und da er über Paris und Madrid besser informiert wäre als ich, müsse ihm klar sein, dass meine Regierung in diesem Falle nicht betroffen war.

[Auf Anraten eines seiner Minister] entschied sich der König – angesichts der oben genannten Forderungen – Graf Benedetti nicht mehr zu empfangen, aber er ließ ihn von einem Adjutanten ausrichten, dass Seine Majestät mittlerweile von Leopold eine Bestätigung seines Thronverzichts erhalten habe, was Benedetti bereits aus Paris wisse, und er dem Botschafter daher nichts weiter zu sagen hätte.

Seine Majestät legt Ihrer Exzellenz (dem Adressaten) nahe, dass Benedettis neue Forderungen und ihre Ablehnung sowohl an unsere Botschafter als auch an die Presse kommuniziert werden sollten. [29]

Bismarck redigierte den Text ein wenig und leitete ihn an das französische Pressebüro HAVAS weiter:

Nachdem die Nachricht vom Verzicht des Fürsten von Hohenzollern dem Kaiser von der Königlich Spanischen Regierung mitgeteilt worden war, stellte die französische Regierung, durch den französische Botschafter in Ems, eine weitere Forderung an Seine Majestät den König; dass er den Botschafter ermächtigen sollte, nach Paris zu senden, dass Seine Majestät der König sich zu jeder Zeit verpflichte, nie wieder seine Zustimmung zu erteilen, sollten die Hohenzollern ihre Kandidatur wiederaufgreifen.

 Seine Majestät der König lehnte es daraufhin ab, den Botschafter erneut zu empfangen, und ließ ihm vom diensthabenden Adjutanten ausrichten, dass Seine Majestät keine weitere Mitteilung mehr an den Botschafter zu richten habe. [30]

Bismarcks Entwurf der Emser Depesche
Bismarcks Entwurf der Emser Depesche

Dadurch bekam die Botschaft einen neuen Twist:

Er (Bismarck) schnitt Wilhelms versöhnliche Phrasen aus und betonte die eigentliche Frage. Die Franzosen hatten Forderungen unter Androhung von Krieg gestellt und Wilhelm hatte sie abgelehnt. Dies war keine Fälschung; es war die klare Wiedergabe der Fakten. Sicherlich erweckte die Bearbeitung des Telegramms, das am Abend desselben Tages (13. Juli) an die Medien und die ausländischen Botschaften veröffentlicht wurde, den Eindruck, dass Benedetti etwas zu fordernd war und der König äußerst abrupt. Sie sollte den Franzosen den Eindruck vermitteln,  König Wilhelm I. habe Graf Benedetti beleidigt – andersherum interpretierten die Deutschen das modifizierte Telegramm so, dass der Graf ihren König beleidigt habe. …

Die französische Übersetzung der Agentur Havas änderte die Forderung des Botschafters („il a exigé“ – ‘er hat gefordert’) in eine Frage um. Das deutsche “Adjutant”, was auf einen hochrangigen Mitarbeiter des Königs  (Aide-de-camp) verweist, wurde nicht übersetzt, sondern auf Französisch belassen, wo es nur einen Unteroffizier (Adjudant) bedeutet – was darauf hindeuten sollte, dass der König den Botschafter absichtlich beleidigt hatte, indem er einen Soldaten mit niedrigem Rang auswählte, um ihm die Nachricht zu übermitteln. Dies war die Version die die meisten Zeitungen am folgenden Tag, der auch noch zufällig der 14. Juli (Feiertag der Erstürmung der Bastille) war, veröffentlichten, und damit die Franzosen glauben ließen, dass der König ihren Botschafter absichtlich beleidigt hatte noch bevor der Botschafter seine Geschichte erzählen konnte. …

Die falsche Einschätzung Frankreichs in Bezug auf seine eigene Position in der Sache entflammte die Dinge weit über das Notwendige heraus und Frankreich begann zu mobilisieren. Nach weiteren unsachgemäßen Übersetzungen und Fehlinterpretationen des Telegramms in der Presse, verlangten aufgeregte Massen in Paris den Krieg, genau wie Bismarck es erwartet hatte. Die Emser Depesche hatte nun auch in Deutschland die nationalen Gefühle aufgeputscht. Es ging jetzt nicht mehr nur um Preußen alleine; aller süddeutsche Partikularismus wurde verworfen.

Benedetti, der Beauftragte des französischen Außenministers Herzog Antoine Alfred Agénors de Gramont  für dessen sinnlose Forderungen (die Hohenzollern-Sigmaringer hatten die Kandidatur von Prinz Leopold schon am 11. Juli 1870 mit Wilhelms „voller und uneingeschränkte Zustimmung“  zurückgezogen), wurde zu einem unsichtbaren Nebendarsteller; seine eigenen Schreiben an Paris spielten keine Rolle mehr. Mit überwältigender Mehrheit stimmten Parlament und Regierung für Kriegskredite und Frankreich erklärte Preußen den Krieg am 19. Juli 1870. [31]

Genau das hatte Bismarck erwartet. In einer Reihe von geheimen Verträgen mit den süd- und mitteldeutschen Staaten seit 1866 hatte er den Grundstein für den nun eingetretenen Fall gelegt – Krieg mit Frankreich. Für den Fall, dass Frankreich Preußen den Krieg erklärte, hatten die übrigen deutschen Staaten Preußen militärische Unterstützung zugesagt. Zwei weitere Vereinbarungen, die Bismarck mit Russland und Österreich sub-rosa verhandelt hatte, sicherten deren Neutralität bei den Ereignissen, die sich nun entfalteten. Napoleon konnte keinen einzigen Verbündeten finden und die deutschen Länder, die er ursprünglich für sich hatte gewinnen wollen, marschierten nun an der Seite von Preußen, um den dritten Bonaparte zu besiegen, so wie sie den ersten besiegt hatten.

Zum ersten Mal seit der Niederlage der Türken in Wien im 17. Jahrhundert erschien eine gemeinsame deutsche Armee auf dem Feld. Der Feldzug von 1870 wurde daraufhin zur Apotheose moderner militärischer Planung, weil er weitgehend so lief wie geplant. Zum ersten Mal in einem bedeutenden europäischen Krieg wurden die Eisenbahnlinien zum Hauptmittel des Truppentransports und Koordination der Zugbewegungen der entscheidende Faktor für die richtige Anlieferung und den späteren Einsatz der Kräfte. Die Eröffnungsgefechte an den Grenzen wurden größtenteils gewonnen, so wie Moltke es erwartet hatte, und gefolgt von einem groß angelegten Stoß nach Lothringen. Die Hauptachse des Angriffs zielte auf die Maas, von deren Überquerung die Franzosen den Feind um jeden Preis abhalten mussten, denn sie war die letzte natürliche Verteidigungslinie auf dem Weg nach Paris.

Schlacht bei Sedan, 1. und 2. September 1870
Schlacht bei Sedan, 1. und 2. September 1870

Napoleon III. war selbst nach Sedan gereist, wo die französischen Truppen konzentriert waren. Moltkes Plan war es, durch die gleichzeitige Vorwärtsbewegung zweier Zangen nördlich und südlich ihrer Defensivposition die französische Armee einzuschließen und den Fluss zu verwenden, um ihren eventuellen Rückzug zu blockieren. Die Operation war erfolgreich und am 2. September 1870 mussten sich Napoleon III und die französische Armee ergeben. Zahlenmäßig wurde die Schlacht von Sedan zum größten Sieg in modernen Zeiten, der in einer einzigen Begegnung erreicht wurde; über 100.000 französische Soldaten mussten in Gefangenschaft marschieren. Die Kapitulation des Kaisers besiegelte den endgültigen Erfolg, selbst wenn die deutschen Soldaten durch Aufräumarbeiten und die langwierige Belagerung von Paris noch ein paar Monate beschäftigt blieben.

Bismarck und Napoleon nach der Schlacht von Sedan
Bismarck und Napoleon nach der Schlacht von Sedan
Der Spiegelsaal von Versailles
Der Spiegelsaal von Versailles

Am 18. Januar 1871 versammelten sich die deutschen Fürsten im großen Spiegelsaal des Schlosses von Versailles und erklärten die Gründung eines neuen “Deutschen Reiches“. Sie wählten einstimmig Wilhelm I., König in Preußen, zur neuen Würde des „Deutschen Kaisers“ [nicht ‚Kaiser von Deutschland‘]. Da das neue Staatswesen technisch gesehen nur eine „ewige“ Föderation von souveränen Fürsten war, die in verschiedener Hinsicht unabhängig blieben – wie der Vertrag es bestimmte – war und wurde das Zweite Reich nie ein zentralisierter Staat wie Frankreich oder Russland.

Das berühmte Bild Anton von Werners - Kaiserproklamation am 18. Januar 1871
Das berühmte Bild Anton von Werners – Kaiserproklamation am 18. Januar 1871
Siegesparade durch Paris am 1. März 1871
Siegesparade durch Paris am 1. März 1871
Siegesfeier in Berlin
Siegesfeier in Berlin

Doch schon bald traten Mängel in Bismarcks großem Entwurf auf, der treffend als “Revolution von oben” bezeichnet wird. Die Vereinigung war nicht auf den Willen des deutschen Volkes zurückzuführen, sondern auf einen Bund von 36 deutschen Fürsten, die sich zwar einig waren, einen von ihnen zum Kaiser zu erheben, aber sonst in wenig anderem. Die deutsche Bourgeoisie hatte nicht erreichen können, was den Bürger der Vereinigten Staaten, Englands oder Frankreichs zugesichert worden war, nämlich politische Emanzipation: nicht aus Mangel an Versuchen, sondern durch die blutige Niederschlagung der Reformbewegung von 1848. Die Bemühungen der deutschen Bevölkerung waren zusammengebrochen in den Horrorbildern von Soldaten, die auf ihre eigenen Familien schossen und erstickt durch den Terror politischer Polizei. Diese schrecklichen Erfahrungen dürfen keinesfalls unterschätzt werden: zusammen mit den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, die noch tief im volkstümlichen Unterbewusstsein lebten, erklären sie vieles von der politischen Apathie, die vor 1871 in Deutschland herrschte. Für die Bourgeoisie verstärkte Bismarcks “Revolution von oben” nur das Gefühl, von politischen Entscheidungen ausgeschlossen zu sein. Peter Watson erklärt:

In einem echten Sinn und wie es Gordon Craig betont hat, haben die einfachen Menschen in Deutschland keine Rolle bei der Gründung des Reiches gespielt. “Der neue Staat war ein ‚Geschenk‘ an die Nation, zu der der Empfänger nicht befragt worden war.”  Seine Verfassung war nicht verdient oder erkämpft worden; sie war nur ein Vertrag zwischen den Fürsten der bestehenden deutschen Staaten, die ihre Kronen bis 1918 behielten.

Für unser modernes Denken hatte dies einige außergewöhnliche Konsequenzen. Ein Ergebnis war, dass das Reich ein Parlament ohne Macht, hatte, politische Parteien ohne Zugang zu Regierungsverantwortung und Wahlen, deren Ergebnis nicht die Zusammensetzung der Regierung bestimmte. Dies war alles ganz anders – und noch viel weiter rückwärtsgewandt – als was es unter den deutschen Konkurrenten im Westen gab. Die Angelegenheiten des Staates verblieben in den Händen des Landadels, obwohl Deutschland zu einer Industriemacht geworden war. Um so mehr und mehr Menschen zu den industriellen, wissenschaftlichen und intellektuellen Erfolgen Deutschlands beitrugen, desto mehr fiel es auf, dass das Land von einer sehr kleinen Gruppe traditioneller Figuren regiert wurde – ländliche Aristokraten und militärische Befehlshaber –  an deren Spitze der Kaiser selbst. Dieses Missverhältnis wurde für das politische Bewusstsein des “Deutschtums” im Vorfeld des Ersten Weltkrieges von grundlegender Bedeutung.

Es war einer der größten Anachronismen der Geschichte und hatte zwei Auswirkungen, die uns hier direkt beschäftigen. Die Mittelklasse, politisch ausgeschlossen und dennoch bestrebt, ein gewisses Maß an Gleichheit zu erreichen, griff auf Bildung und Kultur zurück, also Schlüsselbereiche, in denen Erfolge erzielt werden konnte – Gleichheit mit der Aristokratie und Überlegenheit im Vergleich zu vielen Ausländern in einer wettbewerbsfähigen, nationalistischen Welt. “Hochkultur” war daher im Kaiserreich immer wichtiger als anderswo und das ist ein Grund, warum … sie in der Zeit von 1871 bis 1933 so gut gedieh. Aber dies gab der deutschen Kultur einen eigentümlich schizoiden Ton: Freiheit, Gleichheit und persönliche Unterscheidungskraft verblieben tendenziell im “Inneren” Heiligtum” des Individuums, während die Gesellschaft oft als eine ” willkürliche, oberflächliche und häufig feindliche Welt dargestellt wurde.”

Wilhelm II

Der zweite Effekt, der sich mit dem ersten überschneidet, war ein Rückzug in den Nationalismus, jedoch  in einen klassenbasierten Nationalismus, der sich gegen die neu geschaffene industrielle Arbeiterklasse (und den erwachenden Sozialismus) richtete, gegen Juden und nichtdeutsche Minderheiten. “Nationalismus wurde als eine Möglichkeit sozialen Fortschritt mit utopischen Möglichkeiten gesehen.”

Vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Massengesellschaft betrachtete die gebildete Mittelschicht Kultur als ein Netz stabiler Werte, die ihr Leben verbesserten, sie vom “Pöbel” (Freuds Wort) abhoben und insbesondere ihre nationalistische Orientierung verstärkte. Das “Volk”, ein semi-mystisches, nostalgisches Ideal wie ganz normale Deutsche einmal gewesen wären – ein zufriedenes, talentiertes, unpolitisches, “reines” Volk – war zu einem populären Stereotyp in Deutschland geworden. [32]

Es ist wohl fast unnötig zu erwähnen, dass solche “zufriedenen, unpolitischen und reinen” Menschen” niemals außerhalb der Vorstellung von übereifrigen Geschichtsprofessoren und rassistischen Journalisten existierten. Aber der Stereotyp “Volk” funktionierte und führte zu einer Art gegen Sozialdemokratie und Katholiken gerichteten Nationalismus, der nicht wirklich gegen andere Nationen gerichtet war, sondern gegen den “inneren Feind” – Liberale, Demokraten, Sozialisten, Katholiken, Juden und so weiter – gegen deren “Internationalismus” die preußischen säkularen und protestantischen kirchlichen Behörden nie müde wurden zu warnen. Es war im Wesentlichen ein Nationalismus der oberen Gesellschaftsschichten, der versuchte, die Unterstützung der bürgerlichen Mittelschicht gegen die verschiedenen Feinde der “Kultur“zu schüren, erhalten und einzubinden. Dieser Nationalismus des Zweiten Reiches lief fast auf eine Negation der Auswirkungen der Industrialisierung hinaus, der Moderne, in gewisser Weise sogar der Aufklärung. Sein Charakter blieb mittelalterlich.

Berlin, Unter den Linden, ca. 1900

Der Kern dieses “inneren” Nationalismus formte in den Jahren nach der Reichsgründung des Nukleus der “Völkischen Bewegung“, der wir – und die Welt – mehr oder weniger den Ersten und Zweiten Weltkrieg verdanken. Sie absorbierte die “blutige Romantik” der napoleonischen Zeit [siehe dazu einen Artikel von Elke Schäfer] und wurde von der Elite später als nützliche Idioten wahrgenommen und benutzt. Nicht umsonst hatten die idealisierten Darstellungen der “Germania”, unten zwei von Philip Veit, immer Schwerter in der Hand.

Als zum Beispiel eine „Deutsche Arbeiterpartei“ in Böhmen (d. h. technisch gesehen Österreich) vor dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde, war es nicht das Ziel dieser Partei, die Sache der Arbeiterklasse voranzutreiben, wie man naiverweise annehmen könnte, sondern den Schutz und Vorrang der Interessen deutscher Arbeiter gegenüber tschechischen oder mährischen Arbeitern sicherzustellen. Das deutsche Volk blieb indes ein politisches Mündel der alten Eliten, die absolut nicht gewillt waren, die kostbare Autorität aufzugeben, die sie nach den Schocks der Revolutionen von 1789 und 1848 und der napoleonischen Kriege gerade mal so wiedergewonnen hatten. Die Verfassung, die der Adel nach seinen Bedürfnissen und Ängsten 1871 maßschneiderte, konnte man in ihrer offensichtlichen Furcht vor Demokratie und Liberalismus mit gutem Grund anachronistisch nennen.

Denn den “zufriedenen, unpolitischen und reinen” Deutschen, die das offizielle Kaiserreich beschwor, ging es nicht gut, falls sie nicht gerade als Adelige geboren waren. Die deutsche Industrialisierung ging über Leichen – Bismarcks spätere Sozialgesetzgebung entstand nicht aus seinem Herzblut für die Leiden der Arbeiterklasse, sondern waren seine minimalen Zugeständnisse, die sozialistische Revolution zu verhindern. Es gab inoffizielle Sklaverei – die Schwabenkinder – und die Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse in den Großstädten waren unbeschreiblich schlecht. Zwischen 1870 und 1919 wanderten alleine 3.279.021 Deutsche nach den USA aus.

Kinderarbeit
Kinderarbeit

Der verfassungsrechtliche Rahmen des Deutschen Reiches … unterschied sich in wichtigen Punkten stark von dem Großbritanniens oder Frankreich, deren unterschiedlich strukturierte, aber relativ flexible parlamentarische Demokratien ein besseres Potenzial boten, den sozialen und politischen Anforderungen gerecht zu werden, die sich aus dem raschen wirtschaftlichen Wandel ergeben.

In Deutschland wurde das Wachstum des parteipolitischen Pluralismus, der sich im Reichstag manifestierte, nicht in parlamentarische Demokratie übertragen. Mächtige Interessen – große Grundbesitzer, … das Offizierskorps der Armee, die obersten Ebene der Staatsbürokratie, selbst die meisten Reichstagsparteien setzten ihre Blockade fort.

Der Reichskanzler blieb ein Angestellter des Kaisers, der ihn jederzeit ernennen oder entlassen konnte, unabhängig von den Kräfteverhältnissen im Reichstag. Die Regierung selbst stand über dem Reichstag, unabhängig von der Parteipolitik – zumindest in der Theorie. Wichtige politische Bereiche, insbesondere die außenpolitischen und militärischen Angelegenheiten, lagen außerhalb parlamentarischer Kontrolle.

Die Macht wurde – angesichts des zunehmenden Drucks nach radikalen Veränderungen – von den bedrängten Kräften der alten Ordnung eifersüchtig bewacht. Einige von ihnen, die zunehmend Angst vor der Revolution hatten, waren sogar bereit, über Krieg nachzudenken – als eine Möglichkeit, an der Macht festzuhalten und die Bedrohung durch den Sozialismus abzuwehren. [33]

Diese Bereitschaft war jedoch nicht auf Deutschland beschränkt: die meisten reaktionäreren Monarchien des Kontinents, insbesondere Russland, aber auch Italien, Spanien und einige Balkanländer, fürchteten die Sozialisten viel mehr als die Armeen der anderen Fürsten, mit denen man sich immer arrangieren konnte. Die Gründung der Sozialistischen Internationale (SI) erwies sich als Schreckgespenst der Monarchien. Aber was auch immer die wirkliche Bedrohung durch den Sozialismus oder irgend einer anderen modernen Entwicklung bedeuten mochte, das Zweite Reich personifizierte in gewissen Hinsichten, vor allem in seinen inneren Beziehungen, einen deutlich vormodernen Charakter – als hätte sich seit 1806 nichts verändert. Man sieht es am deutlichsten in …

… der föderalen Struktur des Reiches, die den Rechten und Befindlichkeiten insbesondere der süddeutschen Bundesländer Rechnung zu tragen versuchte. Die Gründung einer badischen Gesandtschaft in Berlin und einer preußischen in Karlsruhe (der Hauptstadt von Baden) ist ein Hinweis auf den bemerkenswert “unfertigen” Charakter der Struktur des Reiches – es ist, als wäre die Entwicklung hin zu einer modernen, einheitlichen Verfassungsstruktur auf halbem Weg stehengeblieben.

Aber das föderale System des Kaiserreichs ging noch weiter: 1894 wurden auch in München und Stuttgart badische Gesandtschaften eröffnet und etwas später schlug Russland sogar vor, einen russischen Militärattaché in Bayern zu stationieren. Diese Botschaften waren nicht bloß Institutionen aus Höflichkeit, sondern repräsentierten einen wichtiger Bestandteil der politischen Struktur des Reiches, und sie waren ein Hinweis darauf, dass das kleinere Deutsche Reich (ohne Österreich), durch Krieg und Diplomatie geschmiedet, in vielerlei Hinsicht sogar nach seiner sogenannten Vereinigung mit außenpolitischen Methoden regiert wurde.

Deutsches Reich 1871 - 1918
Deutsches Reich 1871 – 1918

Ein verwandtes Problem, über das sich die badischen Gesandten häufig beschwerten, war der Fortbestand und das konstante Wachstum des Partikularismus, insbesondere in Bayern. Der aufmerksame badische Gesandte in München, Baron Ferdinand von Bodman, berichtete im Dezember 1895 aus der bayerischen Landeshauptstadt, dass “unter dem Einfluss des alles beherrschenden Hofes und der österreichisch-klerikalen (Katholischen) Partei, alle Maßnahmen … auf den Aufbau Bayerns als autarkem Staat … gerichtet sind.“ Vor allem in den beiden bayerischen Armeekorps, so Bodman, „werden das Reich und der Kaiser, sein Kopf, so weit wie möglich eliminiert.”

Graf Anton Monts, der preußische Gesandte in München, war überzeugt, dass “ein Prozess der Distanzierung von dem Reich stattfände”, so berichtete Bodman weiter. Ebenso beobachtete der kluge Arthur von Brauer, der  viele Jahre unter Bismarck gedient hatte, im Mai 1893, dass der bayerische Partikularismus enorme Fortschritte mache. Er schrieb an den Großherzog: ” … dass unter dem Einfluss der altbayerischen Partei die monströse Idee immer mehr an Boden gewinnt, dass Süddeutschland unter die besondere Hegemonie Bayerns gestellt werden sollte, so wie Norddeutschland unter die von Preußen. ” 1898 fühlte sich der Großherzog von Baden selbst gezwungen, die Reichsregierung vor einer Annäherung an die katholische Zentrumspartei zu warnen, da es das Ziel dieser Partei war “das heutige Reich zu zerstören, um eine neue Bundesverfassung mit einem katholischen Kopf an der Spitze zu schaffen.“

Ob sie nun auf einer nüchternen Einschätzung objektiver Umstände beruhten oder letztendlich nur in psychologischer Hinsicht erklärbar sind, sind solche Angstkomplexe doch von allergrößter Bedeutung für die Beurteilung der politischen Kultur des wilhelminischen Deutschland. [34]

Der Kaiser und seine Söhne

Diese Analyse von John Röhl identifiziert den einen psychologischen Faktor in der Politik des neuen Imperiums, aber es gab noch eine andere, unausgesprochene, psychologische Implikation. Das Reich, das Bismarck eine letztendlich “über eine stark fragmentierte Gesellschaft gelegte” Konstruktion genannt hatte, war eine Formel geboren aus der Notwendigkeit, der spezifischen deutschen Situation, vor allem ihrem politischen Partikularismus, Rechnung zu tragen; somit musste Nationalismus und Zusammenhalt von außen her beigebracht bzw. geschaffen werden, und zwar von oben nach unten statt von unten nach oben und durch die Menschen selber. Ausschlaggebend war für Bismarck jedoch, dass das Ergebnis akzeptabel für seinen König sein würde, anders als die Krone von 1849. Im Wesentlichen jedoch wurden einfach die neuen Kleider des Kaisers über das gleiche, alte und autoritäre preußische Regime gehängt.


Fußnoten: [29] [30] [31] Heinrich Abeken, Otto von Bismarck – Emser Depesche siehe Wikipedia

[32] Watson, Peter, The German Genius, Harper Collins 2010, ISBN 978-0-06-076022-9, S. 112 – 113

[33] [34] Röhl, John C.G., The Kaiser and his Court, Cambridge University Press, ISBN 0-521-56504-9, S. 112 – 113 und 153 – 154

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Jeder für sich und Gott gegen alle – Adolf Hitler als Bettler in Wien

Das unterirdische Obdachlosenasyl “Die Gruft” in der Wiener Mariahilferstrasse im Jahr 2000 – wenig hat sich geändert seit Hitlers Tagen.

Vorhergehende Artikel: Eine Familie in Österreich [Hitlers Eltern]

Die Kindheit eines Kleinbürgers

Adolf Hitler in der Schule

ZDF Doku: Hitler Privat – Das Leben des Diktators

Ein faszinierender Artikel von Peter Rybora über das Leben der Wiener Obdachlosen in www.unterwelt.at

Amerikanischer Video-Clip über den Putsch 1923 und Ein Kuss von einem Fan bei der Olympiade 1936


Adolf Hitlers Meldezettel vom 21. August 1909, diesmal als „Schriftsteller“, in die Sechshauserstrasse 56, 2. Stock, Zimmer 21, bei Frau Antonie Oberlechner, im XIV. Distrikt

Manchmal fühlt sich ein Mann, als ob die wahren Geschicke seines Lebens an einem fragilen Pendel hingen, das durch – zwar rätselhafte und unregelmäßige Bewegungen – doch einem vorbestimmten Schicksal folgt. Es ist dann noch unerklärbarer, noch verwirrender, dass wir zu keinem bestimmten Zeitpunkt unsere eigene Position in diesem kosmischen Maßstab bestimmen können, ohne entweder die Periode der Schwingung oder ihre Richtung zu ändern. Mit anderen Worten, wir können uns zwar bewusst sein, wo wir uns gegenwärtig befinden, aber nicht, ob wir uns nach oben oder nach unten auf dieser Waage des Schicksals bewegen, da jede unserer Handlungen oder Unterlassungen unberechenbare Auswirkungen auf die Zukunft haben kann. Als Adolf Hitler seinen Freund August Kubizek im Herbst 1908 verließ und in den anonymen Massen der Hauptstadt Wien untertauchte, forderte er Fortuna selbst heraus, in Trotz und Zorn.

Adolf Hitlers Meldezettel vom 21. August 1909, diesmal als „Schriftsteller“, in der Sechshauserstrasse 56, 2. Stock, Zimmer 21, bei Frau Antonie Oberlechner, im XIV. Distrikt

Robert Payne porträtiert für uns die Auswirkungen des auf-sich-selbst-gestellt seins in einer großen Stadt:

Wenn ein Mensch in einer großen Stadt in Armut und Elend versinkt, passieren ihm viele seltsame Dinge. Wenn er keine Familie oder Freunde hat, keine Wurzeln, wird er schnell eine Beute von Täuschungen.

In seiner Einsamkeit und zu seinem Schrecken findet er heraus, dass er in einem wilden Land mit seltsamen Sitten und unerklärlichen Grausamkeiten angekommen ist; einem Land, in dem er als Fremder keine Rechte oder Privilegien besitzt, auf Gedeih und Verderb ein gehetztes Tier von jedem und vor allem der Willkür der Beamten ist, und keine Sicherheit fühlt, selbst wenn er in der Nacht in der Dunkelheit seines Zimmers alleine ist.

Mysteriöse Stimmen sprechen ihn an, der Seitenblick eines Fremden auf der Straße erfüllt ihn mit Panik, und er glaubt, ein vom Wind auf seine Füße geblasener Zeitungsfetzen könne eine Nachricht höherer Mächte überbringen.

Bettler in Hannover - Walter Ballhause
Bettler in Hannover – Walter Ballhause

Wir wissen auch, dass Armut ihre eigenen, eingebauten Trostpflaster besitzt. In „Down and Out in Paris und London“, beschreibt George Orwell die seltsame, dumpfe Euphorie, die extreme Armut begleitet.

Wir wissen viel mehr über diese einsamen, entfremdeten Menschen als noch vor fünfzig Jahren, vielleicht weil die moderne Gesellschaft mehr von ihnen hervorbringt. Wir kennen die komplizierten Vorrichtungen die sie erfinden, um ihrem Sinn für menschliche Würde zu bewahren, und wir können Schritt für Schritt verfolgen, wie die Fetzen dieser Menschenwürde von ihnen gerissen oder in unvorhersehbarer Weise gerettet werden.

Diese Männer sind auf Gedeih und Verderb den Jahreszeiten ausgeliefert, denn warme Tage verleihen ihnen künstlichen Mut und Winter reduziert sie zu zitternder Inkohärenz. Sie reden endlos mit sich selbst und klammern sich verzweifelt an ihre Fantasien. Der blaue Fleck an der Wand, der schon vor langer Zeit aufgehobene Stein, die Schnur um den Mittelfinger, diese alle werden zu Fetischen, ohne die das Leben unerträglich wäre.

Man lernt Langeweile kennen und gemeine Verwicklungen und die Anfänge des Hungers, aber man entdeckt auch die große ausgleichende Eigenschaft der Armut: die Tatsache, dass sie die Zukunft negiert

Innerhalb gewisser Grenzen ist es tatsächlich so, dass je weniger Geld Du hast, Dir umso weniger Sorgen machst. Wenn Du nur hundert Franken hast auf der ganzen Welt, wirst Du leicht ein Opfer von Panik. Wenn Du nur drei Franken hast, ist das Dir gleichgültig, denn mit drei Franken wirst Du satt bis morgen und weiter als bis morgen kannst Du nicht denken.

Du bist gelangweilt, aber Angst hast Du nicht. Du denkst vage: „In ein oder zwei Tagen werde ich hungern, shocking, nicht?“ Und dann wandert Dein Geist zu anderen Themen. Eine Diät von Brot und Margarine ist, zu einem gewissen Grad, Ihre eigene Linderung.

Aber es gibt auch Trost in der Armut und sogar Apathie kann einen mit der Zeit erschöpfen. Für einen neunzehnjährigen Jugendlichen [wie Hitler], der immer davon träumte, ein großer Künstler zu werden, war Trost jedoch eher in Fantasien seiner eigenen künstlerische Großtaten zu finden, zum künftigen Unbehagen aller, die seinen Fortschritt behindert hatten.

Nachdem er an den Herbstmanövern seines Regiments teilgenommen hatte, kehrte August Kubizek, Adolfs Freund und Mitbewohner, Ende November 1908 nach Wien zurück. Er hatte den Freund natürlich von seiner Ankunft informiert und war deshalb verblüfft, dass Adolf nicht am Bahnhof auftauchte. Gustl kam zu dem Schluss, dass nur etwas von größter Bedeutung, ohne Zweifel eine Art von Notfall, seines Freundes Abwesenheit erklären könne und hetzte in seine Wohnung in der Stumpergasse.

Frau Zakreys, die Wirtin, hatte keine Ahnung, wo Adolf war. Er hatte ihr seinen Auszug am 18. November mitgeteilt, die Miete bis zum Ende des Monats bezahlt und war verschwunden, ohne ihr eine Nachsendeadresse zu hinterlassen. Sie hatte deshalb bereits einen anderen Mieter genommen. Gustl fand schnell ein neues Domizil in einem Gasthaus und hörte viele Jahre lang nichts mehr von seinem Freund. Als er über die Weihnachtsfeiertage in Linz war, besuchte er die Raubals, aber Angela (Adolfs Halbschwester) teilte ihm fast brüsk mit, dass sie keine Idee hatte, wo Adolf war und schien August irgendwie für Adolfs künstlerische Träume verantwortlich zu machen. Dies war sein letzter Kontakt mit der Familie Hitler für die nächsten fünfundzwanzig Jahre, bis er, im April 1938, seinen Freund, nun Kanzler von Deutschland, in Bayreuth zu den Festspielen wiedertraf.

Zu dieser Zeit, wie bis heute, musste jede Änderung der Adresse zur Aufmerksamkeit der Polizei gebracht werden, hauptsächlich, um die Männer im wehrfähigen Alter im Auge zu behalten. Adolf registrierte seine neue Adresse mit der Polizei am 19. November 1908 als Zimmer # 16, Felberstraße 22, c/o Frau Helene Riedl, im XV. Distrikt, direkt am Westbahnhof, wo er bis zum 21. August 1909 als “Student” lebte.

Umgebung des Westbahnhofs Wien und Felberstraße um 1900

Es war offensichtlich, dass seine zweite Ablehnung an der Kunstakademie ihn im September 1908 schwer getroffen hatte, und es ist durchaus möglich, dass er einfach nicht die Nerven hatte, Gustl das wiederholte Scheitern zu gestehen. Eine Sache in Betreff auf den Umzug bleibt jedoch merkwürdig: das neue Zimmer war größer und kostete somit mehr als sein mit Gustl geteilter Lebensraum bei Frau Zakreys. Es wird spekuliert, dass die plötzliche Flucht aus der Stumpergasse erfolgte um etwas oder jemand vor Gustl zu verstecken, vielleicht ein Mädchen. Aber aufgrund eines Mangels an Hinweisen können wir über Hitlers Gründe nur spekulieren, genauso wie wir es bei der Frage müssen, woher das Geld für die höhere Miete kam.

Die Wiener Kunstakademie, die ihn 1907 und 1908 ablehnte …

Dies ist die Zeit in Hitlers Leben, über die wir am wenigsten wissen. Etwas Entscheidendes muss zusätzlich zu dem zweiten Fiasko an der Kunstakademie passiert ist. Wir wissen, dass er etwa acht Monate in der Felberstraße verbrachte, darunter seinen zwanzigsten Geburtstag am 20. April 1909. Jahrzehnte später meldeten sich einige seiner damaligen Nachbarn, mit trüben Erinnerungen an einem höflichen jungen Mann, der immer etwas distanziert erschien, mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Da war ein Café in der Nähe, welches er wohl zu besuchen pflegte, das Café Kubata und von dorther haben wir einige vage Indikatoren, dass er vielleicht einige Zeit in weiblicher Gesellschaft verbrachte. Maria Wohlrab, geb. Kubata, sagte aus, dass sie ihn oft in Begleitung eines Mädchens sah, das vielleicht auf den Namen „Wetti“ oder „Pepi“ hörte. Frau Christa Schroeder, seit den 1920er Jahren langjährige Privatsekretärin Hitlers, bestand darauf, dass ihr Chef erwähnt hatte – mehr als einmal – dass er zu dieser Zeit eine „Geliebte“ namens „Emilie“ in Wien hatte. Die Kassiererin im Café Kubata erinnerte sich später, dass sie den jungen Mann mochte, da „er sehr zurückhaltend und ruhig war, Bücher las und sehr ernst schien, im Gegensatz zum Rest der jungen Männer.“

Wohnungswechsel Wien
Wohnungswechsel in Wien 1908 – 1909

Die Kosten für die Wohnung in der Felberstraße, ob er sie nun allein benutzte oder nicht, waren jedoch eine zu große Belastung für Hitler Finanzen, die jetzt wahrscheinlich limitiert waren auf die fünfundzwanzig Kronen Waisenunterstützung, die er immer noch monatlich erhielt. Er zog wieder um, am 21. August 1909, diesmal als „Schriftsteller“, in die Sechshauserstrasse 56, 2. Stock, Zimmer 21, c / o Frau Antonie Oberlechner, im XIV. Distrikt. Es war nah an der Felberstraße, aber wahrscheinlich billiger, denn die Sechshauserstrasse war eine Durchgangsstraße mit viel Lärm und Straßenbahnverkehr.

Dies schien seine Situation jedoch nicht zu verbessern; weniger als vier Wochen später, am 16. September 1909, verließ er die Sechshauserstrasse, ohne eine neue Adresse zu registrieren. Er musste wohl nah am Ende des Seils gewesen sein: etwa drei Monate lang verlieren sich seine Spuren in den Massen der Armen, in der Anonymität der Obdachlosen und Bedürftigen.

Die Tage seiner Landstreicherei zwangen ihn, ebenso wie die Myriaden, die sein Schicksal teilten, Schutz vor der Kälte des bevorstehenden Winters in Parks, Alleen, Türen und Gräben zu suchen. Wie bereits im Vorwort erwähnt, war ein beliebter Unterschlupf der Vergnügungspark Prater – im Winter größtenteils inaktiv – der viele Bänke bot, für die intensiver Wettbewerb herrschte. Er mag, wie viele andere auch, versucht haben, in Kaffeehäusern, Bars oder Absteigen zu schlafen, in den Wartezimmern von Bahnhöfen oder den Wärmstuben der städtischen Hilfsorganisationen. In Mein Kampf gab er zu, dass „ich auch jetzt noch schaudere, wenn ich an diese erbärmlichen Höhlen, Unterstände und Wohnheime denke, an finstere Bilder von Schmutz, abstoßendem Dreck und noch schlimmeres.” Seine pekuniäre Not war wohl so groß, dass er seine Kunstmaterialien und das meiste seiner Kleidung zu verkaufen gezwungen war; ein Verkauf, der schlecht zu den abfallenden Temperaturen passte. Um es noch schlimmer zu machen, wurde der Winter 1909/10 der kälteste seit Jahrzehnten und eines Tages war Hitler gezwungen, seine Niederlage gegenüber den Wiener Wettergöttern zuzugeben: Eines kalten Dezemberabends tauchte er in dem Arbeitervorort Meidling auf; genauer gesagt, in der langen Schlange bedauernswerter Elender, die auf Einlass in das dortige “Asyl für Obdachlose“ warteten.

Das Asyl in der Unteren Meidlinger Straße, gebaut 1908

Das Asyl, das „in Anbetracht der Interessen der anständigen Bürger hinter dem Meidlinger Friedhof gebaut wurde, weit weg von den Bewohnern“, aber, recht verkehrsgünstig, in der Nähe des Südbahnhofs, war erst kürzlich eröffnet worden (1908). Zusammen mit einer ähnlichen Institution im 3. Bezirk, wurde es vom Wiener „Asylverein“, betrieben, einer Wohltätigkeitsorganisation, die sich durch private Spenden finanzierte und einen jährlichen Zuschuss von der Stadt erhielt. Doch der Verein musste ständig gegen Windmühlen ankämpfen – gegen die drei zusammenhängenden Probleme, die Obdachlosigkeit verursachten: Armut führte zu Obdachlosigkeit, Obdachlosigkeit zu Krankheit und Krankheit zum Verlust des Arbeitsplatzes. Das kaiserliche Wien war eine Metropole von mehr als zwei Millionen Einwohnern und – wie im Vorwort erwähnt – zu dieser Zeit die sechstgrößte Stadt auf der Erde, in welcher sicherlich mehr als eine Viertelmillion der Bewohner zu ewiger Armut verdammt schienen. Viele der Verlierer kamen aus den äußeren Provinzen des Reiches, dem Osten und Süden, und es fehlte ihnen oft an der nötigen Beherrschung der deutschen Sprache, was wiederum ihre Chancen auf Beschäftigung verringerte. Schlimmer noch, es fehlten vielen die Art von Überlebensinstinkten, die in der Stadt galten, im Gegensatz zu denen ihrer ländlichen Herkunft.

Das Meidlinger Haus war eine robuste Angelegenheit und bot Zuflucht für rund tausend Seelen. Im Gegensatz zu anderen Hilfsorganisationen erlaubte es Insassen den Aufenthalt nur für eine Woche (eine Einschränkung, die leicht umgangen werden konnte), aber es bot einen Vorteil, der den meisten anderen Orten fehlte: es nahm ganze Familien und ihre Kinder auf, nicht nur alleinstehende Männer. Es förderte auch die Selbsthilfe: jeder, dessen Gesundheit es zuließ, wurde aufgefordert, in der Reinigung und Wartung des Gebäudes zu helfen, um die Betriebskosten auf einem Minimum zu halten. Das Gebäude selbst war, aufgrund seiner Neuheit, recht ansprechend; es gab jede Menge Waschgelegenheiten, Duschen und zahlreiche Toiletten, alle makellos sauber. Zwei Mahlzeiten pro Tag wurden ausgegeben, Brot und Suppe, zum Frühstück und Abendessen; die Schlafräume waren von den üblichen militärischen Feldbetten gekennzeichnet, aufgestellt mit der Präzision eines Bataillons auf Parade. Während der Tagesstunden wurde von den Insassen erwartet, das Gebäude – vorzugsweise auf der Suche nach Beschäftigung – zu verlassen; herumzulungern war verpönt und konnte leicht zur Ausweisung führen.

Hitlerbild: Ein Aquarell einer Seelandschaft

So sehr er es hasste, musste Hitler jedoch das Ritual der Zulassung ertragen, um seine Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft des Elends zu etablieren. Die Zitternden begann sich außerhalb des Haupttores aufzureihen als die Dunkelheit hereinbrach, gegen 17.00 Uhr, und als die Türen der Einrichtung geöffnet wurden, bildeten sich leise zwei Reihen von Körpern: die Männer rechts, und die Frauen und Kinder auf der linken Seite. Hitler erhielt, wie alle anderen, ein Ticket, das ihn zur vorgeschriebenen einwöchigen Unterkunft berechtigte und wurde einem Messingbett in einem der Schlafsäle zugeordnet. Für einen Mann, der so viel auf seine Privatsphäre hielt wie Adolf Hitler, muss seine erste Erfahrung, mit öffentlichen Duschen und Entlausung konfrontiert zu werden, sehr ungewohnt gewesen sein. Sein stolzer Sinn für Individualität musste spätestens verschwinden, als er in die Herde der anderen Insassen zum Abendessen in die Messe ging. Wie John Toland beobachtete, “ist es für jeden schwer, außer vielleicht einem anderen Empfänger institutionalisierter Wohltätigkeit, die Schande eines stolzen jungen Mannes an seinem ersten Tag in den Toren einer solchen Einrichtung zu verstehen.“

Für einen Mann, der so an seine Freiheit gewohnt war wie Adolf Hitler, fühlte sich das Asyl sicherlich wie ein Gefängnis an. Man kann sich vorstellen, wie er, völlig verloren, auf einem Feldbett in einem großen Saal mit Hunderten von Fremden saß, von denen ein jeder besser mit der Situation vertraut war als er. Es war vielleicht seine Ähnlichkeit mit einem verlorenen Kätzchen, das seinen Bettnachbarn, einen unregelmäßig beschäftigten Diener und Kellner namens Reinhold Hanisch, veranlasste, sich um ihn zu kümmern und ihn einzuweisen. Obwohl Hanisch sich später als unzuverlässiger Zeuge entpuppte – bevor er Hitler traf, hatte er schon mehr als einmal im Gefängnis gesessen, da er öfters unter falschem Namen mit frisierten Geburtsurkunden gelebt hatte und in späteren Jahren Hitlergemälde fälschte – klingen einige Teile seiner Memoiren, die die amerikanische Zeitschrift „The New Republic“ 1939 unter dem Titel „Reinhold Hanisch: Ich war Hitlers Buddy, posthum veröffentlichte, doch glaubhaft – unter vielem, das sich als falsch oder zumindest irreführend erwiesen hat.

Im Gegensatz zu Hitler war Hanisch ein professioneller Nutzer des wohlfahrtsunterstützten Lebensstils; er war vertraut mit dem Innenleben des Asyls und jedes vergleichbaren Hauses in Wien und auch ein Experte in den allgemeinen Überlebensstrategien von Vagabunden. Er konnte seinen Wert sofort beweisen: einer der ersten Tricks, die er Hitler lehrte, war, wie man die zeitliche Einschränkung des Unterschlupfs umgehen konnte; alles, was man zu tun hatte, war, für ein paar Heller, die ungenutzten Teile der Aufenthaltskarten derjenigen Insassen zu erwerben, die aus einer Vielzahl von Gründen ihre Zuteilung nicht verbraucht hatten. Damit war die erste Gefahr – in die Kälte zurück zu müssen – gebannt und Hitler begann seine neue Bekanntschaft langsam zu schätzen.

Reinhold Hanisch kam aus dem Sudetenland, dem nördlichen, deutschen Teil Böhmens – so glauben es zumindest manche, denn er wird auch oft als in Grünwald bei Gablenz geboren aufgeführt – aber er war viel gereist und konnte seinem neuen Freund viele Geschichten über Deutschland, Adolfs gelobtem Land, erzählen. Hanisch hegte auch ein paar Träume, Künstler zu werden und hatte so eine verwandte Seele in Hitler erkannt. Hanisch hatte viel gesehen und konnte so die Geschichte vieler Städte und Schlösser, Kathedralen und Klöster, Berge und Flüsse erzählen.

Um die Dinge für Adolf unterhaltsamer zu machen, stellte sich heraus, dass Hanisch einige Zeit in Braunau gearbeitet hatte, und sie begannen, Erinnerungen an die Stadt auszutauschen. Wie es häufig der Fall ist, lässt Bekanntes und gemeinsam Erlebtes Vertrauen sprießen, und bald sprachen sie unaufhörlich. Das heißt, bis Hanisch einen neuen Job fand und am 21. Dezember 1909 in die Hermanngasse 16 im II. Bezirk zog und am 11. Februar 1910 weiter, in die Herzgasse 3/4, im X. Bezirk.

Aber nach ein paar Tagen des Zuhörens hatte Hitler die Grundregeln des Straßenlebens auswendig gelernt und sie entwickelten eine Art tägliche Routine. Am Morgen machten sie sich auf den ziemlich langen Spaziergang zum Katharinenkloster in der Nähe von Adolfs alten Jagdgründen am Westbahnhof, um sich in die Warteschlange für die Suppe einzureihen, die die Nonnen mittags ausgaben, und sich dann in einen der wärmenden Räume der philanthropischen Gesellschaften zu begeben, oder in die relative Wärme eines Bahnhofs. Am Nachmittag versuchten sie eine Mahlzeit bei der Heilarmee abzustauben und dann als erste den Weg zurück in die Warteschlange der Anstalt zu finden. Gelegentlich wurden an einem der Bahnhöfe Männer gesucht für einen oder zwei Tage Arbeit – Graben, Schneeschaufeln oder Gepäck schleppen – aber Hanisch hatte schnell erkannt, dass Hitler für solche Nebenjobs zu schwach war. Er hatte auch kein Talent zum Betteln, obwohl er von einem Kameraden die Adressen von leichten Opfern, also potenziellen Spendern, erhielt. Es gab „spezifische Anweisungen für jeden Kunden; zum Beispiel war eine alte Dame auf dem Schottenring mit einem ‚Gelobt sei Jesus Christus‘ zu begrüßen – dann solle er sagen, dass er ein arbeitsloser Kirchenmaler oder ein Schreiner von Heiligenfiguren war. Normalerweise gab sie zwei Kronen für eine solche Geschichte, aber Hitler bekam nur religiöse Plattitüden für seine Mühe.“ Die Nonnen von St. Katharina standen in dem Ruf, eine der wenigen zuverlässigen Adressen in der Stadt zu sein.

Á la longue erkannte Hanisch dass, während praktisch alle Ausgestoßenen der Hauptstadt bettelten, nur sehr wenige malten, und entwickelte den Plan, von Adolfs künstlerischen Fähigkeiten zu profitieren. Wir wissen nicht genau, wann er auf die Idee gekommen ist; entweder während der zwei Monate die Hitler im Meidlinger Asyl verbrachte, oder später im Männerheim in der Meldemannstraße, aber jedenfalls überzeugte Hanisch seinen Freund, dass es der beste Weg sei, einiges dringend benötigtes Geld zu verdienen, kleine Szenen oder Postkarten zu malen und zu verkaufen. Als Hitler einwandte, dass er keine Malutensilien mehr hatte, und zu schäbig aussah, um Verkäufe zu tätigen, wurde der Plan geändert und die Arbeit aufgeteilt: Adolf malte und um den Verkauf kümmerte sich Hanisch, gegen eine Kommission von fünfzig Prozent.

Angela Hitler mit ihre ersten Mann, Leo Raubal

Da war das Problem, dass die beiden potenziellen Unternehmer keine Lizenz hatten, aber Hanisch versicherte seinem Freund, dass solch kleinliche Vorschriften leicht zu umgehen wären, indem sie ihre Verkaufstätigkeit in die dunklen und verrauchten Kneipen der Stadt verlegten, von denen Hanisch, der in vielen dieser Stätten gearbeitet hatte, über ein geradezu enzyklopädisches Wissen verfügte. In Bezug auf die benötigten Malutensilien schlug Hanisch vor, auf die Großzügigkeit von Adolfs Familie zu bauen. Das Café Arthaber, günstig in der Nähe des Bahnhofs Meidling gelegen, war bekannt dafür, Vagabunden Stift und Papier zur Verfügung zu stellen, sobald sie die universelle Aufnahmegebühr – den Preis einer Tasse Kaffee – entrichtet hatten. Adolf schrieb einen Brief, entweder an Tante Johanna oder an seine Halbschwester Angela, und ein paar Tage später kam ein Fünfzigkronenschein – postlagernd. „Das Geld rettete wahrscheinlich sein Leben, denn es gab ihm wieder Hoffnung zu einer Zeit, als er sehr wenig zu hoffen hatte.“

All der wenige Besitz, den er in den vergangenen Jahren angesammelt hatte, war längst verschwunden. Es ist durchaus möglich, dass eine wütende Wirtin einiges statt Miete einbehalten hatte, aber in seiner erbärmlichen Existenz vor dem Asyl hat er vielleicht das meiste davon einfach verloren – aus den Augen, aus dem Sinn. Alle Bücher, Manuskripte, Gemälde, Skizzen, Karten und Zeichnungen waren verschwunden – so wie der schicke Mantel, Hut und Spazierstock. Hätte August die mittellose Figur wiedergetroffen, hätte er ihn vielleicht nicht einmal erkannt. Der junge, fast elegante Bohemien war verschwunden; alles was blieb war ein Stück menschlichen Treibguts, die Trümmer des kleinen Jungen, der seine Gespielen gedrängt hatte, Rothäute zu jagen. Nur Fragmente waren geblieben von dem Sohn, den Klara so geliebt hatte.

Vielleicht hat der Absturz seiner Traumwelt Pulsationen ausgesandt, wie Wellen, an die äußeren Ränder seines Bewusstseins; wo er die Reste seines früheren Selbst in ungewohnter Umgebung gefangen sah – sehend aber nicht erkennend, wie er dort angekommen war. Wie aus einem Winterschlaf erwachend, fand Adolf sich an einem Ort verwirrender Fremdheit und tat sich schwer, den geistigen Zusammenhang von Zeit und Ort wiederherzustellen. In einem Brief von 1913 schrieb er: „Der Herbst 1909 war für mich eine unendlich bittere Zeit. Ich war ein junger Mann ohne Erfahrung, ohne finanzielle Unterstützung, und zu stolz, sie von irgendwem zu akzeptieren, geschweige denn um sie zu bitten.“ Das bittere Gefühl war real genug, aber der letzte Satz war eine Lüge. Sein wahres Problem mit Betteln war, dass es für ihn nicht funktionierte.

Und in gewisser Hinsicht verschwanden die Merkmale dieses Winters nie. In der Beschreibung ihrer Freundschaft, hatte August Kubizek das Porträt eines etwas seltsamen, exotischen, ein wenig umständlichen und manchmal gewalttätigen jungen Mannes gemalt, der dennoch permanent aktiv war, wenn auch nur in egozentrischer Art und Weise; Schreiben, Zeichnen, Malen, eine Oper komponieren und den Neubau von Linz zu planen. Jetzt, weniger als zwölf Monate später, war sein Freund ein Wrack an Geist und Körper. Er hatte Gewicht verloren und seine Gesundheit war mehr als zweifelhaft. Es wurde argumentiert und es erscheint in der Tat wahrscheinlich, dass die unzähligen Beschwerden, groß und klein, die ihn in späteren Jahren plagten, in diesem kalten Winter verwurzelt waren, die sein früheres Lungenleiden verschärft haben können und womöglich auch sein Immunsystem schwächten.

Aber nicht nur war er körperlich erschöpft, auch sein Geist hatte gelitten. Lange Zeit behielt er den unfokussierten Blick, der Visionären und Bettlern gemeinsam ist; Konzentration war sporadisch, Vernunft unzuverlässig, seine Leidenschaften taub, es sei denn ihn störte etwas. Dann konnte er immer noch auflodern, in heftigem, beißenden Crescendo streiten, schimpfen, toben; nur um wieder schnell in die tröstliche Linderung der Apathie zu versinken. Er war am Rande der Aufgabe, als Hanisch ihn auffing, aber nach und nach passte er sich dem Leben der Ausgestoßenen an und  langsam wurde alles besser.

Das Meidlinger Asyl jedoch, Sicherheitsnetz in den Tagen des Unglücks und Irrens, war kein Platz um „Hitler & Hanisch, Postkarten (ohne Lizenz)“ zu beginnen. Ein Ort musste gefunden werden, der nicht nur langjährigen Aufenthalt gestattete, sondern auch über einen Raum verfügte, in dem Hitler tagsüber malen konnte. Hanisch identifizierte einen solchen Ort im Männerheim von Brigittenau, in Wiens neuestem, dem XX. Distrikt.

Das Männerheim, Meldemannstraße 25 – 29, Brigittenau

Wir bitten nun Brigitte Hamann ( „Hitler’s Vienna“, 1. Aufl. Oxford University Press 1999, Tauris Parks 2010, ISBN 978-1-84885-277-8), uns in die Einrichtung einzuführen, in der Adolf Hitler vom 9. Februar 1910 bis zum 24. Mai 1913 lebte:

Das sechsstöckige Männerheim in Wien-Brigittenau, Meldemannstraße 25 bis 29, gehörte zu den modernsten in Europa. Eröffnet im Jahr 1905, wurde es von des Kaisers privater „Franz Joseph I.-Jubiläums-Stiftung für Volkswohnungen und Wohlfahrtseinrichtungen“ betrieben, gemeinsam mit verschiedenen anderen gemeinnützigen Institutionen, die durch Spenden finanziert wurden. Bedeutende Beiträge wurden von jüdischen Familien beigetragen, vor allem von Baron Nathaniel Rothschild und der Familie Gutmann. Die Herberge wurde von der Stadt Wien verwaltet. Die ersten Entwürfe sorgten für Aufsehen während einer Ausstellung im  Künstlerhaus. Es war unüblich für Herbergen, keine gemeinsamen Schlafsäle zu haben, sondern einzelne Abteile für jeden ihrer bis zu 544 Gäste, hervorragende hygienische Bedingungen zu gewährleisten und viele gemeinsame Veranstaltungen anzubieten, um „Bildung und Geselligkeit“ zu fördern.

Brigittenau, am Rande der Stadt gelegen, hatte, aufgrund vieler neuer Industrieanlagen, ein großes Bedürfnis nach Arbeitern und das schnellste Bevölkerungswachstum aller Wiener Bezirke. Die Bevölkerung stieg von 37.000 im Jahr 1890 auf 101.000 im Jahr 1910. Die meisten der neuen Bewohner waren junge alleinstehende Männer, die in den neuen Fabriken arbeiteten und, da es keine billigen Wohnungen gab, sich oft gezwungen sahen, die Nächte als Untermieter in überfüllten Arbeiterwohnungen zu verbringen.

Das neue Männerwohnheim sollte die Anzahl der Untermieter verringern, um dadurch die bedrohte Moral ihrer Gastfamilien zu schützen. Der Treuhänder der Stiftung, Prinz Carl von Auersperg, hatte anlässlich des Besuches von Kaiser Franz Josef im Jahr 1905 darauf hingewiesen dass: “Insbesondere dieses Männerheim ein aktuelles Beispiel sucht, um die … Möglichkeiten aufzuzeigen, effektiv die schädlichen Bedingungen der Unterkunft zu bekämpfen, dem einzelnen Arbeiter statt einer zweifelhaften und überfüllten Schlafstelle nicht nur eine bezahlbare Unterkunft zu bieten, wo er bleiben kann, sondern auch die Möglichkeit Körper und Geist zu stärken.”

Die Miete für einen Schlafplatz betrug nur 2,5 Kronen pro Woche; eine Summe, die sich ein alleinstehender Handwerker oder Handwerker mit einem Jahreseinkommen von 1.000 Kronen durchaus leisten konnte. In Wien wurde die Herberge somit als das „Wunder einer fast göttlichen Unterkunft auf der Erde“ gelobt und als „ein Wunderwerk der Eleganz und Erschwinglichkeit.“ [FN1]

[FN1] Der durchschnittliche Monatslohn im Jahr 1910 betrug 54 Kronen (Österreichische Nationalbank). Werner Maser gibt folgende Beispiele für Gehälter an: „Zu dieser Zeit betrug das Gehalt eines Anwalts nach einjähriger Tätigkeit vor Gericht 70 Kronen pro Monat, das eines Lehrers in den ersten fünf Jahren seiner Karriere 66 Kronen. Ein Postbeamter verdiente 60 Kronen, während ein stellvertretender Lehrer an einer Wiener Sekundarschule vor 1914 ein monatliches Gehalt von 82 Kronen erhielt.“ (Werner Maser, Adolf Hitler: Legende, Mythos und Wirklichkeit, NY 1971, S.43)

Der Wiener Journalist Ernst Kläger verkleidete sich als ein Zuflucht suchender Obdachloser, verbrachte eine Nacht in der Herberge und schrieb einen Artikel darüber. Der Bereich zwischen der Wiener Innenstadt und Brigittenau, jenseits des Donau-Kanals, sei öde, schrieb er. … Schließlich fand er die neue Herberge.

Eine große elektrische Bogenlampe über das Tor zeigte denjenigen den Weg, die über den frischen Hügel ausgegrabenen Bodens stolperten. Im Vergleich zu den anderen, kleinen Häusern rundherum, und den kahlen Fabrikgebäuden im Rücken sieht das Haus stolz aus. Ich öffnete die Tür und fand mich, zu meiner Überraschung, in einem Vorraum wieder, der kein gutes Hotel beschämen würde, und fühlte mich von komfortabel warmer Luft umarmt.“
Das Männerheim hatte sowohl elektrische als auch Gaslampen und wurde durch eine moderne zentrale Niederdruckdampfheizung versorgt. An der Theke hatte der Reporter keine Schwierigkeiten, für dreißig Kreuzer ein Ticket für eine Nacht zu erhalten (30 Kreuzer sind 60 Heller, eine Krone hatte 100 Heller). Kläger beschrieb das Esszimmer im oberen Mezzanin: „Wieder war ich von der Eleganz des Raumes angenehm überrascht, der durch zwei Bogenlampen beleuchtet wurde und dessen Wände auf halber Höhe mit grünen Fliesen bedeckt ware
n.“

Dann kostete er das – spottbillige – Essen und fand die Mahlzeiten „alle sehr gut.“ Die Bewohner der Herberge bezahlten im Durchschnitt nur eine halbe Krone pro Tag für das Essen – zum Frühstück, Abendessen und Snacks – mit anderen Worten, nur ungefähr fünfzehn Kronen pro Monat.

Kläger beobachtete die Mieter: „Die Tür öffnete sich ständig und jemand in einem schlechten Anzug, in der Regel mit einer Tasche unter dem Arm, betrat den Vorraum. Man konnte sagen, dass die meisten Insassen unglaublich müde schienen.“ Weil die meisten von ihnen einen harten Arbeitstag hinter sich hatten, war es am Nachmittag recht ruhig. Doch am Abend war es „lebhaft, gesellig, aber keineswegs ausgelassen, bis etwa 10 Uhr 30“.

Es gab eine Küchenzeile mit Gasflammen und Utensilien für diejenigen, die ihr eigenes Essen zubereiten wollten. Kochteams wurden gebildet: einer der Arbeitslosen würde in der Herberge bleiben, einkaufen gehen, und für einige Arbeiter kochen, und im Gegenzug kostenlos essen. Zunächst erbot sich Hitler ebenfalls als Koch, aber mit wenig Erfolg – Reinhold Hanisch zufolge war die oberösterreichische Milchsuppe, an der er sich stolz versucht hatte, geronnen und hatte eher die Konsistenz von Käse.

Das Treppenhaus

Kläger machte weiter seine Runden durch das Refugium und berichtete: „Direkt neben dem Esszimmer ist ein großer, sehr schön eingerichteter Leseraum mit zwei Abteilen, einem für Raucher und einem für Nichtraucher. Er verfügt über Tageszeitungen und eine schöne Bibliothek, die den Mietern zur Verfügung steht. Die meisten Bücher sind eher leichtverdaulich, Romane und Schriften über populäre Wissenschaft. Darüber hinaus gibt es auch Schreibtische mit den notwendigen Utensilien für Korrespondenz.“ Am Sonntagnachmittag gibt es Unterhaltung sowie die Möglichkeit zur Weiterbildung durch Konzerte und Vorträge. Auf dem unteren Mezzanin gibt es Wasch- und Schuhputzräume, Abstellmöglichkeiten für Gepäck- und Fahrradträger und Schuster und Schneider.

Die hygienischen Verhältnisse waren vorbildlich: Ein Hausarzt praktizierte kostenlos und ambulante Patienten erhielten für kleinere Krankheiten Behandlung in einem Krankenzimmer. Wie in allen Sammelunterkünften gab es einen Desinfektionsraum mit Entlausung für Neuankömmlinge. Neben normalen Toiletten gab es auch einen Rasierraum und ein Duschbad mit sechzehn Duschen, fünfundzwanzig Fußbädern und vier Badewannen. Ein Bad kostete fünfundzwanzig Heller – etwa ein Drittel des Preises in einem öffentlichen Bad. Alle dies zahlte sich aus während des Cholera-Ausbruchs von 1910; die gefürchtete Krankheit verschonte das voll besetzte Männerheim vollständig.

Die Schlafsäle in den vier oberen Etagen wurden um 20:00 Uhr geöffnet und mussten bis 9.00 Uhr geräumt werden. Sie bestanden aus langen Reihen von kleinen, separaten Schlafkabinen, jede mit den Maßen 4,6 x 6,9 Meter. Es gab genug Platz für ein Bett, einen kleinen Tisch, einen Kleiderständer und einen Spiegel. Ständige Gäste bekamen ihre Bettwäsche alle sieben Tage gewechselt und Tagesgäste täglich, wie im Hotel. Als zusätzlichen Komfort hatte jede Kammer eine Tür mit Schloss und eine Glühbirne. Es war wohl das erste Mal, dass Hitler elektrisches Licht in seinem Zimmer hatte.

Schlafkabine, Fensterseite, Meldemannstraße ca. 1930

Hitler vermied es später auffällig, über das Männerheim zu sprechen, denn die Führer-Legende beschrieb ihn als in Parks und Gräben schlafend – was er zwar getan hatte, aber nur wenige Monate lang, bevor er sich in der Herberge vergleichsweise gut aufgehoben fand. Der grundlegende Unterschied zwischen dem Meidlinger Asyl und dem Männerheim in der Brigittenau war psychologischer Natur; das erstere bedeutete die vielleicht letzte Flucht vor dem Verhungern oder Erfrieren, während im letzteren, zumindest der Theorie nach, ein Mensch sich einreden konnte, dass er auf dem Weg in eine bessere Zukunft war. Es konnte einem gerade schlecht gehen, aber es gab einen Strahl der Hoffnung.

Hier müssen wir zu dem Problem der – ab und zu zweifelhaften – Verlässlichkeit der Aussagen Reinhold Hanischs zurückzukehren. Er behauptete, dass er Hitler ein paar Tage später in die Herberge folgte, und da Hitler seine neue Adresse im Männerheim bei der Polizei am 9. Februar eingereicht hatte, musste Hanisch bald darauf angekommen sein. Wir wissen, dass sich Hanisch häufig in der Herberge aufhielt, um Hitlers Gemälde abzuholen und zu verkaufen – aber damals war er noch in der Herzgasse 3/4 im fernen X. Bezirk registriert. Die Aufzeichnungen über Adolf sind klar: mit einer kleinen Unterbrechung blieb er vom 9. Februar 1910 bis zum 24. Mai, 1913 im Männerheim, 39 Monate lang. Er mag kurz für Besorgungen dann und wann abwesend gewesen sein, aber das Gebäude an der Meldemannstraße war mehr als drei Jahre lang seine Heimat – für ungefähr sechs bis sieben Kronen pro Woche. Die Waisenunterstützung von 25 Kronen monatlich, die er weiterhin erhielt, deckte also knapp seine Unkosten. Arm waren die Bewohner ohne Zweifel, aber die Verwaltung war bemüht, ihre Würde zu erhalten. Die Männer konnten Korrespondenzkurse buchen, sich bei der Jobvermittlung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) anmelden, oder die Bibeln lesen, die eine Vereinigung katholischer Arbeitsloser zur Verfügung stellte. „Ruhe und Ordnung“ wurden streng durchgesetzt, genau wie eine Kleiderordnung. Alles in allem bot das Männerheim eine ruhige, fast klösterliche Atmosphäre, in die, mit Ausnahme einiger politischer Diskussionen, Hitler gut hineinpasste.

Ob er jetzt im Männerheim wohnte oder nicht, Hanisch kümmerte sich ums Geschäft. Der erste Schritt war es, Adolf und das Kunstmaterial, das die beiden kürzlich durch die Wohltätigkeit Angelas oder Tante Johannas erhalten hatten, in den Leseraum zu verfrachten – Nichtraucherbereich. Dort stand ein langer Eichentisch nahe dem Fenster, welches das natürliche Licht zur Verfügung stellte, das Adolf zum Malen benötigte. Ihr Unternehmen belieferte nun den „Markt für postkartengroße Gemälde, die in Tavernen oder bei Kunsthändlern verkauft werden, die sie nicht so sehr für ihren künstlerischen Wert erworben, sondern, um leere Rahmen zu füllen.“ Bald begriff Hitler, welche Motive gefragt waren, meist Sehenswürdigkeiten und Natur, und seine Postkarten und kleine Gemälde verkauften sich recht schnell.

Nach ein paar Monaten blühte die Partnerschaft auf. Hanisch war es ein Leichtes, Käufer in dem Labyrinth der Gassen Wiens zu finden – nicht nur in denen, die sich zwischen dunklen Tavernen und dürftigen Geschäften, Kiosken und Trafiken durch schlängelten, sondern auch in den Gärten des Praters und den Kunstgeschäften der besseren Viertel der Hauptstadt. Die erzielten Summen pendelten sich zunächst zwischen fünf und zehn Kronen ein; Erträge, die fünfzig/fünfzig geteilt wurden. Langsam etablierte sich ihre Geschäftsroutine und Hitlers Leben stabilisierte sich, obwohl er nach wie vor kaum Kleidung besaß.

Die Lesesäle waren der Ort, wo sich die gebildeteren Insassen trafen, von denen nicht wenige ehemalige Studenten der österreichischen Schulen und Hochschulen waren. Sie diskutierten über Politik und Kunst, Geld und Frauen, wie es einsame Männer so tun. Einige versuchten, Neulinge von ihren jeweiligen politischen Ansichten zu überzeugen, und Arbeiter wurden in den Diskussionen toleriert, solange es schien, man könne sie noch von dem Gift des Sozialismus erretten. Manchmal versuchte Hitler die Debatten zu moderieren, als Arbiter Elegantiarum – vielleicht ein Familienmerkmal, wenn wir seines Vaters Nachruf gedenken – Alois, der es gewohnt war „sich autoritativ zu allen Fragen zu äußern, die ihm zur Kenntnis gekommen waren.“ Zu anderen Zeiten hörte er nur, auf dem langen Eichentisch über seine Arbeit gebeugt. …

Nach ein paar Monaten, in denen der Postkartenbetrieb wie geplant arbeitete, ging etwas schief – aber ach, was wirklich passierte, wissen wir nicht. Aus heiterem Himmel gelang es eines Tages Hanisch nicht, seinen Mitarbeiter am Eichentisch zu finden. Hitler hatte das Gebäude, von seinem jüdischen Freund Josef Neumann begleitet, verlassen: Gerüchten zufolge planten sie nach Deutschland auswandern. Als sie eine Woche später schließlich zurückkehrten, erklärte Hitler, dass sie nur auf einer langen Besichtigungstour durch die Stadt gewesen waren. Es erscheint möglich, dass Hitler und Neumann versucht hatten, ein kleines Nebengeschäft aufzubauen: Durch die Vertrautheit des letzteren mit der jüdischen Seite des Wiener Kunsthandels, konnte Neumann vielleicht ein besserer Agent sein als Hanisch. Nach einer Woche waren sie jedoch wieder zurück, aber Hitler erschien mittellos und eigenbrötlerisch, fast als ob von irgendetwas schockiert, und seine Beziehungen sowohl zu Hanisch als auch zu Neumann, der das Heim schon am 12. Juli 1910 verließ, endeten bald danach.

Könnte der Vorfall untersucht werden, gäbe es eventuell verlockende Einblicke. Helene Hanfstaengl, Gesellschaftslöwin und Ehefrau von Hitlers ersten ausländischem Presseagenten Ernst Hanfstaengl, und eine No-Nonsense-Frau in sui generis, berichtete, dass Hitler ihr mehr als einmal beichtete, dass sein Abscheu vor Juden „eine persönliche Sache“ sei, und dass dieser Hass in Wien entstanden wäre. Adolfs Schwester Paula gab später ihrer Meinung kund, dass sein „Scheitern in der Malerei nur auf der Tatsache beruhte, dass der Handel mit Kunstwerken in jüdischen Händen war.“

Vielleicht ist dies jetzt der richtige Platz, die Realität von Hitlers Antisemitismus in den Jahren des Männerheims zu erkunden. Hanisch berichtet, einigermaßen unglücklich, dass mindestens drei jüdische Insassen der Herberge Hitlers Freunde waren, der zuvor erwähnte Neumann, Simon Robinson, geboren 1864 in Galizien, ein Schlossergehilfe und Siegfried Löffner, ein Verkäufer, geboren 1872 in Mähren. Ein anderer Zeuge aus dem Männerheim, Karl Honisch [mit „o“, nicht mit Hanisch zu verwechseln, ¶] erwähnt einen anderen jüdischen Mann, Rudolf Redlich aus Mähren, als einen Bekannten von Hitler. Es förderte nur Hanischs Unzufriedenheit, dass sie alle Hitler halfen, seine Bilder zu verkaufen. Noch schlimmer war es, dass Hitler bald begann, seine Werke direkt an Kunsthändler zu verkaufen und so Hanisch aus Spiel und Geld entließ. Viele der Händler, die Hitlers Gemälde kauften, waren Juden oder jüdischer Herkunft: so Jakob Altenberg, der in Wien zum Christentum übergetreten war, der reiche Rahmenhersteller  Samuel Morgenstern, der immer direkt mit Hitler verhandelte und ihm auch den Anwalt Dr. Josef Feingold zuführte, der ein stetiger Käufer wurde, und ein anderer Händler, mit dem Namen Landsberger. So wie Brigitte Hamann es zusammenfasst, scheint es, als ob Hanisch in diesen Jahren der Antisemit war, nicht Hitler. Es stimmt, dass Hitler, seit dem Erscheinen von „Mein Kampf“, an der Legende von seiner frühen Entdeckung der verdammenswerten Rolle der Juden strickte, und die Hagiografie des Dritten Reiches diese Version in den Status Heiliger Schrift erhob, aber bei genauerer Betrachtung schweigen alle Quellen vor 1919 entweder über Hitlers mutmaßlichen Antisemitismus oder  widersprechen dem Dogma sogar. Es stimmt, dass Hitler von den Sozialisten gelernt hatte, dass politische Propaganda keine Mehrdeutigkeit zulassen kann: es muss einen Feind geben, und nur einen. Und doch scheint es, wie wir später sehen werden, dass Hitler vor 1919 nie ein kohärentes antisemitisches Konzept entwickelte.

Es scheint, dass Adolf der Kunstakademie in diesem Herbst 1910 einen weiteren Versuch widmete. Er sicherte sich einen Termin bei Professor Ritschel, dem Kurator, und brachte Beispiele seiner Arbeit mit: aber es wurde nichts daraus, sei es, weil der Professor ihm die Zulassung verweigerte oder weil Adolf schlicht nicht über die Mittel für eine erneute Anmeldung verfügte.

Von dem wenigen das wir wissen, hat ihn die dritte Ablehnung vielleicht nicht wirklich überrascht, aber seine Frustrationen sicher eine Zeitlang vertieft; und er wurde immer mehr zu einem Einsiedler, weder gemocht noch abgelehnt von den anderen Herbergsinsassen; einer, der in einem dissonanten Universum seines eigenen Designs lebte.

Inzwischen hatte er sich selbst zu einer Institution entwickelt – er war ein Teil des Inventars geworden. Sein Verhalten hatte sich wieder verändert und er hatte einiges von seinem alten Vertrauen wiedergewonnen: den anderen Mitbewohnern, die sich um den Eichentisch gruppierten und seine Arbeit in statu nascendi bewunderten, gestand er, dass er nur herumspiele; dass er das Malen noch zu wenig gelernt hatte und dass sie seine Bemühungen nicht zu ernst nehmen sollten.

Im Jahre 1944 sagte er zu seinem Fotografen Heinrich Hoffmann: „Auch heutzutage sollten diese Dinger [d.h. Bilder] nicht mehr als 150 oder 200 Reichsmark kosten. Es ist verrückt, mehr für sie auszugeben. Eigentlich wollte ich gar nicht Künstler werden, ich malte das Zeug nur, um mein Leben zu fristen und es mir leisten zu können, in die Schule zu gehen.“ Wenn er künstlerisches Vergnügen suchte, tat er es bei Bauzeichnungen, nicht Aquarellen. In gewisser Weise jedoch gab diese Arbeit seinem Leben das Element der Struktur zurück, die er verloren hatte, als er die Schule verließ; jetzt verbrachte er seine Tage in der Verlässlichkeit von Männern, die weder Furcht vor noch Hoffnung auf Veränderung kennen.

Die Wiener Staatsoper – Adolf Hitler

Doch gelegentlich wurde die Ruhe unterbrochen. Einer der Gründe für Hanischs vorübergehendes Verschwinden aus der Herberge war Geld gewesen: Hitler hatte eins seiner besseres Gemälde fertiggestellt, eines des Parlamentsgebäudes, das Hanisch wie gewöhnlich verkaufte, aber unerklärlicherweise vergaß, Hitler seinen Anteil zu geben, und ohne Spur verschwand. Am 4. August 1910 erkannte Siegfried Löffner, der von der Affäre wusste, Hanisch zufällig auf der Straße, und nachdem er versucht hatte, ihn zur Begleichung seiner Schulden zu überreden, kam es zu einem Streit. Schließlich traf die Polizei ein und Hanisch wurde festgenommen, weil seine Identität nicht festgestellt konnte. Löffner machte daraufhin folgende Aussage in der Polizeiwache Wieden, IV. Bezirk:

Siegfried Löffner, Agent, XX. Bezirk, Meldemannstraße 27: „Ich habe von einem Maler im Männerheim erfahren, dass der Verhaftete [Hanisch] Bilder für ihn verkauft und das Geld missbraucht hat. Den Namen des Malers kenne ich nicht, ich kenne ihn nur aus dem Männerheim, wo er und der Verhaftete immer nebeneinander saßen.” (38)

Einen Tag später, am 5. August 1910, wurde Hitler gebeten, auf der örtlichen Polizeiwache in Brigittenau zu erscheinen, um eine eigene Erklärung abzugeben. Inzwischen hatte die Polizei gefälschte Ausweispapiere in Hanischs Besitz gefunden, die seinen Namen als Fritz Walter angaben.

Adolf Hitler, Künstler, geb. 20.4.1889 in Braunau, wohnhaft in Linz, kath., Ledig, XX. Bezirk, Meldemannstraße 27, sagte danach bei der Polizei aus wie folgt: „Es ist nicht wahr, dass ich Hanisch geraten habe, sich als Walter Fritz zu registrieren, ich kannte, ihn immer nur als Fritz Walter. Da er mittellos war, gab ich ihm die Bilder, die ich malte, damit er sie verkaufen konnte. Ich gab ihm regelmäßig 50 % des Gewinns. In den letzten zwei Wochen ist Hanisch nicht mehr in die Herberge zurückgekehrt, nachdem er mein Gemälde ‘Parlament’ im Wert von ungefähr 50 Kronen und ein Aquarell im Wert von 9 Kronen verkauft hatte. Das einzige Dokument von ihm, das ich jemals sah, war sein Sparbuch, ausgestellt auf den Namen Fritz Walter. Ich kenne Hanisch aus dem Asyl in Meidling, wo ich ihn getroffen habe. Adolf Hitler.” (39)

Der Prozess fand am 11. August statt. Es war das erste Mal, dass Adolf Hitler vor einem Strafgericht als Zeuge anwesend war. In seinem Streit mit Hanisch ging es jedoch um Unterschlagung, nicht um eine falsche Identität. Dass er in der Sache mit den falschen Papieren gegen Hanisch aussagte, war seine Vergeltung, und sein Zeugnis spielte eine wesentliche Rolle in der Identitätssache, in der Hanisch zu sieben Tagen Haft verurteilt wurde. Aber in  dem Unterschlagungsfall musste Hanisch freigesprochen werden, vielleicht weil keine Spur des Geldes nachgewiesen werden konnte, was den Verdacht aufkommen ließ, dass Hitler in seiner Erklärung vom 5. August gelogen habe. Adolfs erster Auftritt bei Gericht schloss also potenziellen Meineid und Betrug ein, kein glückverheißender Beginn für seine künftige Beziehung zu Recht und Gesetz.

Bild der Karlskirche
Der Alte Hof

Mittlerweile verkaufte er alles, was er malte. Seine Themenwahl war immer klassisch konservativ gewesen, manche mögen sagen langweilig, und dieser Geschmack blieb ihm sein ganzes Leben lang erhalten. Es gibt nur wenige Beispiele, in denen seine kleinbürgerliche Weltanschauung so offensichtlich wird wie in seinem Kunstgeschmack, und obwohl er in einer Zeit lebte, die die Künste revolutionierte, schenkte er ihr keine Beachtung. Er verachtete oder kannte die sezessionistischen Maler Egon Schiele, Gustav Klimt oder Oskar Kokoschka nicht; er mochte die Kompositionen von Arnold Schönberg, Anton von Webern oder Alban Berg nicht; er las nie Rilke, Zweig oder Hofmannsthal. Sein ganzes Leben lang blieb er ein Gefangener der künstlerischen Wahrnehmung des neunzehnten Jahrhunderts. Sein Geschmack stimmte jedoch insofern mit dem überein, was die guten Wiener Bürger begehrten, und so folgten seine Bilder den ewigen Gesetzen von Nachfrage und Angebot.

Wir stellen hier einige Beispiele der oben erwähnten Meister dar – die uns zeigen, wie tief Hitler in der Ästhetik des vergangenen Jahrhunderts stehengeblieben war.

Egon Schiele – Doppelter Akt
Egon Schiele – Akt mit Handtuch
Gustav Klimt – Der Kuss
Gustav Klimt – Adele Bloch-Bauer I, bis 2017 das teuerste Gemälde der Welt
Oskar Kokoschka – Die Braut des Windes – Eine Allegorie auf seine unerwiderte Liebe zu Alma Mahler, der Witwe des Komponisten Gustav Mahler.
Oskar Kokoschka – Der Prometheus Tryptich – Apokalypse

Wie man vermuten würde, drehte sich derjenige Teil der Unterhaltung in den Lesesälen des Männerheims, der sich nicht um Frauen drehte, um Politik. Was das erstere Thema betrifft, könnte seine alte Flamme Stefanie noch immer seine Träume verfolgen, oder vielleicht die schwer fassbare Emilie (siehe auch nachfolgend), aber er hatte kein Interesse daran, sich in die Gespräche der einsamen Männern einzumischen, die sich über Frauen, die sie gekannt hatten und das Geld, das sie verschwendet haben, unterhielten – den Zutaten verblassender Erinnerungen verlassener Männer, die um unwiederbringliche Verluste trauern. Politik war eine ganz andere Sache. Da Brigittenau ein Arbeiterbezirk war, verfügten die Sozialdemokraten über eine deutliche Mehrheit und ihre Sympathisanten waren im Männerheim zahlreich vertreten. Was jedoch Hitlers politische Vorstellungen in Wien anbelangt, so ist das Wenige, über das unsere Quellen berichten, widersprüchlich und Hitlers Behauptungen in Mein Kampf wiederum nicht wirklich glaubwürdig. Er behauptete, “gelernt zu haben, weniger zu reden, aber mehr auf jene mit Meinungen und Einwänden zu hören, die grenzenlos primitiv waren” (41), was seine Meinung über die Sozialisten zu charakterisieren scheint. Es gibt jedoch keine Belege dafür, dass Hitler zu dieser Zeit wirklich an Politik interessiert war, und abgesehen von seinem gesamtdeutschen Glauben wissen wir nicht, was er wirklich von Juden und Sozialisten hielt.

Anfang 1913 ließ sich ein junger Mann aus Mähren, Karl Honisch, in der Jugendherberge nieder und lernte Hitler kennen. In den 1930er Jahren wurde er von der NSDAP aufgefordert, seine Erinnerungen festzuhalten. Das Ergebnis muss eindeutig “cum grano salis” bewertet werden, da er sich nicht erlauben konnte, etwas Negatives zu schreiben. Wie zu erwarten war, porträtiert er einen reichlich politisierenden Hitler, schweigt jedoch zu Einzelheiten.

„Aber wenn ihn schließlich die Meinungen, die er hörte, wirklich in die falsche Richtung rieben, musste er plötzlich widersprechen. Es kam dann häufig vor, dass er von seinem Stuhl aufsprang, Pinsel oder Bleistift über den Tisch warf und seine Ansichten auf eine extrem hitzige Weise erklärte, ohne sich vor starken Ausdrücken zu scheuen. Seine Augen waren in Flammen und immer wieder warf er seinen Kopf zurück, um seine Haare, die ihm immer wieder über die Stirn fielen, zurückzuwerfen.“ (42)

Honisch fühlte sich dann aufgefordert, auf die guten Seiten seines damaligen Kameraden hinzuweisen, der jetzt ja Regierungschef war und mit Sicherheit kein Mann, den man beleidigen wollte.

„[Hitler] … saß fast ausnahmslos Tag für Tag an seinem Platz und war nur dann für kurze Zeit abwesend, wenn er seine Arbeiten ablieferte; oder aufgrund seiner besonderen Persönlichkeit. Hitler war im Großen und Ganzen ein freundlicher und charmanter Mensch, der sich für das Schicksal eines jeden Gefährten interessierte.“ (43)

Und weiter:

„Niemand erlaubte sich Freiheiten mit Hitler. Aber Hitler war nicht stolz oder arrogant; im Gegenteil, er war gutherzig und hilfsbereit … und [wenn ein Kamerad einen kurzfristigen Kredit benötigte] habe ich ihn mehrmals gesehen, wie er selbst solche Sammlungen mit einem Hut in der Hand begann.“ (44)

Es war ungefähr am Ende 1912, dass mehrere Umstände Hitler veranlassten, über einen Wohnsitzwechsel nachzudenken. Ein Grund dafür war das neue österreichische Armeegesetz, das zwar die Verpflichtungen der neuen Rekruten auf zwei Jahre Friedensdienst und zehn Jahre in den Reserven reduzierte, aber den jährlichen Rekruteneinzug von 103.000 im Jahr 1912 auf 159.000 im Jahr 1914 erhöhte; und dies würde wahrscheinlich umgehend verstärkte Aktivitäten der lokalen Kreiswehrersatzämter auslösen. (45) Es ist klar, dass Hitler mit seinem Umzug nach Wien seinem eigenen Wehrdienstbüro in Linz seit 1909 ausgewichen war, wo er sich im Alter von 20 Jahren zum Wehrdienst hätte melden müssen. Es ist offensichtlich, dass er nicht die Absicht hatte, in den Streitkräften der verhassten Habsburgermonarchie zu dienen, und es scheint, dass er in dieser Zeit seine Pläne für eine spätere Auswanderung nach Deutschland im Allgemeinen und nach München im Besonderen reiften – über einen solchen Schritt hatte er schon 1910 mit Hanisch und Neumann gesprochen.

Ein weiterer Grund war, dass er Wien satthatte; er kannte die Stadt längst von innen heraus, wie das Gesicht einer langjährigen Liebhaberin, von der polierten Eleganz der Gebäude entlang der Ringstraße bis zu den Slums der Außenbezirke. Er sah das Damoklesschwert über dem Habsburgerreich hängen, das nur durch die zerbrechliche Gesundheit des Kaisers vom Zusammenbruch abgehalten wurde. Also warum nicht gleich zu seinem Heiligen Gral aufbrechen? Aber Hitler hatte einen hervorragenden Grund, noch zu warten; wie Ian Kershaw berichtet, war er anlässlich seines vierundzwanzigsten Geburtstages am 20. April 1913 endlich berechtigt, sein väterliches Erbe zu erhalten.

Am 16. Mai 1913 bestätigte das Bezirksgericht Linz, dass er den erheblichen Betrag, durch Zinsen von den ursprünglichen 652 Kronen auf 819 Kronen 98 Heller angewachsen, erhalten sollte, und dass dieser per Post an den „Künstler“ Adolf Hitler in die Meldemannstraße Wien geschickt werde. Mit diesem lang erwarteten und sehr willkommenen Preis in seinem Besitz musste er seine Abreise nach München nicht länger verzögern. (46)

Rudolf Häusler in Uniform

Im Februar 1913 ließ sich der neunzehnjährige Pharmazie-Lehrling Rudolf Häusler im Männerheim nieder und lernte Hitler im Lesesaal kennen. (47) Häusler interessierte sich für Musik und Kunst, hatte selber gemalt und Hitler nahm den Jungen unter seine Fittiche. Häusler hatte wie Adolf, unter einem tyrannischen Vater gelitten, der, wie Alois Hitler, Zollbeamter war. Der Vater hatte den Nachwuchs aus seinem Haus geworfen und Rudolf konnte seine Mutter, die er, wie Adolf, verehrte, und seine Geschwister nur in Abwesenheit des alten Mannes besuchen. Zu diesen diskreten Besuchen brachte er schließlich seinen älteren Freund Adolf mit, der offenbar einen guten Eindruck auf die Mutter hinterließ – wie Brigitte Hamann feststellte:

Die damals 50-jährige Ida Häusler, eine selbstbewusste, gebildete Frau aus guter Familie, war froh, dass ihr widerspenstiger Sohn einen gut erzogenen älteren Freund gefunden hatte. Sie vertraute Hitler und unterstützte die Freundschaft. Außerdem lud sie den offensichtlich mittellosen jungen Mann großzügig ein, mit ihnen zu essen. Häuslers siebzehnjährige Schwester Milli [Emilie] war schon bald in Adi verliebt, der die komfortable und saubere bürgerliche Atmosphäre mochte, die der seines früheren Hauses in Linz durchaus ähnelte. Vater Häusler blieb unsichtbar. (48)

Dass wir bis 1999 wenig über Rudolf Häusler wussten, bis Brigitte Hamann seine Tochter Marianne Koppler, geborene Häusler, ausfindig machte, sie interviewte und ihre Funde im Buch „Hitler’s Vienna“ veröffentlichte, scheint das sprichwörtliche Licht auf die Vollständigkeit und Zuverlässigkeit unserer Quellen zu diesen Anfangsjahren; umso mehr, als Häusler offenbar der engste Freund Adolfs seit August Kubizek war. [FN2] Es überrascht nicht, dass, als Hitler eine Emilie im Häusler-Haushalt traf, Rudolfs Schwester, dies zu Spekulationen führte, ob diese Emilie mit der Emilie identisch sein könnte, auf die sie sich Christa Schroeder, Hitlers Sekretärin in ihren Memoiren bezog. Als sie einmal meinte, Emilie sei ein hässlicher Name, sagte Hitler angeblich: “Sag das nicht. Emilie ist ein schöner Name; das war der Name meiner ersten Liebe!“ (53)

[FN2] Anton Joachimsthaler entdeckte die frühesten Erwähnungen von Rudolf Häusler in Artikeln, die Thomas Orr für das Münchner Magazin „Revue“, Bde. 37/1952 bis 8/1953, geschrieben hatte. (49) Orr hatte von einigen mutmaßlichen Zeugen in Hitlers altem Münchner Stadtteil erfahren und sie interviewt. Er erwähnte Häusler, stellte jedoch keine Verbindung zu Frau Koppler her. Aus bis heute nicht geklärten Gründen erwähnte Hitler Häusler nie, ebenso wenig wie die Popps, die Vermieter des Zimmers, in dem er fast neun Monate mit Hitler in München lebte. Dies hat Brigitte Hamann veranlasst, darüber zu spekulieren, ob die beiden Freunde und die Popps aus unbekannten Gründen einen Pakt des Schweigens abgeschlossen hatten. (50) Häusler hatte schon früh Kontakte zu den Nationalsozialisten: Joachimsthaler führt ihn seit Juni 1933 als Mitglied der NSDAP, (51) obwohl Frau Hamann eine eidesstattliche Erklärung des österreichischen Innenministeriums entdeckte, dass er erst von 1938 bis 1944 Mitglied war. (52) Klar ist aber, dass er ab Dezember 1938 für die DAF, die nationalsozialistische Einheitsgewerkschaft, arbeitete und von 1940 bis 1945 Leiter des Wiener NSDAP-Büros war. Er starb am 26. Juli 1973 in Wien.

Falls dies zutrifft, könnte dies darauf hindeuten, dass die Beziehung zu Emilie ausgeprägter war als seine frühere Verliebtheit in Stefanie; auf der anderen Seite, angesichts seiner Vorliebe für telepathische Liebesbeziehungen, könnte jede Emilie in Wien das Ziel seiner übernatürlichen Neigungen gewesen sein. Frau Koppler berichtete, Emilie sei das schüchternste, leiseste und einfühlsamste der Geschwister und “habe den Eindruck erweckt, ängstlich und schutzbedürftig zu sein”. Dass sie eine Schwärmerei für den älteren Freund ihres Bruders entwickelte, scheint durchaus möglich; Berichten zufolge bat sie ihn, etwas für ihr Sammelalbum zu zeichnen, und erhielt, wie Frau Koppler sagte, die die Zeichnung in ihrer Jugend sah, einen germanischen Krieger vor einer Eiche, signiert „A.H.“. (55) Einige Postkarten Hitlers wurden später im Nachlass der Familie gefunden.

Zwei Gründe sprechen jedoch dagegen, dass Emilie Hitlers physische Geliebte war. Erstens durfte das Mädchen das Haus nicht ohne Aufsicht verlassen, und es ist unwahrscheinlich, dass Hitler das von der Mutter entgegengebrachte Vertrauen in dieser Weise brechen würde. Zweitens scheint der Zeitrahmen der falsche zu sein, denn die Erinnerungen von Frau Wohlrab und der Kassiererin im Café Kubata (s.o) lassen die Beziehung zu der mysteriösen Freundin in die Zeit fallen, in der Hitler vom November 1908 bis August 1909 in der Felberstraße lebte, nicht in die des Frühjahrs 1913, als er die Häuslers traf.

Schließlich überredete Adolf Rudolf, ihn nach München zu begleiten, oder vielmehr, Rudolfs Mutter, so wie er Herrn Kubizek vor fünf Jahren überredet hatte, August nach Wien zu entlassen. Um den 20. Mai herum muss Hitler wohl das Erbe erhalten haben, und um diese Zeit stattete er der Familie Häusler einen Abschiedsbesuch ab. Am 24. Mai teilten die beiden der Wiener Polizei mit, dass sie das Männerheim verlassen hatten, ohne jedoch Weiterleitungsadressen anzugeben. Wahrscheinlich war dies Hitlers Idee, eine Vorsichtsmaßnahme, um der Aufmerksamkeit seines Linzer Wehrersatzamts zu entgehen. Aber weil er sich nicht nur im Herbst 1909 nicht gestellt hatte, sondern dies weder im Frühjahr 1910 noch 1911 oder 1912 nachholte, erließ die Linzer Polizei einen Haftbefehl wegen Umgehung seiner Wehrpflicht am 11. August 1913. (56)

Westbahnhof ca. 1895

Am nächsten Tag, dem Sonntag, dem 25. Mai 1913, begleiteten Karl Honisch und einige alte Hasen aus dem Männerheim die beiden Freunde zum Westbahnhof, wo nicht nur die Züge nach Linz, sondern auch die nach Bayern und damit nach München abfuhren. Wahrscheinlich kauften die beiden Freunde die billigsten Tickets, dritte Klasse, Wien Westbahnhof – München Hauptbahnhof, jeweils 5 Kronen 80 Heller. (57)

In einem ähnlichen Zug der Westbahn fuhren Hitler und Häusler 1913 nach München.

Adolf Hitler ließ nichts und niemanden in der Stadt zurück, von dem er glaubte, dass sie ihn verraten hatte, und machte sich auf den Weg nach Deutschland – dem gelobten Land.


Hamann, Brigitte, Hitler’s Vienna, 1st Ed. Oxford UP 1999, Tauris Parks 2010, ISBN 978−1−84885−277−8 / Nummer siehe Seite(n): (2) 134 (6) 152 (7) 153 (13) 156 (15) 158 – 61 (29) 164 (31) 164 (32) 350 (33) 173 – 74 (34) 350 (38) 275 (39) 172 (42) 381 (45) 393 (46) 397 (47) 395 (48) 396 (50) 192 (52) 192 (53) 364 (54) 364 (55) 192

Hitler, Adolf, Mein Kampf [US Edition], Houghton Mifflin 1942, (5) 28

Joachimsthaler, Anton, Hitler’s Weg begann in München 1913 – 1923, F.A. Herbig, München 2000, ISBN 3−7766−2155−9, (4) 46 (9) 268 (49) 330, n. 277 (51) 323 (56) 27

Jones, Sydney J., Hitler in Vienna 1907 – 1913, Cooper Square Press 2002, ISBN 0 – 8154-1191-X, (11) 141 (37) 275

Kershaw, Ian, The Hitler of History, Vintage Books 1998, ISBN 0−375−70113−3, (46) 68

Österreichische Bundesbahnen (57) https://www.oebb.at/

Payne, Robert, The Life and Death of Adolf Hitler, Praeger Publishers 1973, Lib. Con. 72 – 92891, (1) 79 – 80 (12) 82 – 3 (14) 83 (16) 85

Smith, Bradley F., Adolf Hitler – Family, Childhood and Youth, Hoover Institution Press 1979, ISBN 0−8179−1622−9, (35) 140 – 41

Toland, John, Adolf Hitler, Anchor Books 1992, ISBN 0−385−42053−6, (3) 39 (8) 40 (10) 41 – 2 (30) 46 (41) 49 (43) 50 (44) 50


(© John Vincent Palatine 2015/19)

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