Historia Occidentalis

Ein Magazin zur Zentraleuropäischen Geschichte

Schlagwort: Vorwärts

Das Massaker des John J. Pershing

US Infanterie im Angriff …

Vorhergehender Artikel: Foul Play mit Vierzehn Punkten

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Zwar gelang es der deutschen Armee noch, den Fortschritt der Alliierten Offensiven Ende Oktober zu verlangsamen, aber es war klar, dass dieser Widerstand den nächsten und letzten Akt des Dramas nur verzögerte: irgendwann wäre der Knackpunkt erreicht. Im Fall der Fälle war es des Kaisers Lieblingsspielzeug, die Hochseeflotte.

In diesem Todeskampf des Deutschen Reiches nahmen zwei Gruppen in der deutschen Marine die Sache in ihre eigenen Hände, zuerst die Admirale und danach die Matrosen. Die U – Boot Waffe war auf Anker gelegt worden, aber die Hochseeflotte blieb eine potenziell starke Macht. Erbost über die U-Boot – Entscheidung, beschlossen Scheer und die Seekriegsleitung, die Überwasserschiffe in einer letzten Offensive zu verwenden, und planten eine neue Variante der früheren erfolglosen Versuche , die Grand Fleet über einen U-Boot – Hinterhalt zu locken. Der Unterschied war diesmal, dass die Deutschen beabsichtigten, diese Schlacht auch durchzuziehen , sobald die U-Boote es geschafft hatten, die numerische Überlegenheit der Grand Fleet zu reduzieren.

Ob die Hochseeflotte die geplante Schlacht nun gewinnen oder verlieren werde, war nicht die große Sorge der deutschen Admirale; sie wollten der Grand Fleet zumindest schwere Schäden zufügen. Hipper stimmte mit Scheer überein, dass „ein ehrenvoller Kampf – auch wenn es ein Kampf auf Leben und Tod sein sollte – die Saat für eine neue, zukünftige deutsche Flotte legen würde.“ Neben der Bewahrung dieser [offensichtlich kostbaren] Ehre, könnte eine Schlacht, die der Grand Fleet schwere Schäden zufüge, auch einen günstigen Einfluss auf die Friedensverhandlungen mit Deutschland haben. (42)

Geheimgehalten vor der Reichsregierung, wollte der Plan alles, was schwamm, in den Einsatz gegen die Royal Navy zu schicken: achtzehn Schlachtschiffe vom  Dreadnought-Typ, fünf Schlachtkreuzer, zwölf leichte Kreuzer und zweiundsiebzig Zerstörer. Der taktische Plan war es, den Grand Fleet dazu zu verlocken, die Hochseeflotte über eine Barrikade von Minen und U-Booten hinweg zu verfolgen, welche die britische Übermacht genug verringern würden, den Deutschen zu ermöglichen, die Schlacht zu gewinnen oder glorios unterzugehen. Um die Aufmerksamkeit der britischen Admiralität zu fesseln, hatte Hipper, mittlerweile zum Flottenadmiral befördert, lokale Angriffe auf Häfen und Bombardements von Küstenstädten ins Auge gefasst. Eine spezielle Gruppe von Kreuzern und Zerstörern sollte die Briten aufschrecken, indem sie in die Themse-Mündung segelten und die örtliche Schifffahrt angriffen. Wenn die Grand Fleet nach Süden aufbräche, um die Belästigung zu beenden, stünden die Deutschen bereit. Scheer, jetzt oberster Marinebefehlshaber und Hipper hofften beide, dass „ ein taktischer Erfolg die militärische Position umkehren könne und die Kapitulation abwenden“. (43)

Der Plan

Dies war entweder bemerkenswerter Optimismus oder kompletter Irrsinn. Scheer genehmigte Hippers Plan am 27. Oktober und zweiundzwanzig U-Boote liefen aus, um eine Falle zu stellen. Der Rest der Flotte wurde im Jadebusen gesammelt, wo ihre unerwartete Anwesenheit Aufregung in Hülle und Fülle verursachte. Einige Fälle von Fahnenflucht waren bereits in Cuxhaven aufgetreten, und setzten sich unter den Besatzungen der Schlacht fort, die am 29. Oktober im Jadebusen ankamen. Dass die Konzentration aller großen Schiffe in einem Hafen nichts anderes als eine geplante Operation bedeuten konnte, war klar, und die Gerüchteküche bestätigte bald, dass der nächste Morgen den Befehl zum Ankerlichten bringen würde. Kein Seemann hatte Zweifel, warum. Die Besatzungen der Schlachtschiffe „König“, „Kronprinz Wilhelm“, „Markgraf“, „Kaiserin“‚ „Thüringen“ und „Helgoland“ hissten rote Fahnen und erklärten damit ihre Meuterei. „Die Seeleute auf den Schiffen hatten kein Interesse an einem ehrenvollen Tod für den Ruhm der Flotte; sie wollten ein Ende des Kampfes, Entlassung und die Erlaubnis, nach Hause zu gehen.“ (44)

SMS Thüringen war eines der ersten meuternden Schiffe

Gegen 22.00 Uhr am 29. Oktober fand Hipper die meisten Schiffe seiner Flotte außer Betrieb und als sich die Meuterei am nächsten Morgen auf den Schlachtschiffen „Friedrich der Große“ und „König Albert“ ausbreitete, musste das Auslaufen abgebrochen werden. Um weitere Unbotmäßigkeiten zu verhindern, ordnete Hipper an, die drei Schlachtgeschwader zu trennen und wieder in ihre Heimathäfen Wilhelmshaven , Cuxhaven und Kiel zurückzubeordern . „Thüringen“ und „Helgoland“ bewegten sich jedoch keinen Zoll weit, und Hipper rief ein Bataillon loyaler Marineinfanterie zu Hilfe, das die Besatzungen verhaftete, fesselte und einsperrte. (45)

Soldatenrat des Linienschiffes “Prinzregent Luitpold”.

Hippers Versuche zur Durchsetzung von Disziplin schürten das Feuer nur weiter und durch die Verschickung der Schlachtgeschwader in drei verschiedene Häfen war ihm eigentlich nur eine Weiterverbreitung der Meuterei gelungen. Als das dritte Geschwader am 1. November in Kiel ankam, wurden die Hunderte angeketteter Seeleute von viertausend rebellierenden Seemännern und Werftarbeitern begrüßt, die sich ihrerseits zu Waffen verholfen hatten, indem sie die gut sortierten Arsenale plünderten und die Freilassung der Gefangenen verlangten. Der nächste Tag sah die Errichtung von provisorischen Soldaten- und Arbeiterräten, einen Aufruf der Gewerkschaften zu einem Generalstreik, und 4. November die komplette Übernahme von Hafen und Stadt. Eine Bande von Meuterern versuchte, den kommandierenden Admiral, Prinz Heinrich von Preußen, Wilhelms Bruder, zu verhaften, der …

Matrosen in Kiel demonstrieren nach dem Aufstand 1918.

…  zur Flucht um sein Leben gezwungen wurde und sich hinter einem falschen Bart und einer roten Fahne auf seinem Auto versteckte. Trotzdem wurde das Auto verschiedentlich beschossen, der Fahrer schwer verletzt, und der Prinz gezwungen, das Steuer selbst zu übernehmen und sich schnellstens zur dänischen Grenze bei Flensburg abzusetzen. (46)

Auch die kleineren Schiffe wurden besetzt …

Bald entwickelten sich aus der zuerst lokalen Meuterei offene Aufforderungen zur Revolution, und so wie Küstenschiffe die Nachricht an die kleineren Hafenstädte weiterleiteten, breitete sich der Keim der Empörung per Eisenbahn über das ganze Land aus. Matrosen- und Soldatenräte übermittelten ihre Forderungen an die Bürger jeder Stadt , die sie betraten: einen sofortigen Waffenstillstand, die Abdankung des Kaisers und der Bildung einer neuen, demokratischen und republikanischen Regierung. Dennoch blieben die Nachrichten an vielen Stellen lückenhaft, und in dem Versuch, genau herauszufinden was in Kiel geschehen war, schickte Reichskanzler Prinz Max von Baden eine Delegation aus zwei Reichstagsabgeordneten dorthin: seinen Freund Conrad Haußmann und den ehemaligen Metzger und Journalisten Gustav Noske , einen Vertreter der Sozialdemokraten. Als die Abgesandten im Bahnhof der Stadt ankamen, wurden sie von einer großen Menge begrüßt, deren scheinbar revolutionäre Stimmung Noske überzeugte, eine improvisierte Rede zu halten, in der er im Wesentlichen den Zuhörern versprach, dass ihre Forderungen bald erfüllt werden sollten. Am selbigen Abend konnte er Berlin über die Details des Aufstandes informieren, hinzufügend, dass die Menge ihn zum revolutionären Gouverneur Schleswig-Holsteins gewählt habe. (47)

Die Revolution in Kiel

In der Zwischenzeit verschlimmerte sich das menschliche Leiden an der Westfront wesentlich durch die Rückkehr der sogenannten  Spanischen Grippe, die, trotz ihres Namens, ihren Ursprung wohl in Fort Riley, Kansas, zu haben schien. (48) [FN 1] Es war schon im Sommer zu einem frühen Ausbruch der Seuche gekommen, der die bereits geschwächten deutschen Linien etwa 400.000 Soldaten kostete und eine vergleichbare Zahl der Alliierten, aber der zweite Ausbruch erwies sich als weitaus ansteckender und tödlicher. Die Ankunft amerikanischer Truppentransporter brachte die Epidemie zu den großen Ausschiffungshäfen; die ankommenden Soldaten infizierten die Franzosen, die wiederum die Briten infizierten, und deren beide Kriegsgefangenen wiederum die Deutschen.

Soldaten aus Fort Riley in Camp Funston

[FN 1] Die Influenza – Epidemie von 1918/19 verdient zweifellos einen eigenen Blog – Eintrag. Bitte beachten Sie hier den Artikel in der Wikipedia.

Merkwürdigerweise schlug die Krankheit am schlimmsten bei den Stärksten zu, vor allem bei jungen Männern in ihren besten Jahren. Truppentransporter, beladen mit eng zusammen gepackten Männern, wurden zu schwimmenden Todesfallen. Ein amerikanischer Konvoi hatte bei seiner Ankunft in Brest am 8. Oktober, in der Mitte der Maas-Argonne-Offensive, 4.000 Menschen durch die Grippe verloren, wovon 200 bereits auf See bestattet worden waren. Zweihundert weitere Kranke von der USS Leviathan [der beschlagnahmten deutschen ‘Vaterland‘] starben innerhalb weniger Tage. …

Die Epidemie stellte ein Dilemma für Präsident Wilson dar. Da Militärlager für die Verbreitung der Infektion wie Gewächshäuser wirkten, wurde der Auftrag für die Einberufung von 142.000 Menschen im September abgesagt. Sollte er, fragte sich Wilson, auch die Einschiffung weiterer Truppen abbrechen?

Am 8. Oktober traf er sich mit dem ziemlich ruppigen Stabschef der Armee, General Peyton March , um ihn um seine Ansicht zu bitten. Beiden Männern war klar, dass Soldaten in die überfüllten Schiffe zu stopfen ein Todesurteil für Tausende von ihnen bedeutete. Aber Pershing forderte verzweifelt Ersatz an, zumal 150.000 seiner Männer mit Grippe ausgefallen waren. Nur zwei Tage vor dem Treffen Wilsons und Marchs hatte Prinz Max seinen Friedensappell an den Präsidenten gemacht. Wilson und March wussten, dass weitere Verschiffungen, die im Moment auf durchschnittlich 50.000 wöchentlich angeschwollen waren, der sicherste Weg waren, Deutschland zu besiegen. Wie würden die Deutschen reagieren, wenn sie eine Verminderung dieses Drucks erkannten, falls die amerikanische Arbeitskraft-Pipeline geschlossen wurde? March sagte Wilson „Jeder Soldat, der [an der Influenza] stirbt, hat sicherlich genauso seinen Teil zum Krieg beigetragen wie sein Kamerad, der in Frankreich gestorben ist. Der Versand der Truppen darf auf keinen Fall gestoppt werden.“ Die Truppentransporter fuhren weiter. (49)

Am 27. Oktober teilte Prinz Max Präsident Wilson mit, dass alle seine Forderungen erfüllt werden würden. Technisch gesehen war es natürlich nicht seine eigene Entscheidung , sondern die seines Vetters Wilhelm, aber Max hatte vorsichtigerweise unterlassen, den Kaiser von der Klausel in Wilsons Demarche vom 23. Oktober zu informieren, die die Abschaffung der Monarchie zu fordern schien. Diese – besondere – Brücke würde er überqueren, wenn es der Moment erforderte. Als die Türkei am 30. Oktober um einen Waffenstillstand bat und Österreich am 4. November, fand sich Deutschland im Krieg allein. Die Front hielt noch, wie durch ein Wunder, aber in der Luft hing der Geruch nach Revolution. Am 29. Oktober verließ Wilhelm Berlin in Richtung des Oberkommandos in Spa, in dem fragwürdigen Glauben, dass seine Präsenz in der Nähe der Front den Mut der Soldaten heben würde. Aber es war die Abwesenheit, nicht die Gegenwart, der Person des Kaisers, die eine Art rebellischer Entelechie in der Hauptstadt freisetzte, und die endgültige, entscheidende und irreparable Auflösung des Ancien Régime nach sich zog.

„Die Roten strömen mit jedem Zug aus Hamburg nach Berlin hinein“, schrieb Graf Harry Kessler, eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, Diplomat und Sozialdemokrat, in sein Tagebuch am 6. November. „Ein Aufstand wird hier für heute Abend erwartet. Heute morgen wurde die russische Botschaft überfallen wie eine anrüchige Kneipe und Joffe [der Botschafter] hat sich mit seinen Mitarbeitern abgesetzt. Jetzt sind wir quitt mit diesem bolschewistischen Zentrum in Berlin. Aber vielleicht müssen wir diese Leute doch noch zurückrufen.“ (50)

In der ersten Woche des Novembers wurde die Meuterei der Matrosen von der Unbotmäßigkeit vielen Garnisonen gefolgt, deren mangelnde Bereitschaft, den ungeliebten preußischen Staat zu unterstützen, öffentliche Aufstände erleichterte. Lokale Anarchisten, Spartakisten und Unabhängige Sozialdemokraten stritten sich über verschiedene Formen der Revolution, und Räte übernahmen die Verwaltung der meisten großen Städte. In der ersten Woche im November wurden Rote Fahnen durch die Straßen von Hamburg, Bremen, Köln, DuisburgFrankfurt und München getragen. Aber es war eine merkwürdig stille Rebellion, die durch die Straßen zog – alle Berichte stimmen darin überein; Gewalt, ja sogar leidenschaftliche Diskussionen waren seltsam abwesend. Das jedoch änderte sich schnell genug. Der Spartakusbund,  deutsche Bolschewisten in Verkleidung, hatten unauffällig während der ersten Woche im November ihre Anhänger in der Hauptstadt konzentriert, während ihre Führer, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die deutsche Revolution vorbereiteten.

Karl Liebknecht predigt die Revolution …

Liebknechts Vater Wilhelm war ein persönlicher Freund von Karl Marx gewesen und erreichte sozialistische Heiligsprechung als Mitbegründer der SPD und Herausgeber der Parteizeitung „Vorwärts“. Sein Sohn studierte Jura und Wirtschaft in Leipzig und Berlin, bevor er im Wesentlichen als Anwalt für die sozialistische Bewegung tätig wurde. Er wurde 1912 für die SPD in den Reichstag gewählt und war das einzige Mitglied des sozialistischen Lagers, das im August 1914 gegen die Kriegskredite stimmte. Als ihm klar wurde, dass der Rest der Partei zumindest vorübergehend die Regierung und damit den Krieg unterstützen würde, begann Liebknecht nach Sympathisanten außerhalb der Partei zu suchen.

Zu diesem Ziel gründete er den „Spartakusbund“, die Liga des Spartakus, benannt, natürlich, nach dem thrakischen Sklaven Spartacus, der den Aufstand gegen Rom von 72 bis 70 BC angeführt hatte. Die „Spartakusbriefe“, die Antikriegszeitung der Liga, wurden ziemlich bald verboten, und ihr Gründer und Herausgeber fand sich an der russischen Front wieder, wo er sich zu kämpfen weigerte und schließlich einem Beerdigungskommando zugeteilt wurde. Gesundheitlicher Gründe halber aus dem Dienst entlassen, ging er wieder direkt zur Antikriegspropaganda zurück und leitete die sozialistische Friedensdemonstration am Maifeiertag 1916 durch die Straßen Berlins. Dieses Mal wurde er für vier Jahre wegen Hochverrats ins Gefängnis geworfen, aber bald aufgrund Prinz von Badens Amnestie für politisch Gefangene im Oktober 1918 begnadigt. Sobald er zurück auf den Straßen war, nahm er „seine Führung des Spartakus, in Partnerschaft mit den polnischen Aktivistin Rosa Luxemburg“ wieder auf. (51)

Rosa Luxemburg

Frau Luxemburg war schon früh als Lehrling in das Geschäft der Anzettelung von  Aufständen eingetreten; sie war in den illegalen sozialistischen und anti-zaristischen Bewegungen Vorkriegs-Russlands aktiv gewesen, seitdem sie eine Schülerin war. (52) Rechtzeitig der Aufmerksamkeit der Ochrana entronnen, fand sie sich in der Schweiz wieder, wo ein wohlhabenden Liebhaber ihr ein Studium an der Züricher Universität ermöglichte und half, die illegalen sozialistischen Parteien in Polen und Litauen zu unterstützen. Sie war vielleicht die extremste sozialistische Aktivistin außerhalb Russlands in diesen Jahren und befürwortete die globale und rücksichtslose Revolution. Sie wurde Deutsche per Heirat im Jahre 1903, trat der SPD bei, und fing an, ihr politisches Gewicht hinter den radikalen Flügel zu stellen. Schließlich wurde sie als Faktotum der Weltrevolution bekannt und regelmäßig ins Gefängnis geworfen, von ihrer alten Schweizer Flamme gerettet und wieder eingesperrt. Sie tat sich mit Liebknecht unmittelbar nach ihrer Freilassung durch von Badens Amnestie zusammen und begann die revolutionäre Bürokratie des Spartakusbunds zu organisieren.

Dieses giftige Pärchen, wie Lenin und Trotzki in Russland, sah die gemäßigten Sozialisten der SPD als ihre Hauptfeinde. „Die Partei muss durch die Rebellion der Massen von unten wieder neu aufgebaut werden“, schrieb Luxemburg. Ihre Verbündeten war die pazifistische Linke, die sich von der SPD im Jahr 1917 abgespalten und eine eigene Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD gebildet hatte –  nur geringfügig weniger extrem als der Spartakusbund. Die gemäßigten Sozialisten reagierten, indem sie in „Vorwärts“ höhnisch die „pathologische Instabilität“ des Spartakusbunds mit ihrem eigenen „klaren Kopf und vernünftiger Ruhe“ verglichen. Aber während die gemäßigten Sozialisten sich vernünftig ruhig verhielten, fingen Abordnungen der Spartakisten die aus dem Krieg zurückkehrenden Truppen an den Bahnhöfen ab, um Gewehre, Pistolen und Maschinengewehre zu erbetteln oder zu kaufen. (53)

Inzwischen sah sich Prinz Max mit dem Problem konfrontiert, wie der Krieg und die Monarchie zu beenden wäre, ohne dabei unfreiwillig eine Revolution zu verursachen. Er konzentrierte seine Anstrengungen auf drei entscheidende Fragen: den Ersatz von Kriegsdiktator Ludendorff, die Bildung einer Regierung die in der Lage wäre, das Land friedlich durch die vielen absehbaren Veränderungen zu führen, und, als Voraussetzung für das letztere, die Abdankung seines Vetters Wilhelm. Am 9. November beförderte er General Wilhelm Groener, den Sohn eines württembergischen Unteroffiziers und Transport- und Versorgungsspezialisten, auf Ludendorffs ehemaligen Posten als Generalstabschef und übertrug– völlig illegal – sein eigenes Amt und Autorität als Reichskanzler auf den siebenundvierzig Jahre alten ehemaliger Sattler und Vorsitzenden der SPD, Friedrich Ebert . Die noch verbleibende Aufgabe war die schwerste. Keine bürgerliche, und noch viel weniger eine von Sozialisten geführte Regierung, könne ihre Autorität ausüben, solange der diskreditierte Kaiser noch im Amt verblieb.

Zu dieser Zeit hielt sich Wilhelm noch in Spa auf, den kaiserlichen Kopf voller törichter Phantasien, wie er, sobald der Waffenstillstand unterzeichnet war, seine treuen Armeen zurück nach Deutschland führen würde, um die Ordnung wiederherzustellen. Wie Prinz Max in Berlin zu Recht erkannte, war eine Rückkehr Wilhelms weit davon entfernt, eine Lösung sein – sie war eher das Problem. Berichten zufolge hatten in Metz, dem nächste Ziel der alliierten Offensive, bereits 10.000 deutsche Soldaten gemeutert, einen Soldatenrat gebildet, und die Stadt übernommen. Ähnliche Umstürze der alten Ordnung brachen in ganz Deutschland aus. … Den Frieden ersehnenden Deutschen war klar, dass die einzige Handlung, die die Massen vom Überlaufen in das radikale Lager abhalten würde, die Entfernung des in Verruf geratenen Monarchen war. (54)

In den letzten zehn Tagen seit seiner Ankunft in Spa hatte Wilhelm erfolgreich jeden Bezug zu den Realitäten vermieden und darauf bestanden, dass eine Abdankung indiskutabel war. Nicht an Widerspruch gewohnt, weigerte der Kaiser sich, den Erklärungen des Boten von Prinz Max, dem preußischen Innenminister Drews zuzuhören. Er habe „nicht die Absicht, wegen einiger hundert Juden und tausend Arbeitern dem Thron zu entsagen. Sagen Sie das Ihrem Meister in Berlin.“ (55)

Baden erkannte , dass er persönlich mit seinem Vetter sprechen musste. Am Abend des 8. November rief er Wilhelm am Telefon an und versuchte, durch des Kaisers Starrsinn zu dringen, indem er klarstellte, dass ohne Wilhelms Abdankung ein Bürgerkrieg das Land verwüsten würde. Der Kaiser glaubte ihm kein Wort. Es war undenkbar, erwiderte er, dass die Armee sich weigern würde, ihm zu folgen. Da es, darüber hinaus, Prinz Max gewesen war, der Wilson um einen Waffenstillstand gebeten hatte, nicht Wilhelm selbst, fühlte sich der Kaiser gänzlich unbeteiligt. „Sie haben um den Waffenstillstand gebeten“, sagte er, „also werden auch Sie die Bedingungen akzeptieren müssen.“ (56) Am nächsten Morgen, am 9. November, erschien die Führung der Armee, Hindenburg und Groener, im Hotel Britannique in Spa, um ihrem Souverän einen letzten und notwendigen Besuch abzustatten.

Am 9. November, traf der Kaiser in Spa die Führer seiner Armee, der Institution, durch die die Hohenzollern-Dynastie an die Macht gekommen war, und die deren Würde und Autorität immer aufrechterhalten hatte. Wilhelm II glaubte immer noch , dass, welche Akte der Untreue auch immer von den zivilen Politikern in Berlin begangen würden, welche Angriffe auf Ruhe und Ordnung auch immer die Straßen störten, seine Untertanen in Feldgrau würden ihrem Eid des militärischen Gehorsams treu bleiben. Auch an diesem 9. November fuhr er fort sich einzureden, dass er die Armee gegen das Volk einsetzen könne und damit das Königshaus retten; wenn er nur Deutschen befahl gegen andere Deutsche zu kämpfen.

Seine Generäle wussten es besser. Hindenburg, der hölzerne Riese, hörte ihn in aller  Stille an. Groener, der praktisch denkende Transportoffizier, Sohn eines Sergeants, der nun Ludendorff ersetzt hatte, fand den Mut zu sprechen. Er wusste, aus Umfragen unter fünfzig Regimentskommandeuren, dass die Soldaten jetzt „nur noch eins wollten – einen Waffenstillstand zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ Der Preis dafür, für das Haus Hohenzollern, war die Abdankung des Kaisers. Der Kaiser hörte ihm mit steigender Ungläubigkeit zu. Was ist, fragte er, mit dem Fahneneid, dem Eid auf die Farben des Regiment, der jeden deutschen Soldaten band, eher zu sterben, als nicht zu gehorchen? Groener sprach das Unaussprechliche aus. „Heutzutage“, sagte er, „besteht der Fahneneid nur aus bedeutungslosen Worten. “(57)

In der Reichskanzlei in Berlin, nicht in der Lage, den Ereignissen in entfernten Spa zu folgen, konferierte von Baden mit Ebert über die Situation auf der Straße. Ebert warnte, dass, wenn die Abdankung sich weiter verzögere, ein Staatsstreich von Spartakus und USPD in jeder Stunde wahrscheinlicher werde. Da Prinz Max sich im Klaren darüber war, dass die Monarchie wohl oder übel nicht mehr zu halten war, diktierte er, der Wirklichkeit vorgreifend, einem Mitarbeiter der Wolff-Telegraphen-Agentur in Berlin die Meldung, „Der Kaiser und König hat sich entschlossen, auf den Thron zu verzichten.“ ( 58)

Feuerwerk der deutschen Hochseeflotte in Wilhelmshaven nach der Abdankung des Kaisers
“Der Kaiser hat abgedankt!” – 2. Extra-Ausgabe des “Vorwârts” vom 9. November 1918.

Als das sensationelle Telegramm binnen weniger Minuten zur Aufmerksamkeit der Konferenz in Spa gebracht wurde, explodierte Wilhelm in einer Philippika gegen alle Verräter, zivile und militärische, aber war schließlich gezwungen zu erkennen, dass das Spiel aus war. Um 3:30 Uhr am Samstag, den 9. November 1918, gab er den Thron auf, und das Ende des Zweiten Kaiserreichs war gekommen; 47 Jahre und 10 Monate nach seiner Gründung im Spiegelsaal von Versailles. Auf Hindenburgs Rat verließ Wilhelm Spa in den frühen Morgenstunden des 10. November, und ging ins Exil auf Schloss Amerongen in den Niederlanden, den Sitz des Grafen Godard Bentinck, der für die nächsten 23 Jahre sein Gastgeber sein würde. (59)

Wilhelm II an der holländischen Grenze auf dem Weg ins Exil

Inzwischen entwickelten sich die Ereignisse in der Hauptstadt Hals über Kopf. Philip Scheidemann, der stellvertretende Vorsitzende der SPD, war von der Reichskanzlei in den Reichstag gestürmt, um seine Kollegen über Eberts Termine zu informieren. Während eines wohlverdienten Mittagessens in der Cafeteria wurde ihm mitgeteilt, dass Spartakus und USPD ihre Anhänger zum Stadtpalast des Kaisers zusammengerufen hatten, angeblich zur Verkündigung der Revolution und Proklamation einer deutschen Sozialistischen Sowjetrepublik. Geschwindigkeit war nun von fundamentaler Wichtigkeit.

Philipp Scheidemann am Fenster der Reichskanzlei in Berlin bei der Proklamation der Deutschen Republik.

Scheidemann stürmte auf die Terrasse vor der Reichstagsbibliothek, wo er von einer zwischen Hoffnung und Furcht schwankenden Menge bejubelt wurde. Improvisierend informierte Scheidemann die Menschen über die Ernennung Eberts zum Kanzler und die Schaffung einer neuen, republikanischen und demokratischen Regierungsform und beendete seine kurze Ansprache mit den Worten: „Die verfaulte alte Monarchie ist zusammengebrochen. Lang lebe das Neue! Es lebe die deutsche Republik!“(60) In der Zwischenzeit waren Delegationen der Spartakisten in Fabriken, Kasernen und Kasernen erschienen und hatten eine Menge von Tausenden von Anhängern mobilisiert, die zum Königlichen Schloss marschierten. Liebknecht begrüßte die revolutionäre Versammlung vom Balkon des Gebäudes herab, von wo der Kaiser früher seine Untertanen adressiert hatte:

„ Kameraden!“, rief er. „Die rote Fahne fliegt über Berlin! Das Proletariat marschiert. Die Herrschaft des Kapitalismus , die Europa in einen Friedhof verwandelt hat , ist vorbei. Wir müssen unsere Stärke sammeln, um eine neue Regierung der Arbeiter und Bauern zu bilden, und eine neue Ordnung des Friedens und die Freude und Freiheit nicht nur für unsere Brüder in Deutschland, sondern für die ganze Welt zu erschaffen. Wer entschlossen ist, den Kampf nicht einzustellen, bis die freie sozialistische Republik und die Weltrevolution verwirklicht ist, soll seine Hand heben und schwören!“ Die Menge brüllte zurück ‘Wir schwören’“. Aber Liebknecht kam zwei Stunden zu spät. (61)

Ebert hatte schnell gehandelt und bereits die USPD, Liebknechts einzig mögliche Unterstützer, davon überzeugt, in eine Koalition mit der SPD einzutreten, indem er der kleineren Partei einen gleichen Anteil bot, drei von sechs Sitzen in der provisorischen Regierung. Die neue Exekutive nannte sich „Rat der Volksbeauftragten“  und es wurde erwartet, dass sie sich die Verwaltung mit dem Arbeiter- und Soldatenrat der Hauptstadt teile, bis eine Nationalversammlung eine Verfassung erlassen und anschließend eine legitime Regierung beauftragen konnte. Ebert vorsichtiges Manövrieren überzeugte auch die liberalen und katholischen Interessen in der Hauptstadt und in weiten Teilen des Landes, die früher gefürchtete SPD als tragende Säule der neuen Republik zu unterstützen und damit hatte die neue Regierung zumindest die Legitimität populärer Unterstützung.

Dies alles unter der Voraussetzung, dass die Revolution in Schach gehalten werden könne. Dies schien in der Tat der Fall zu sein: außer ein paar Scharmützeln am Samstagabend und Sonntag, dem 10. November, blieb Berlin ruhig, und nachdem die Frage einer deutschen Republik jetzt aus dem Bereich der Möglichkeit zur Wirklichkeit geworden war, richteten sich die Augen der Nation zurück an die Westfront. Der Krieg war noch im Gange, und das Alliierte Oberkommando hatte bereits die nächste Offensive geplant; gegen Metz, am 14. November, und weitere Angriffe waren bis weit in das Jahr 1915 vorgesehen.

Der amerikanische Oberbefehlshaber John J. „Black Jack“ Pershing, der jetzt fast zwei Millionen „Doughboys“ unter seinem Kommando hatte, ersehnte sich eine baldige Vermehrung seines militärischen Prestiges durch die Eroberung von Sedan, das bei weitem die attraktivste Ziel in dem südöstlichen Teil der Front war. Es war die Stadt, wo die deutsche Armee die Franzosen im Jahr 1870 geschlagen und Napoleon III und 100.000 Poilus zu Kriegsgefangenen gemacht hatte.

Matthias Erzberger

Inzwischen hatte Prinz Max am 7. November eine Delegation für die Aushandlung des Waffenstillstands zu den französischen Gräben in der Nähe von Haudroy entsandt. Die Abordnung wurde von Matthias Erzberger geleitet, dem Vorsitzenden der deutschen katholischen Zentrumspartei, die von Badens informelle Regierung unterstützte. Er war ein bekannter Pazifist und das einzige bekannte Gesicht in der deutschen Gesandtschaft, die, mit Ausnahme von ihm selbst, aus Funktionären der mittleren Ebene aus dem Auswärtigen Dienst, Armee und Marine bestand. (62) Die Botschaft wurde mit dem Zug zu einem Eisenbahnwagen im Wald von Compiègne transportiert, fünfundsechzig Kilometer nordöstlich von Paris, und mit einer erwartet schroffen Behandlung durch Foch und General Weygand konfrontiert. Die Waffenstillstandsbedingungen waren wie folgt:

Marschall [Ferdinand] Foch vor seinem Salonwagen im Walde von Compiégne, Der zweite von links ist [Maxime] Weygand.

Alle besetzten Gebiete in Belgien, Luxemburg und Frankreich sowie Elsaß-Lothringen, seit 1870 von Deutschland besetzt, müssen innerhalb von vierzehn Tagen evakuiert werden; die Alliierten würden Deutschland westlich des Rheins und Brückenköpfe am Ostufer des Flusses in dreißig Kilometer Tiefe besetzen; alle deutschen Truppen müssen aus Österreich-Ungarn, Rumänien und der Türkei zurückgezogen werden und Deutschland hat 10 Schlachtschiffe, 6 Schlachtkreuzer, 8 Kreuzer und 160 U – Boote an alliierte oder neutrale Häfen auszuliefern. Sie muss alle schweren Waffen abliefern, darunter 5.000 Artilleriegeschütze, 25.000 Maschinengewehre und 2.000 Flugzeuge.

Die nächste Forderung versetzte die deutsche Delegation in tiefste Verzweiflung. Obwohl die Hungersnot im Lande wütete, beabsichtigten die Alliierten die Transportkapazitäten des Landes durch die Fortsetzung der Seeblockade und Konfiszierung von 5.000 Lokomotiven, 150.000 Eisenbahnwaggons und 5.000 Lastwagen zu lähmen. Weygand leierte vierunddreißig Bedingungen herunter, von denen die letzte Deutschland für den Krieg verantwortlich machte und Reparationen für alle Schäden forderte. (63)

Frühe französische Pläne für eine Teilung Deutschlands

Der deutschen Delegation wurde eine 72-Stunden-Frist gewährt und die Gelegenheit eingeräumt, die alliierten Forderungen per Funk an Berlin zu vermitteln. Erzberger war sich bewusst, dass die auferlegten Bedingungen viel zu scharf waren, um dem Radio anvertraut zu werden, welches abgehört werden könnte, und liess Prinz Max lediglich ausrichten, dass ein Kurier auf dem Weg sei. Dann bat er um eine vorläufige Einstellung des Kampfes, bis die Antwort empfangen werden könne, und wies darauf hin, dass damit viertausend Leben oder mehr pro Tag gerettet werden können. Um Pershing einen Gefallen zu tun, der wütend war, dass seine großer Entwurf der Eroberung Deutschland nun vereitelt schien und zur höheren Ehre der amerikanischen Expeditionary Forces und seiner eigenen auf Kampf bis zur letzten Minute bestand, weigerte sich Foch, das Gemetzel einzustellen.

Die Erzberger-Mission übernachtete im Wald von Compiègne in der Nähe von Fochs Eisenbahnwaggon und entwarfen Protestbriefe, die, wie sie hofften. vielleicht einen mäßigenden Einfluss auf die alliierten Bedingungen zeitigen würden. Um 8 Uhr abends am 10. November erhielten sie einen französischen Bericht über eine abgefangene Nachricht aus Berlin, die Erzbergers Vollmachten bestätigte und ihn ermächtigte, das Instrument des Waffenstillstandes zu unterzeichnen.

Danach wurde eine zweite Nachricht Hindenburgs empfangen, die die Echtheit des ersten Signals bestätigte und Erzberger anwies zu versuchen, im Interesse der hungernden Frauen und Kinder um die Aufhebung der Seeblockade nachzusuchen. Um 2 Uhr am nächsten Morgen, den 11. November, wurde die deutsche Delegation zurück in den Eisenbahnwaggon zu einer zweiten Runde Gespräche geführt.

Foch blieb jedoch unnachgiebig, und die einzige Mäßigung der Konditionen. die Erzberger erreichte, war, dass die Alliierten „die Versorgung Deutschlands während des Waffenstillstands in Erwägung zögen, sollte diese als erforderlich eingestuft werden.“ (64) Der Waffenstillstand wurde kurz nach 5.00 Uhr morgens unterzeichnet, mit Wirkung von 11.00 Uhr des gleichen Tages, also in sechs Stunden, und die Sitzung wurde unterbrochen. Alles was die Soldaten auf beiden Seiten des Drahtes nun tun mussten, war noch sechs Stunden in ihren Gräben zu verweilen und das Abschlachten wäre vorbei.

Erzberger bei der Unterzeichnung

Das heißt, für alle mit Ausnahme der AEF, die von Pershing angewiesen wurden, die für diesen Tag geplanten Angriffe ohne Berücksichtigung des Waffenstillstandes um 11:00 Uhr wie geplant fortzusetzen. Da Foch die Bedingungen des Waffenstillstands allen alliierten Kommandanten mitgeteilt hatte – darunter natürlich auch Pershing – war schon im Vorfeld klar, dass aller Boden, der den Deutschen in so einer Last-Minute-Offensive abgerungen werden könne, von den Deutschen ohnehin innerhalb zweier Wochen aufgeben werden musste.

Pershing hatte seine Regiments- und Divisionskommandeure darüber informiert, dass ein Waffenstillstand mit Wirkung 11.00 Uhr in Kraft treten würde, aber befahl seinem Stabschef, dass von 5.00 bis 11.00 Uhr, die AEF „ jeden Vorteil aus der Situation“ ziehen sollte. (65) Neun der sechzehn US Divisionskommandeure an der Westfront interpretierten das Fehlen spezifischer Befehle als Anreiz, die geplanten Angriffe zu starten; sieben verzichteten darauf, um nicht sinnlos ihrer Männer Leib und Leben zu gefährden.

Also griffen neun US-Divisionen den Feind am Morgen des 11. November an und da die Deutschen gezwungen waren, sich zu verteidigen, ob sie wollten oder nicht, wurden fast 11.000 Opfer der Gesamtheit der Kriegsverluste unnötig hinzugefügt. Mit mehr als 2700 Toten am Ende dieser wenigen Stunden übertraf dieser letzte halbe Tag die durchschnittliche tägliche Verlustrate von 2.000 Toten bei weitem.

Betrachtet man diese Verluste in der richtigen Perspektive, so wurden während der  D-Day-Invasion in der Normandie am 6. Juni 1944, fast 26 Jahre später, Gesamtverluste um die 10.000 (für alle Seiten) berichtet. Also waren die Gesamtverluste des (halben) Waffenstillstandstags fast 10 Prozent höher als die am D-Day. Es gab jedoch einen großen Unterschied. Die Männer, die die Strände der Normandie erstürmten, kämpften um den Sieg. Die Männer des Waffenstillstandstags starben in einem Krieg, der bereits entschieden war. (66)

Um 11:00 Uhr am 11. November 1918 beendeten die Kanonen das Feuer entlang der Westfront. Aber es war erst in der Zeit nach dem großen Konflikt, dass die Mitglieder der alten Kaiserhäuser realisierten, für wie lange schon – in Wahrheit –  sich ihre Relevanz und Autorität vermindert hatte, ohne dass sie es bemerkten. Denn es hatte sich herausgestellt, dass die Macht der Hohenzollern, Habsburg und Romanov-Dynastien nicht erst im Februar 1917 oder November 1918 beendet war, sondern in Wirklichkeit bereits im Sommer 1914 oder sogar noch früher – in ihrem Betreiben, den alten Kontinent in unnötigen Krieg und Pestilenz zu treiben, hatten sie, ach, die Schatten des Nationalismus und Sozialismus übersehen, die sich in ihrem Rückspiegel zusammenbrauten – eifrig darauf aus, das imperiale Erbe zu übernehmen.


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[42] [43] [44] [45] Massie, Robert K., Castles of Steel, Ballantine Books 2003, ISBN 0-345-40878-0, S. 773, 775, 775, 776

[57] Keegan, John, The First World War, Vintage Books 2000, ISBN 0-375-40052-4361, S. 418-419

[48] [49] [54] [55] [56] [58] [59] [62] [63] [64] [65] [66] Persico, Joseph, 11th Month, 11th Day, 11th Hour, Random House 2004, ISBN 0-375-50825-2, S. 303, 304-5, 315-16, 316, 317, 318, 318, 306, 307-8, 323, 325, 378-9

[46] [47] [50] [51] 52] [53] [60] [61] Read, Anthony, The World on Fire, Norton Books 2008, ISBN 978-0-393-06124-6, S. 26, 27, 28, 29, 29, 30, 32, 32

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Wilhelm II und die Leichtigkeit des Seins

In vollem Ornat – Wilhelm II

Videos: I. Christina Croft und ihr Buch über Wilhelm II. Originalaufnahmen III. Truppenparaden IV: Kolorierte Fotos


In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts konnte sich das Deutsche Reich durchaus glücklich schätzen – die Industrialisierung schritt voran, erste Sozialgesetzgebung wurde initiiert und der Berliner Kongress von 1878 hatte die wesentlichen politischen Spannungen in Europa beigelegt. Deutsch war die Sprache der Wissenschaft weltweit und nach dem Sieg von 1870/71 war das Reich auch militärisch gesichert. Das große Problem lag in der Verfassungswirklichkeit, d.h. der Führung.

Die altmodischen, fast mittelalterlichen, auf die Person des Monarchen zentrierten Verfassungsbestimmungen, unter denen das Kaiserreich existierte, waren einem modernen Staat höchst abträglich.

Wilhelm im Alter von 21
Wilhelm im Alter von 21

Die Regierung der vor kurzem vereinten Nation hinke weit hinter der Modernisierung ihrer Wirtschaft her, schrieb Friedrich Stampfer, Chefredakteur der (noch heute existierenden) sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts“. Das wilhelminische Deutschland wäre, seiner Meinung nach, das am meisten erfolgreich industrialisierte und am effektivsten verwaltete Land Europas war, aber leider auch die am schlechtesten regierte Nation in Vorkriegseuropa. Max Weber hatte das Gefühl, von einer Horde Irrer regiert zu werden. Der Fisch stank vom Kopf her und der Kopf war natürlich niemand anderes als der Kaiser selbst, Wilhelm II, König in Preußen und Deutscher Kaiser.

Er wurde am 27. Januar 1859 als erstes Kind des Kronprinzen und zukünftigen Kaisers Friedrich III und der Prinzessin Royal Victoria, der ältesten Tochter von Königin Victoria von England geboren. Zar Nikolaus II. von Russland und König Georg V. von England, zwei weitere Enkelkinder von Königin Victoria, waren seine Cousins, und er war blutsmäßig mit fast jedem anderen regierenden Haus des Kontinents verwandt.

Leider litt er an einem Geburtsfehler, der seine aufkeimende Persönlichkeit stark beeinflusste. John C.G. Röhl, der Wilhelm in seinem Bestseller “The Kaiser and His Court“ [Cambridge University Press 1996, ISBN 0-521-56504-9] untersucht, stellt uns Mutter und Kind vor:

Es ist bekannt, dass Wilhelm bei der Geburt einen organischen Schaden erlitten hatte, obwohl das Ausmaß des Schadens noch immer nicht voll geklärt ist. Abgesehen von seinem nutzlosen linken Arm, der letztendlich etwa fünfzehn Zentimeter zu kurz war, litt er auch unter Wucherungen und Entzündungen im rechten Innenohr. Aufgrund dieses Zustands wurde er 1896 einer schweren Operation unterzogen, die ihn auf dem rechten Ohr fast taub machte.

Die Möglichkeit, dass er zum Zeitpunkt seiner Geburt auch einen Hirnschaden erlitt, kann nicht ausgeschlossen werden. Im Jahr 1859, in dem Wilhelm geboren wurde, wurden in Deutschland fast 98 Prozent der Babys in der Steiß- bzw. Beckenendlage tot geboren. Die Gefahr war am größten bei jungen Müttern, die ihr erstes Kind bekamen, vor allem durch die Gefahr des Erstickens, falls der Kopf des Babys die neben ihm verlaufende Nabelschnur zudrückte. Wenn die Luftzufuhr länger als ungefähr acht Minuten unterbrochen war, würde das Baby sicher sterben.

Und in der Tat war das königliche Baby, mit dem wir uns befassen, “in hohem Maße scheinbar tot”, wie es der Bericht des Arztes ausdrückte, als Wilhelm am Nachmittag des 27. Januar 1859 in die Welt kam, mehr als zehn Stunden nachdem die Wasser gebrochen waren.

Welcher Schaden auch immer in diesen Stunden an Wilhelms Gehirn entstand, es ist sicher, dass sein linker Arm nicht lokal gelähmt war, wie die Ärzte es annahmen, sondern eher als Folge einer Schädigung des Plexus brachialis, also des Nervenstrangs, der die Innervation der Schulter-, Arm- und Handmuskulatur gewährleistete – diese wurden wohl während der Endphase der Geburt aus der Halswirbelsäule gerissen.

Die Geburt war für Vicky, die Prinzessin Royal, eine schreckliche Erfahrung. Trotz der Tatsache, dass sie vorher stundenlang Chloroform eingeatmet hatte, war die Geburt extrem schmerzhaft. Sie hatte nur ein Jahr zuvor geheiratet, im Alter von siebzehn Jahren. Während der langen, komplizierten Geburt ihres ersten Kindes musste “der arme Dr. Martin” unter ihrem langen Flanellrock arbeiten, sodass der königliche Anstand gewahrt bliebe.

Vickys Reaktion auf die Geburt eines verkrüppelten Jungen war, wie es scheint, ambivalent. Wäre sie ein Junge gewesen, das erste Kind von Königin Victoria, hätte sie sich in ihrem geliebten England aufhalten können und wäre zu gegebener Zeit des Landes Souverän geworden. Nach dem Stand der Dinge stand ihr jetzt jedoch nur ein Sohn zur Verfügung um durch ihn das zu tun, was sie konnte, um das Land umzubauen, in das sie im Interesse ihres Landes geheiratet hatte

Wilhelm und seine Mutter
Wilhelm und seine Mutter

Aber dieser Sohn hatte einen verkrüppelten Arm, er war nicht besonders talentiert und demonstrierte schon sehr früh ein stürmisches, hyperaktives Temperament, das durchaus Anlass zur Sorge gab. Sigmund Freud selbst diagnostizierte Vickys Gefühl einer narzisstischen Verletzung als eine der Hauptursachen Wilhelms späterer psychologischer Störungen. 1932 schrieb er:

“Es ist üblich für Mütter, denen das Schicksal ein krankes oder anderweitig benachteiligtes Kind gegeben hat, zu versuchen es für das unfaire Handicap durch ein Übermaß an Liebe zu entschädigen. Aber in dem Augenblick vor uns benahm sich die stolze Mutter anders; sie entzog dem Kind ihre Liebe aufgrund seiner Gebrechlichkeit. Als er (Wilhelm) dann zu einem Mann von großer Macht herangewachsen war, zeigte sich in seinen Handlungen eindeutig, dass er seiner Mutter nie vergeben hatte.”

Sobald Ärzte mit “Tierbädern” und Elektroschocks auf den jungen Wilhelm losgelassen worden waren, mit Metallapparaturen und Lederriemen zum Dehnen von Arm und Nacken, sobald seine Erziehung in die Hände des nie lächelnden, nie lobenden calvinistischen Hinzpeter gelegt worden war, lag die letzte, magere Hoffnung für seine emotionale und psychische Stabilität in den Händen seiner Mutter. Aber sie war unfähig, die Verbindung bedingungsloser Liebe und Vertrauen aufzubauen, die er so dringend brauchte.

Kein Wunder, dass er sich genau zu den Elementen hingezogen fühlte, die seine Mutter gewohnheitsmäßig abwerteten – zu Bismarck, die “netten jungen Männer” der Potsdamer Garderegimenter, an die Kamarilla des “Liebenberg-Kreises”; kein Wunder, dass er glaubte, nicht genügend Hass auf England aufbauen zu können. [Schloss Liebenberg war im Besitz von Philipp zu Eulenburg]

Als Wilhelm im Alter von 29 Jahren auf den Thron kam, konnte er den ganzen Apparat der Armee benutzen, der Marine und des Staats, die ganze Arena der Weltpolitik, um seinen Wert zu beweisen. (Röhl, S. 25-26)

Die Organisationsform der Bundesregierung konzentrierte sich zu einem beinahe mittelalterlichen Grad auf die Person des Monarchen. Der Kaiser hatte das Recht auf Ernennung und Entlassung aller Bundesbeamten, vom Kanzler bis zum niedrigsten Schreiber. Obwohl die Verfassung den Kanzler “verantwortlich” gegenüber dem Reichstag machte, konnte das Parlament ihn nicht sanktionieren, und so blieb diese Verantwortung eine Formalität, bloßer Rauch ohne Feuer. Der einzig wahre politische Einfluss des Parlament war es, von seinem Recht Gebrauch machen, den Haushalt anzunehmen oder abzulehnen, aber da es dies nur in vollem Umfang tun konnte, d. h. alles oder nichts, und eine solche Ablehnung durch eine kaiserliche Notstandsverordnung leicht umgangen werden konnte, war es für den Kanzler leicht, Haushalte nach der Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode durchzubringen, deren Ablehnung sich das Parlament nicht wirklich leisten konnte.

Veränderungen in der Person des Kanzlers konnten sich somit nur aus Situationen ergeben, in denen die Mitarbeit des Parlaments notwendig war, sagen wir, z. B. bei den Militärbudgets. Die Verfassung beließ der Krone ausdrücklich die Kontrolle über Außenpolitik und die Frage von Krieg und Frieden, und die Bundesregierung war dem Monarchen verantwortlich, nicht dem Parlament oder den Menschen. (1) Dies war äußerst bedeutungsvoll und folgenreich im militärischen Bereich, wie Fritz Fischer ausführt:

Ein weiterer Faktor, der die Position der Krone stärkte und den Kanzler und damit die Regierung in ihrer Entscheidungsbefugnis einschränkte, war, dass die preußische Armee (in Kriegszeiten auch die Armeen des anderen Bundesstaaten) und die Marine der direkten Autorität des Monarchen unterstanden. Er übte diese Befugnisse durch seine Militär- und Marinekabinette (für Personalfragen) und durch die General- und Marinestäbe aus – Gremien in denen der Kanzler keine Stimme hatte, und es gab auch keine Koordinierungsmaschinerie (die Person des Monarchen ausgenommen), wodurch den politischen Aspekten militärischer Entscheidungen das richtige Gewicht verliehen werden konnte. (2)

Bei Wilhelm kamen nun diese Kehrseiten von Bismarcks monarchischer Verfassung voll zum Durchbruch: niemand konnte die imperiale Quasselstrippe einbremsen.

Die Eröffnung des deutschen Reichstages im Weißen Saal des Berliner Schlosses am 25. Juni 1888 (Ölgemälde von Anton von Werner, 1893
Die Eröffnung des deutschen Reichstages im Weißen Saal des Berliner Schlosses am 25. Juni 1888 (Ölgemälde von Anton von Werner, 1893

Er reiste durch die Welt und informierte alle, die ihn fragten, und alle, die dies nicht taten, über seine persönliche Macht und die seines Landes. Manchmal schien es, dass Deutschland sich zu einer hermaphroditischen Nation aus einer erstklassigen Industrie, einer relativ freien Presse und einem impotenten Parlament entwickelt habe; eine Mischung aus Don Juan und mittelalterlichem Räuber, wie aus „The Prisoner of Zenda“; es war so, merkte John Röhl an, als ob die „Entwicklung des Landes zu einem modernen einheitlichen Rechtsstaat zur Halbzeit stehengeblieben war“. (Röhl, S. 121 ) Die Wahrnehmung Deutschlands in der Welt hing sehr von den Meinungen ab, die Wilhelm ungebeten verkündete, und das Auswärtige Amt und der diplomatische Dienst konnten die ungünstigen Eindrücke, die der Kaiser hinterließ, wohin er auch reiste und mit wem er auch sprach, häufig kaum korrigieren.

Zusätzlich zu seiner kapriziösen Politik erregten seine privaten Plaisirs Verdacht und erregten jede Menge öffentliche Aufmerksamkeit – zum Beispiel in den saftigen Skandalen der Harden-Eulenburg-Affäre, auch “Liebenberg-Prozesse” genannt:

Schon vor seinem Amtsantritt hatte Wilhelm angekündigt, “gegen Laster, Glücksspiele, Wetten usw. ankämpfen zu wollen “, gegen “alle diese Taten unserer sogenannten ‚guten Gesellschaft.‘” Dieser Kampf war jedoch nicht besonders erfolgreich. Bald nachdem er auf den Thron gekommen war, begannen hunderte obszöner anonymer Briefe am Hof zu kursieren, und wiewohl dies jahrelang anhielt, wurde der Autor nie entdeckt – obwohl der Täter ein Mitglied des engsten Kreises um Wilhelm und die Kaiserin gewesen sein muss (oder vielleicht gerade deshalb?)

Ein Jahrzehnt später erlebte der wilhelminische Hof seinen größten Skandal, als Philipp Eulenburg (Wilhelms bester Freund) und sein “Liebenberg-Kreis” wegen ihrer Homosexualität (die technisch gesehen eine Straftat war) öffentlich angegriffen und schließlich des Hofes verwiesen wurden. Dutzende von Hofbediensteten und Verwaltungsbeamten erwiesen sich als in den Skandal verwickelt. Peinliche Fragen wurden gestellt – sogar über den Kaiser.

Das bereits ineffiziente deutsche Regierungssystem erlitt einen sofortigen Zusammenbruch, komplettes „Chaos an der Spitze”. Nationalistische Kreise neigten zu der Ansicht, dass sie entweder auf das Äußerste – Krieg – drängen müssten oder auf die Abdankung Wilhelms.

“Um uns von Scham und Spott zu befreien”, schrieb Maximilian Harden (Zeitungsredakteur und die treibende Kraft hinter der Staatsanwaltschaft) im November 1908, “müssten wir bald in den Krieg ziehen oder uns der traurigen Notwendigkeit stellen, einen Wechsel des kaiserlichen Personals auf eigene Rechnung vorzunehmen, auch wenn stärkster persönlicher Druck ausgeübt werden müsste.” Wie Maurice Baumont in seiner Studie der Eulenberg-Affäre zu Recht bemerkt hat, “la réalité pathologique des scandales Eulenburg doit prendre parmi les causes complexes de la guerre mondiale.” [‘… die pathologische Realität der Skandale bedeutet, dass man Eulenburg zu den komplexen Ursachen des Weltkriegs dazuzählen muss’.] (Röhl, S. 100)

Wilhelm II and King Edward VII
Wilhelm II und King Edward VII

Sicherlich besaßen viele andere Länder Monarchen in ihrer Geschichte, die Themen für Satire oder scherzhafte Witze geliefert hatten, aber diejenigen deutschen Schichten, die am meisten von Wilhelms Regierung profitiert hatten, preußische Junker und die hohen Zivil- und Militärbediensteten, allesamt adelig, zeigten nicht nur erstaunliche Fähigkeiten zu vergeben und zu vergessen, sondern übertrafen sich selbst, den mutmaßlichen Entwürfen des Kaisers in puncto Weltpolitik zu applaudieren. John Röhl erzählt die Geschichte eines preußischen Offiziers in Brasilien, der angesichts der wichtigen Nachricht des Kriegsausbruchs einem Freund schrieb, dass das deutsche Volk endlich sehen könne, dass der Kaiser in seiner Persönlichkeit “mehr als Bismarck und Moltke zusammen und ein höheres Schicksal als Napoleon I” verkörpere; dass Wilhelm in der Tat der “Gestalter der Welt” war. (Röhl, S. 9) Er schrieb:

Wer ist dieser Kaiser, dessen Friedenszeit so voller Ärger und ermüdender Kompromisse war, dessen Temperament so wild aufflammte, nur um wieder zu sterben? … Wer ist dieser Kaiser, der jetzt plötzlich alle Vorsicht in dem Wind wirft, der sein Visier aufreißt, um seinen titanischen Kopf zu entblößen und die Welt zu erobern?… Ich habe diesen Kaiser falsch verstanden; ich habe ihn für schwächer gehalten. Er ist ein Jupiter und steht auf dem Olymp seiner eisernen Kräfte, Blitze in seiner Hand. In diesem Moment ist er Gott und Herr der Welt.” (Röhl, S.9)

Lobpreisungen dieser Art standen in scharfem Kontrast zur Realität der Außenpolitik des Kaisers in der Zeit nach Bismarck, in der Krieg zu einer Möglichkeit wurde, die nicht ausgeschlossen werden konnte. 1890 feuerte Wilhelm den alten Kanzler und Bismarcks System der Verträge brach schnell auseinander. Luigi Albertini kommentiert die Bedeutung dieser Auseinandersetzung zwischen dem alten Praktiker und dem unerfahrenen Monarchen:

Die Position von Bismarck wurde kritisch, als am 9. März 1888 der neunzigjährige Kaiser Wilhelm I., dessen Unterstützung er immer genossen hatte, starb und, drei Monate nach dem verfrühten Tod Wilhelms Sohn Friedrich III., sein Enkel Wilhelm II. den Thron bestieg. Der Letztere hatte zuerst pro-russische und anti-britische Einstellungen gezeigt; aber unter dem Einfluss von General Waldersee war er für die Ansicht des Generalstabs gewonnen worden, dass Deutschland solide zu Österreich stehen und einen Präventivkrieg gegen Russland führen müsse.

Der Kanzler wollte ihn davon überzeugen, dass es im Gegenteil besser wäre, einen Vorwand für einen Krieg mit Frankreich zu suchen – in dem Russland neutral bleiben würde –  würde Deutschland dagegen Krieg gegen Russland führen, würde Frankreich die Gelegenheit benutzen, Deutschland anzugreifen. Er schien beinahe erfolgreich gewesen zu sein, als Wilhelm II nur wenige Tage nach seinem Thronantritt der Welt seine Absicht ankündigte, den Zaren vor jedem  anderen Souverän zu besuchen. Danach, auf Ersuchen von Giers [dem russischen Außenminister] und mit der Zustimmung des Zaren, stimmte er der Erneuerung des Rückversicherungsvertrags* mit Russland zu, die sonst im Juni 1880 enden würde.

Reinsurance Treaty [Englisch, PDF]

Aber als sich der russische Botschafter Shuvalov mit den erforderlichen Vollmachten zur Erneuerung des Vertrages für weitere sechs Jahre in Berlin vorstellte, war Bismarck schon zurückgetreten.

Der Kaiser hatte von Baron Holstein, einem hohen Beamten der Wilhelmstraße [des Außenministeriums] Berichte über angebliche feindliche Vorbereitungen Russlands erhalten, von denen er dachte, Bismarck hatte sie von ihm zurückgehalten. Er befahl dem Kanzler, Österreich zu warnen, und hatte Kopien dieser Berichte nach Wien geschickt – Bismarcks Erklärung, dass diese Berichte unerheblich waren, ignorierend. Dies überzeugte den Kanzler, dass ihre Differenzen unüberwindlich wären und am 18. März 1890 reichte er seinen Rücktritt ein.

Dropping the Pilot - Sir John Tenniel, 29.03.1890, Punch Magazine
Dropping the Pilot (Der Lotse geht von Bord) – Sir John Tenniel, 29.03.1890, Punch Magazine

Wilhelm II. akzeptierte den Rücktritt, worauf Shuvalov Zweifel äußerte, ob der Zar bereit sei, den Geheimvertrag mit einem anderen Kanzler zu erneuern. Beunruhigt schickte Wilhelm II. ihm noch des Nachts eine Nachricht und schrieb, er wäre gezwungen gewesen, Bismarck aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand zu versetzen, aber dass sich in der deutschen Außenpolitik nichts ändern würde, und dass er bereit wäre, den Vertrag zu erneuern. Aber Holstein manövrierte die Abläufe so geschickt, dass der neue Bundeskanzler Caprivi und der deutsche Botschafter in St. Petersburg den Kaiser zu einer Änderung seiner Meinung überredeten – mit der Behauptung, dass der Rückversicherungsvertrag mit Russland mit dem österreichischen Bündnis unvereinbar sei und dass, wenn St. Petersburg dies Wien verriete, der Dreibund gleichfalls erledigt und England sich von Deutschland entfremden würde.

Solchen Ratschlägen gegenüber gab Wilhelm seinen Widerstand schnell auf und der deutsche Botschafter wurde angewiesen, St. Petersburg darüber zu  informieren, dass der Rückversicherungsvertrag nicht verlängert werden würde.

  • Der Rückversicherungsvertrag war ein heikles Stück Bismarckscher Diplomatie. Angesichts der Notwendigkeit, Russland um jeden Preis von Frankreich fernzuhalten, erkannte Bismarck, dass der Duale Bündnisvertrag von 1879 zwischen Deutschland und Österreich zu einem Szenario führen könnte, in dem Deutschland verpflichtet wäre, Österreich im Falle österreichisch-russischer Spannungen im Balkan zu unterstützen – die praktisch jederzeit auftreten könnten. Dies könnte zu einem Bruch in den russisch-deutschen Beziehungen führen und Russland wiederum in Richtung Frankreich lotsen, was unbedingt vermieden werden musste. Also musste eine Lösung gefunden werden, die sowohl Russland als auch Deutschland es ermöglichte, das Gesicht zu wahren, wenn Österreich auf dem Balkan Mist baute, aber weder Deutschland noch Russland es zum Krieg kommen lassen wollten. Was auch immer Österreichs Pläne in dieser Region beinhalteten, es war klar, dass sie es sich niemals leisten konnte, Russland ohne deutsche Hilfe anzugreifen. Bismarck und Shuvalov entwickelten daher “eine Formel, die beide Parteien [Deutschland und Russland] zu wohlwollender Neutralität in einem Krieg eines von ihnen gegen eine dritte Macht verpflichten würden, außer in dem Fall, dass eine der Vertragsparteien direkt Österreich oder Frankreich angriffe.” (Albertini, I, S.58) Das heißt, solange weder Deutschland noch Russland Österreich oder Frankreich einseitig angriffen, würde das gegenseitige Wohlwollen weiterhin bestehen, und da Österreich es sich nicht leisten konnte, Russland alleine anzugreifen, könne kein großer Krieg wegen eines slawischen oder türkischen Problems auf dem Balkan entstehen.

Bismarcks Politik orientierte sich an dem Grundsatz, Machtkoalitionen, die zu einem generellen europäischen Krieg führen könnten, unmöglich zu machen. Diese völlig rationale Politik, die den besonderen Anforderungen und individuellen Empfindlichkeiten von Russland und England entsprach, wurde durch eine Abfolge von vier Kanzlern, die nichts von Außenpolitik verstanden und sich im Allgemeinen nicht viel darum kümmerten, zu einer Katastrophe, die durch die launische Persönlichkeit des Monarchen nur verschlimmert wurde.

 Was genau waren die Einzelheiten von Wilhelms Charakter, die zu den außenpolitischen Wahnsinnstaten führten, die Europa ab 1890 so sehr destabilisierten? In seinem Essay “Kaiser Wilhelm II: a suitable case for treatment?“ [Kaiser Wilhelm II: Ein geeigneter Fall für eine Behandlung?] stellt John Röhl seine Beobachtungen vor:

Jede Skizze seines Charakters muss mit der Tatsache beginnen, dass er nie gereift ist. Bis zum Ende seiner dreißigjährigen Regierungszeit blieb er der “junge” Kaiser mit dem “kindlichen Genie”. “Er ist ein Kind und wird immer eins bleiben” seufzte im Dezember 1908 ein weiser Gerichtsbeamter.

Wilhelm schien nicht in der Lage zu sein, aus Erfahrung zu lernen. Philip Eulenburg, der ihn besser kannte als jeder andere, schrieb in einem Brief an Bülow um die Jahrhundertwende, dass Wilhelm, in den elf Jahren seit seiner Thronbesteigung “in Bezug auf sein äußeres Wesen sehr viel ruhiger geworden ist. … Spirituell, dagegen, hat sich jedoch nicht die geringste Entwicklung gezeigt. In seiner explosiven Art ist er unverändert. In der Tat, sogar härter und plötzlicher, da sein Selbstwertgefühl mit der Erfahrung gewachsen ist – was für ihn aber keine Erfahrung ist. Denn seine ‚Individualität‘ ist stärker als der Effekt von Erfahrung.”

Mehr als dreißig Jahre später, als sowohl Eulenburg als auch Bülow tot und der Kaiser zweiundsiebzig Jahre alt und schon lange in Verbannung, schrieb sein Adjutant Sigurd von Ilsemann in sein Tagebuch in Doorn:

“Ich habe den zweiten Band der Bülow-Memoiren jetzt fast fertig gelesen und bin immer wieder begeistert darüber, wie wenig sich der Kaiser sich seit dieser Zeit verändert hat. Fast alles was damals passierte, passiert immer noch, nur mit dem einzigen Unterschied, dass seine Handlungen, die damals von schwerwiegender Bedeutung waren und praktische Konsequenzen hatten, richten sie jetzt keinen Schaden mehr an. Auch die vielen guten Eigenschaften dieser seltsamen, eigentümlichen Person, des Kaisers so sehr komplizierter Charakter, werden von Bülow immer wieder betont.” (Röhl, S. 11-12)

Wir werden – fast unheimlich – viele andere Merkmale Wilhelms wiederentdecken: ununterbrochenes Reisen, die Unfähigkeit zuzuhören, eine Vorliebe für Monologe über halb verstandene Themen und das ständige Bedürfnis nach Gesellschaft und Unterhaltung – ganz wie in dem Charakter und den Gewohnheiten des jungen österreichischen Malers, der in gewissem Sinn sein Erbe wurde. Sie drücken eine Mischung aus Unreife, Egozentrismus und Größenwahn aus –  verständlich, vielleicht, in einem jungen Mann, aber gefährlich für den Anführer der Welt zweitgrößten Industriemacht, der dazu noch ein mittelalterliches Verständnis von den Rechten und Pflichten eines Monarchen hatte.

Kaiser Wilhelm und das Europäische Gleichgewicht
Kaiser Wilhelm und das Europäische Gleichgewicht

Eine andere von Wilhelms Charaktereigenschaften, die notorische Überschätzung seiner eigenen Fähigkeiten, von Zeitgenossen als “Caesaromania” oder „folie d’empereur“ verspottet, hemmte in ähnlicher Weise seine Reaktion auf konstruktive Kritik.

Wie konnte der Monarch aus Erfahrung lernen, wenn er seine Minister verachtete, sie selten empfing und noch weniger zuhörte, was sie zu sagen hatten; wenn er überzeugt war, dass alle seine Diplomaten so “ihre Hosen voll” hätten, dass “die gesamte Wilhelmstraße zum Himmel stank”; wenn er sogar den Kriegsminister und den Chef des Militärkabinetts mit den Worten “Ihr alte Esel” anredete; und eine Gruppe von Admiralen beschied: “Alle von euch wissen nichts; Ich alleine weiß etwas, ich alleine entscheide.”

Schon bevor er zum Thron kam, hatte er gewarnt: “Hütet Euch vor der Zeit, in der ich die Befehle gebe.” Schon vorher, nach Bismarcks Entlassung, drohte er, jeden Widerstand gegen seinen Willen zu zerschlagen. Er alleine sei der Meister im Reich, sagte er in einer Rede im Mai 1891, und er würde keinen anderen tolerieren.

Den Prinzen von Wales informierte er um die Jahrhundertwende: “Ich bin der einzige Herr deutscher Politik und mein Land muss mir überallhin folgen.“ Zehn Jahre später erklärte er einer jungen Engländerin in einem Brief: “Meine Ideen und Gefühle den Geboten der Leute anzupassen, ist eine Sache, die in der preußischen Geschichte oder den Traditionen meines Hauses völlig unbekannt ist! Was der Deutsche Kaiser und König von Preußen für richtig und am besten hält, das tut er.”

Im September 1912 ernannte er Prinz Lichnowsky gegen den Rat des Kanzlers Bethmann Hollweg und des Auswärtigen Amtes zum Botschafter in London – mit den Worten: “Ich werde nur einen Botschafter nach London schicken der Mein Vertrauen hat, Meinem Willen gehorcht und Meine Befehle ausführt.” Und während des Ersten Weltkrieges rief er aus: “Was die Öffentlichkeit denkt, ist für mich völlig unerheblich.” [Hervorhebungen hinzugefügt] (Röhl, S. 12-13)

Der “eiserne Wille”, der Herr der Nation oder vielleicht der Welt zu sein, wurde durch seine Fähigkeit gesteigert, die Realität durch die Brille seiner Einbildung zu betrachten. Noch in seinen siebzigern – schon längst in die Niederlande geflüchtet – gelang ihm eine höchst überraschende Schlussfolgerung bezüglich der rassischen Identität seiner Feinde:

Endlich erkenne ich, was die Zukunft für das deutsche Volk bedeutet, was wir noch erreichen müssen. Wir werden die Führer des Orients gegen das Abendland sein! Ich werde mein Gemälde ‘Völker Europas’ ändern müssen. Wir gehören auf die andere Seite! Sobald wir den Deutschen bewiesen haben werden, dass die Franzosen und Engländer gar keine Weißen sind, sondern Schwarze, dann werden sie sich auf diesen Pöbel stürzen!” (Röhl, S. 13)

So hatte Wilhelm also die erstaunliche Entdeckung gemacht, dass Franzosen und Engländer Neger sind. Ein weiterer Grund für den anhaltenden Verfall der Menschheit, so der pensionierte Kaiser, sei mangelnder Respekt vor den Behörden, besonders in Bezug auf sich selbst. Die Nachricht von der Boxer-Rebellion in China fasste er als persönliche Beleidigung auf und befahl Peking “dem Boden gleichzumachen”. In seiner Angst vor der bevorstehenden sozialistischen Revolution lebte er in Fantasien, wie Hunderte von Demonstranten in den Berliner Straßen “niedergeschossen” würden und empfahl gelegentlich als geeignete Behandlung für Kriegsgefangene, sie zu Tode verhungern zu lassen.

Nicht nur sehnte er sich danach, noch während seines eigenen Lebens Rache für Beleidigungen seiner Person zu nehmen; in dem Verlangen, die Geschichte selbst buchstäblich auszulöschen, träumte er davon die zweite – vielleicht sogar die erste – Französische Revolution rückgängig zu machen – er dürstete nach “Rache für 1848 – Rache!!!” (Röhl, S. 14)

 Auch sein Sinn für Humor war eigenartig.

Während sein linker Arm aufgrund der Geburtsschäden schwach war, war seine rechte Hand im Vergleich dazu stark, und er fand es amüsant, wenn er seine Ringe nach innen drehte und dann die Hände besuchender Würdenträger so stark zusammendrückte, dass Tränen in ihre Augen traten. König Ferdinand von Bulgarien verließ einst Berlin in „glühend heißem Hass“, nachdem der Kaiser ihn in der Öffentlichkeit hart auf den Hintern geklatscht hatte. Der Großherzog Wladimir von Russland [Bruder von Zar Nicholas II.] wurde von Wilhelm mit einem Feldmarschallstab auf die Rückseite geschlagen. (Röhl, S. 15)

Seine Freunde waren sich des Humors seiner Majestät bewusst und übten ihre kreative Fantasie. Anlässlich einer Jagdexpedition in Liebenberg schlug Generalintendant Georg von Hülsen 1892 dem Grafen Görtz [“der auf der dicken Seite war”] (Röhl, S.16) vor:

Du musst von mir als Zirkuspudel vorgeführt werden! – Das wird ein Hit wie kein anderer. Denk nur dran: hinten rasiert (mit Strumpfhose), vorne ein langer Pony aus schwarzer oder weißer Wolle, hinten, unter einem echten Pudelschwanz,  eine markierte rektale Öffnung und, wenn Du bettelst, vorne dran ein Feigenblatt. Denke nur daran, wie wunderbar es wäre, wenn Du bellst, zu Musik heulst, eine Pistole abschießt oder andere Tricks machst. Das wäre einfach großartig!! “[Hervorhebungen im Original] (Röhl, S. 16)

Höflinge und Bürokraten stellten bald fest, dass solch exquisite Unterhaltung anzubieten ein bewährter Weg war, um sich die Gnade des Monarchen zu sichern, aber auf der anderen Seite trugen sie zur Verbreitung von Gerüchten bei. Was können wir nun über Wilhelms Liebesleben sagen? Wie es schon Edward Gibbon in Bezug auf Karl den Großen feststellte, hatten die beiden Kaiser gemeinsam, dass Keuschheit nicht ihre augenfälligste Tugend war. Offiziell konnte Wilhelm die Hofreporter mit den Ergebnissen seiner ehelichen Treue überzeugen, in deren Förderung die Kaiserin in regelmäßigen Abständen Söhne zur Welt brachte, insgesamt sechs Stück. Doch Wilhelm hatte auch eine gewisse Neigung, indiskrete Briefe zu verfassen – einige davon an eine wohlbekannte Wiener Madame, und wegen seiner Bereitschaft, die Angebote in eigener Person zu prüfen, wurde die weitere Aufrechterhaltung seiner öffentlichen Tugend der Sorge seiner Privatsekretäre anvertraut, die die Diskretion der Damen kauften, vertraulich für die königliche Unterhaltung sorgten oder vielleicht auch Abtreibungen arrangierten.

Wilhelm II mit seiner Frau Auguste Victoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augstenburg, und seinen sieben Kindern
Wilhelm II mit seiner Frau Auguste Victoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augstenburg und seinen sieben Kindern

Es scheint jedoch, dass solche außerehelichen Aktivitäten sozusagen rein biologischer Natur waren; Sympathie, Komfort und Entspannung fand der Monarch bei seinen männlichen Freunden, obwohl er dem Anschein nach an intimeren Ausdrucksformen dieser Freundschaften nicht teilnahm.

“In Berlin fühle ich mich nie glücklich, wirklich glücklich”, schrieb er in seinem eigenwilligen Englisch. “Nur Potsdam [die Station seines Garde-Regiments], das ist mein “El Dorado” … wo man sich frei fühlt, mit der schönen Natur um sich herum,  und so vielen Soldaten wie man will, denn ich liebe mein Regiment sehr, lauter freundliche junge Männer.” In seinem Regiment, wie er sich Eulenburg gegenüber anvertraute, fand er seine Familie, seine Freunde, seine Interessen – alles was er zuvor vermisst hatte. Vorbei waren die “schrecklichen Jahre, in denen niemand meine Individualität verstand”, wie er schrieb.

Die umfangreiche politische Korrespondenz von Philipp Eulenburg lässt keinen Zweifel daran, dass er (Eulenburg) und die anderen Mitglieder des einflussreichen “Liebenberg – Kreises”, die in den 1890er – Jahren im Zentrum der politische Bühne im Kaiserreich Deutschland standen, in der Tat homosexuell waren, wie ihr Zerstörer Maximilian Harden es glaubte.

Harden, Eulenburg und Kuno v. Moltke, Eulenburgs Liebhaber

Dies wirft natürlich die Frage auf, wo wir den Kaiser in einem imaginären “heterosexuell-homosexuellen Kontinuum” einordnen. Falls er jemals etwas hatte, das einer homosexuellen Erfahrung gleichkam,  dann in den 1880er Jahren, in derselben Zeit also wie seine zahlreichen außerehelichen Affären mit anderen Frauen. Nach einem Interview mit Jakob Ernst, dem Starnberger Fischer, dessen Aussage 1908 Eulenburgs Fall irreparabel beschädigt hatte, war Maximilian Harden überzeugt, dass er über Beweise verfüge, die, wenn sie dem Kaiser vorgelegt worden wären, genügen würden, um ihn zur Abdankung zu zwingen.

Welche Informationen genau Harden von Jakob Ernst erhalten hat, können wir nur vermuten. In mehreren Briefen aus dieser Zeit brachte Harden Wilhelm II. nicht nur mit Jakob Ernst in Zusammenhang, sondern auch mit Eulenburgs Privatsekretär Karl Kistler. Dies sind aber nur Strohhalme im Wind, keine Beweise. Aufgrund des uns derzeit vorliegenden Beweismaterials ist es wahrscheinlich klüger anzunehmen, wie Isabel Hull es formuliert hat, dass Wilhelm der homoerotischen Grundlage seiner Freundschaft mit Eulenburg nicht bewusst war und damit unfähig, die eigenen homosexuellen Aspekte seines Charakters zu erkennen. (Röhl, S. 19 – 20)

Neben diesen privaten Ablenkungen gaben die ärztlichen Beschwerden des Kaisers Anlass zur Sorge.  Aus rein medizinischer Sichtweise bedrohten die häufigen Infektionen des rechten Ohrs und der Nebenhöhlen das Gehirn und Komplikationen hinsichtlich der Stimmungen und Denkfähigkeit des Monarchen konnte nicht ausgeschlossen werden. Im Jahr 1895 schrieb der britische Diplomat M. Gosselin, der in der britischen Botschaft in Berlin beschäftigt war, an Lord Salisbury [Robert Gascoyne-Cecil, 3. Marquess of Salisbury und Premierminister], dass „wenn ein Souverän, der in der Außenpolitik des Deutschen Reiches die beherrschende Stimme besitzt, Halluzinationen und Einflüssen unterworfen ist, die sein Urteil auf lange Sicht verzerren und ihn jeden Moment zu plötzlichen Meinungsänderungen veranlassen können, die niemand vorhersehen oder sich dagegen wappnen kann“, die Folgen für den Frieden der Welt enorm sein könnten. (Röhl, S. 21)

Darin herrschte allgemeine Übereinstimmung. Lord Salisbury selbst hielt den Kaiser für “nicht ganz normal“; Premierminister Herbert Asquith sah ein “gestörtes Gehirn” bei der Arbeit; Sir Edward Grey, Britischer Außenminister, hielt Wilhelm für “nicht ganz gesund und sehr oberflächlich“; Großherzog Sergius von Russland hielt den Kaiser für” psychisch krank “und der Doyen von Berlins Diplomatischem Korps, der österreichische Militärattaché Freiherr von Klepsch-Kloth, stellte fest, dass Wilhelm “nicht wirklich gesund” sei und, wie man so sagt, „eine Schraube locker hatte“. (Röhl, S. 21 – 22) John Röhl sammelte einige weitere Zeugenaussagen:

Im Jahr 1895 beklagte sich Friedrich von Holstein, dass der “Glühwürmchen” – Charakter des Kaisers die Deutschen ständig an König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und König Ludwig II. von Bayern erinnere, die beide verrückt geworden waren.

Nach einem heftigen Streit mit dem Kaiser Anfang 1896, sagte der preußische Kriegsminister, General Bronsart von Schellendorf “dass H. M. nicht ganz normal zu sein schien und er [Schellendorf] tief besorgt über die Zukunft war.” Im folgenden Jahr schrieb Holstein, die konservative Partei denke, der Kaiser wäre “nicht ganz normal”, dass der König von Sachsen ihn für “nicht ganz stabil” erklärt habe und dass der Großherzog von Baden “auf besorgniserregende Weise über die psychologische Seite der Sache gesprochen habe, den Kontaktverlust mit der Realität.” Auch fragte Reichskanzler Fürst Hohenlohe einmal ernsthaft Bernhard von Bülow, seinen eventuellen Nachfolger, ob er “wirklich glaube, dass der Kaiser geistig normal sei?”

Solche Ansichten verbreiteten sich allgemein nach der berüchtigten Rede des Kaisers vom Februar 1897, in der er Bismarck und Moltke als “Lakaien und Pygmäen” bezeichnete. Graf Anton Monts, der preußische Gesandte in Bayern, schrieb aus München aus, dass der Kaiser eindeutig nicht mehr von normalem Geisteszustand war: “Ich entnehme den Andeutungen der Ärzte, das der Kaiser noch geheilt werden könnte, aber die Chancen dazu werden mit jedem Tag schwächer.” (Röhl, S. 22)

Wilhelm II und seine Söhne
Wilhelm II und seine Söhne

Nun wirkte sich das völlige Fehlen sinnvoller „Checks and Balances“ in der Bundesverfassung verhängnisvoll aus. Darin waren keine Verfahren für eine Machtübertragung außer dem Tod oder die freiwillige Abdankung des Monarchen vorgesehen – eine Tat die Wilhelm offensichtlich nicht in Betracht ziehen würde. So äußerte er weiterhin und ungebremst die abstrusen Meinungen, die die Weltpresse inzwischen von ihm erwartete und es war leicht genug für die Gegner Deutschlands, von der ununterbrochenen Kette der öffentlichen Fettnäpfchen und Peinlichkeiten zu profitieren, die der Kaiser zielsicher hinterließ. Bald entwickelte sich eine populäre Anschauungsweise, die Wilhelms Rücksichtslosigkeit als das Ergebnis einer spezifisch deutschen Neigung zu autoritärer Regierung, Militarismus und allgemeiner Unfreundlichkeit erklärte.

Die nicht wirklich herausragende Leistung des jungen Kaisers spaltete schließlich die nationalistische Rechte: eine Fraktion dem Monarchen verpflichtet und eine andere, die, wie bei Spaltungen üblich, nur ihre eigenen patriotischen Forderungen eskalierte, und eine Politik maximaler “deutscher Macht und Größe durch Expansion und Unterwerfung minderwertiger Menschen” forderte. (Kershaw, p. 78)

In der Praxis schmälerte diese supernationalistische Kabale die politischen Optionen einer Regierung nur, die gleichzeitig hysterisch bemüht war, antipreußische Sozialisten und Katholiken so weit wie möglich aus der Politik auszuschließen.

Die demografische Basis der Unterstützung für die Regierung drohte zu schrumpfen und Teile der “alten Ordnung” fingen an, über Krieg als probates Mittel nachzudenken – „um an ihrer Macht festzuhalten und die Bedrohung durch den Sozialismus abzuwehren.“ (Kershaw, S. 74) Der Kaiser schien nicht abgeneigt.

Für diejenigen, die zuhörten, war es ab den 1890er Jahren klar, dass für den Kaiser Krieg eher ein normales Ereignis zwischen Nationen war – er glaubte und gab dies öffentlich zu -, dass “Krieg” ein “königlicher Sport war, den erbliche Monarchen  nach ihrem Willen führen und beenden mögen.” (Röhl, S. 207) Im Zeitalter von Maschinengewehren war dies eine recht atavistische Haltung. Und hier wirkte sich des Kaisers unbeschränkte Autorität bei Ernennungen und Entlassungen so verhängnisvoll aus: bald wurden keine anderen Ratschläge mehr präsentiert, als solche, die der Zustimmung seiner Majestät sicher waren; niemand wagte es, sich ihm und den speichelleckenden Arschkriechern zu widersetzen, die die oberen Ränge der zivilen und militärischen Führung stellten und sich daran gewöhnt hatten, die Wünsche des Monarchen vorwegzunehmen.

Füsiliere in der Schlacht von Loigny 1870 – alte Schule

Auch Willis militärisches Denken war eher von den siegreichen Schlachten der Vereinigungskriege 1864 bis 1871 beeinflusst als von der modernen Realität – in den jährlichen Kaisermanövern ließ er offene Kavallerieattacken üben, die sich im Ernstfall von 1914, in einem Zeitalter der Maschinengewehre und Schnellfeuerkanonen, als purer Massenselbstmord entpuppten.

Kaisermanöver 1913 – Selbstmord 1914

Wie also hätte irgendetwas schiefgehen können im Juli 1914, als das Imperiale Irrlicht mit der Frage des Weltfriedens an sich konfrontiert war? Dies wird das Thema eines separaten Beitrags.

(© John Vincent Palatine 2019)

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