Historia Occidentalis

Ein Magazin zur Zentraleuropäischen Geschichte

Schlagwort: Wilhelm Groener

Das Massaker des John J. Pershing

US Infanterie im Angriff …

Vorhergehender Artikel: Foul Play mit Vierzehn Punkten

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Zwar gelang es der deutschen Armee noch, den Fortschritt der Alliierten Offensiven Ende Oktober zu verlangsamen, aber es war klar, dass dieser Widerstand den nächsten und letzten Akt des Dramas nur verzögerte: irgendwann wäre der Knackpunkt erreicht. Im Fall der Fälle war es des Kaisers Lieblingsspielzeug, die Hochseeflotte.

In diesem Todeskampf des Deutschen Reiches nahmen zwei Gruppen in der deutschen Marine die Sache in ihre eigenen Hände, zuerst die Admirale und danach die Matrosen. Die U – Boot Waffe war auf Anker gelegt worden, aber die Hochseeflotte blieb eine potenziell starke Macht. Erbost über die U-Boot – Entscheidung, beschlossen Scheer und die Seekriegsleitung, die Überwasserschiffe in einer letzten Offensive zu verwenden, und planten eine neue Variante der früheren erfolglosen Versuche , die Grand Fleet über einen U-Boot – Hinterhalt zu locken. Der Unterschied war diesmal, dass die Deutschen beabsichtigten, diese Schlacht auch durchzuziehen , sobald die U-Boote es geschafft hatten, die numerische Überlegenheit der Grand Fleet zu reduzieren.

Ob die Hochseeflotte die geplante Schlacht nun gewinnen oder verlieren werde, war nicht die große Sorge der deutschen Admirale; sie wollten der Grand Fleet zumindest schwere Schäden zufügen. Hipper stimmte mit Scheer überein, dass „ein ehrenvoller Kampf – auch wenn es ein Kampf auf Leben und Tod sein sollte – die Saat für eine neue, zukünftige deutsche Flotte legen würde.“ Neben der Bewahrung dieser [offensichtlich kostbaren] Ehre, könnte eine Schlacht, die der Grand Fleet schwere Schäden zufüge, auch einen günstigen Einfluss auf die Friedensverhandlungen mit Deutschland haben. (42)

Geheimgehalten vor der Reichsregierung, wollte der Plan alles, was schwamm, in den Einsatz gegen die Royal Navy zu schicken: achtzehn Schlachtschiffe vom  Dreadnought-Typ, fünf Schlachtkreuzer, zwölf leichte Kreuzer und zweiundsiebzig Zerstörer. Der taktische Plan war es, den Grand Fleet dazu zu verlocken, die Hochseeflotte über eine Barrikade von Minen und U-Booten hinweg zu verfolgen, welche die britische Übermacht genug verringern würden, den Deutschen zu ermöglichen, die Schlacht zu gewinnen oder glorios unterzugehen. Um die Aufmerksamkeit der britischen Admiralität zu fesseln, hatte Hipper, mittlerweile zum Flottenadmiral befördert, lokale Angriffe auf Häfen und Bombardements von Küstenstädten ins Auge gefasst. Eine spezielle Gruppe von Kreuzern und Zerstörern sollte die Briten aufschrecken, indem sie in die Themse-Mündung segelten und die örtliche Schifffahrt angriffen. Wenn die Grand Fleet nach Süden aufbräche, um die Belästigung zu beenden, stünden die Deutschen bereit. Scheer, jetzt oberster Marinebefehlshaber und Hipper hofften beide, dass „ ein taktischer Erfolg die militärische Position umkehren könne und die Kapitulation abwenden“. (43)

Der Plan

Dies war entweder bemerkenswerter Optimismus oder kompletter Irrsinn. Scheer genehmigte Hippers Plan am 27. Oktober und zweiundzwanzig U-Boote liefen aus, um eine Falle zu stellen. Der Rest der Flotte wurde im Jadebusen gesammelt, wo ihre unerwartete Anwesenheit Aufregung in Hülle und Fülle verursachte. Einige Fälle von Fahnenflucht waren bereits in Cuxhaven aufgetreten, und setzten sich unter den Besatzungen der Schlacht fort, die am 29. Oktober im Jadebusen ankamen. Dass die Konzentration aller großen Schiffe in einem Hafen nichts anderes als eine geplante Operation bedeuten konnte, war klar, und die Gerüchteküche bestätigte bald, dass der nächste Morgen den Befehl zum Ankerlichten bringen würde. Kein Seemann hatte Zweifel, warum. Die Besatzungen der Schlachtschiffe „König“, „Kronprinz Wilhelm“, „Markgraf“, „Kaiserin“‚ „Thüringen“ und „Helgoland“ hissten rote Fahnen und erklärten damit ihre Meuterei. „Die Seeleute auf den Schiffen hatten kein Interesse an einem ehrenvollen Tod für den Ruhm der Flotte; sie wollten ein Ende des Kampfes, Entlassung und die Erlaubnis, nach Hause zu gehen.“ (44)

SMS Thüringen war eines der ersten meuternden Schiffe

Gegen 22.00 Uhr am 29. Oktober fand Hipper die meisten Schiffe seiner Flotte außer Betrieb und als sich die Meuterei am nächsten Morgen auf den Schlachtschiffen „Friedrich der Große“ und „König Albert“ ausbreitete, musste das Auslaufen abgebrochen werden. Um weitere Unbotmäßigkeiten zu verhindern, ordnete Hipper an, die drei Schlachtgeschwader zu trennen und wieder in ihre Heimathäfen Wilhelmshaven , Cuxhaven und Kiel zurückzubeordern . „Thüringen“ und „Helgoland“ bewegten sich jedoch keinen Zoll weit, und Hipper rief ein Bataillon loyaler Marineinfanterie zu Hilfe, das die Besatzungen verhaftete, fesselte und einsperrte. (45)

Soldatenrat des Linienschiffes “Prinzregent Luitpold”.

Hippers Versuche zur Durchsetzung von Disziplin schürten das Feuer nur weiter und durch die Verschickung der Schlachtgeschwader in drei verschiedene Häfen war ihm eigentlich nur eine Weiterverbreitung der Meuterei gelungen. Als das dritte Geschwader am 1. November in Kiel ankam, wurden die Hunderte angeketteter Seeleute von viertausend rebellierenden Seemännern und Werftarbeitern begrüßt, die sich ihrerseits zu Waffen verholfen hatten, indem sie die gut sortierten Arsenale plünderten und die Freilassung der Gefangenen verlangten. Der nächste Tag sah die Errichtung von provisorischen Soldaten- und Arbeiterräten, einen Aufruf der Gewerkschaften zu einem Generalstreik, und 4. November die komplette Übernahme von Hafen und Stadt. Eine Bande von Meuterern versuchte, den kommandierenden Admiral, Prinz Heinrich von Preußen, Wilhelms Bruder, zu verhaften, der …

Matrosen in Kiel demonstrieren nach dem Aufstand 1918.

…  zur Flucht um sein Leben gezwungen wurde und sich hinter einem falschen Bart und einer roten Fahne auf seinem Auto versteckte. Trotzdem wurde das Auto verschiedentlich beschossen, der Fahrer schwer verletzt, und der Prinz gezwungen, das Steuer selbst zu übernehmen und sich schnellstens zur dänischen Grenze bei Flensburg abzusetzen. (46)

Auch die kleineren Schiffe wurden besetzt …

Bald entwickelten sich aus der zuerst lokalen Meuterei offene Aufforderungen zur Revolution, und so wie Küstenschiffe die Nachricht an die kleineren Hafenstädte weiterleiteten, breitete sich der Keim der Empörung per Eisenbahn über das ganze Land aus. Matrosen- und Soldatenräte übermittelten ihre Forderungen an die Bürger jeder Stadt , die sie betraten: einen sofortigen Waffenstillstand, die Abdankung des Kaisers und der Bildung einer neuen, demokratischen und republikanischen Regierung. Dennoch blieben die Nachrichten an vielen Stellen lückenhaft, und in dem Versuch, genau herauszufinden was in Kiel geschehen war, schickte Reichskanzler Prinz Max von Baden eine Delegation aus zwei Reichstagsabgeordneten dorthin: seinen Freund Conrad Haußmann und den ehemaligen Metzger und Journalisten Gustav Noske , einen Vertreter der Sozialdemokraten. Als die Abgesandten im Bahnhof der Stadt ankamen, wurden sie von einer großen Menge begrüßt, deren scheinbar revolutionäre Stimmung Noske überzeugte, eine improvisierte Rede zu halten, in der er im Wesentlichen den Zuhörern versprach, dass ihre Forderungen bald erfüllt werden sollten. Am selbigen Abend konnte er Berlin über die Details des Aufstandes informieren, hinzufügend, dass die Menge ihn zum revolutionären Gouverneur Schleswig-Holsteins gewählt habe. (47)

Die Revolution in Kiel

In der Zwischenzeit verschlimmerte sich das menschliche Leiden an der Westfront wesentlich durch die Rückkehr der sogenannten  Spanischen Grippe, die, trotz ihres Namens, ihren Ursprung wohl in Fort Riley, Kansas, zu haben schien. (48) [FN 1] Es war schon im Sommer zu einem frühen Ausbruch der Seuche gekommen, der die bereits geschwächten deutschen Linien etwa 400.000 Soldaten kostete und eine vergleichbare Zahl der Alliierten, aber der zweite Ausbruch erwies sich als weitaus ansteckender und tödlicher. Die Ankunft amerikanischer Truppentransporter brachte die Epidemie zu den großen Ausschiffungshäfen; die ankommenden Soldaten infizierten die Franzosen, die wiederum die Briten infizierten, und deren beide Kriegsgefangenen wiederum die Deutschen.

Soldaten aus Fort Riley in Camp Funston

[FN 1] Die Influenza – Epidemie von 1918/19 verdient zweifellos einen eigenen Blog – Eintrag. Bitte beachten Sie hier den Artikel in der Wikipedia.

Merkwürdigerweise schlug die Krankheit am schlimmsten bei den Stärksten zu, vor allem bei jungen Männern in ihren besten Jahren. Truppentransporter, beladen mit eng zusammen gepackten Männern, wurden zu schwimmenden Todesfallen. Ein amerikanischer Konvoi hatte bei seiner Ankunft in Brest am 8. Oktober, in der Mitte der Maas-Argonne-Offensive, 4.000 Menschen durch die Grippe verloren, wovon 200 bereits auf See bestattet worden waren. Zweihundert weitere Kranke von der USS Leviathan [der beschlagnahmten deutschen ‘Vaterland‘] starben innerhalb weniger Tage. …

Die Epidemie stellte ein Dilemma für Präsident Wilson dar. Da Militärlager für die Verbreitung der Infektion wie Gewächshäuser wirkten, wurde der Auftrag für die Einberufung von 142.000 Menschen im September abgesagt. Sollte er, fragte sich Wilson, auch die Einschiffung weiterer Truppen abbrechen?

Am 8. Oktober traf er sich mit dem ziemlich ruppigen Stabschef der Armee, General Peyton March , um ihn um seine Ansicht zu bitten. Beiden Männern war klar, dass Soldaten in die überfüllten Schiffe zu stopfen ein Todesurteil für Tausende von ihnen bedeutete. Aber Pershing forderte verzweifelt Ersatz an, zumal 150.000 seiner Männer mit Grippe ausgefallen waren. Nur zwei Tage vor dem Treffen Wilsons und Marchs hatte Prinz Max seinen Friedensappell an den Präsidenten gemacht. Wilson und March wussten, dass weitere Verschiffungen, die im Moment auf durchschnittlich 50.000 wöchentlich angeschwollen waren, der sicherste Weg waren, Deutschland zu besiegen. Wie würden die Deutschen reagieren, wenn sie eine Verminderung dieses Drucks erkannten, falls die amerikanische Arbeitskraft-Pipeline geschlossen wurde? March sagte Wilson „Jeder Soldat, der [an der Influenza] stirbt, hat sicherlich genauso seinen Teil zum Krieg beigetragen wie sein Kamerad, der in Frankreich gestorben ist. Der Versand der Truppen darf auf keinen Fall gestoppt werden.“ Die Truppentransporter fuhren weiter. (49)

Am 27. Oktober teilte Prinz Max Präsident Wilson mit, dass alle seine Forderungen erfüllt werden würden. Technisch gesehen war es natürlich nicht seine eigene Entscheidung , sondern die seines Vetters Wilhelm, aber Max hatte vorsichtigerweise unterlassen, den Kaiser von der Klausel in Wilsons Demarche vom 23. Oktober zu informieren, die die Abschaffung der Monarchie zu fordern schien. Diese – besondere – Brücke würde er überqueren, wenn es der Moment erforderte. Als die Türkei am 30. Oktober um einen Waffenstillstand bat und Österreich am 4. November, fand sich Deutschland im Krieg allein. Die Front hielt noch, wie durch ein Wunder, aber in der Luft hing der Geruch nach Revolution. Am 29. Oktober verließ Wilhelm Berlin in Richtung des Oberkommandos in Spa, in dem fragwürdigen Glauben, dass seine Präsenz in der Nähe der Front den Mut der Soldaten heben würde. Aber es war die Abwesenheit, nicht die Gegenwart, der Person des Kaisers, die eine Art rebellischer Entelechie in der Hauptstadt freisetzte, und die endgültige, entscheidende und irreparable Auflösung des Ancien Régime nach sich zog.

„Die Roten strömen mit jedem Zug aus Hamburg nach Berlin hinein“, schrieb Graf Harry Kessler, eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, Diplomat und Sozialdemokrat, in sein Tagebuch am 6. November. „Ein Aufstand wird hier für heute Abend erwartet. Heute morgen wurde die russische Botschaft überfallen wie eine anrüchige Kneipe und Joffe [der Botschafter] hat sich mit seinen Mitarbeitern abgesetzt. Jetzt sind wir quitt mit diesem bolschewistischen Zentrum in Berlin. Aber vielleicht müssen wir diese Leute doch noch zurückrufen.“ (50)

In der ersten Woche des Novembers wurde die Meuterei der Matrosen von der Unbotmäßigkeit vielen Garnisonen gefolgt, deren mangelnde Bereitschaft, den ungeliebten preußischen Staat zu unterstützen, öffentliche Aufstände erleichterte. Lokale Anarchisten, Spartakisten und Unabhängige Sozialdemokraten stritten sich über verschiedene Formen der Revolution, und Räte übernahmen die Verwaltung der meisten großen Städte. In der ersten Woche im November wurden Rote Fahnen durch die Straßen von Hamburg, Bremen, Köln, DuisburgFrankfurt und München getragen. Aber es war eine merkwürdig stille Rebellion, die durch die Straßen zog – alle Berichte stimmen darin überein; Gewalt, ja sogar leidenschaftliche Diskussionen waren seltsam abwesend. Das jedoch änderte sich schnell genug. Der Spartakusbund,  deutsche Bolschewisten in Verkleidung, hatten unauffällig während der ersten Woche im November ihre Anhänger in der Hauptstadt konzentriert, während ihre Führer, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die deutsche Revolution vorbereiteten.

Karl Liebknecht predigt die Revolution …

Liebknechts Vater Wilhelm war ein persönlicher Freund von Karl Marx gewesen und erreichte sozialistische Heiligsprechung als Mitbegründer der SPD und Herausgeber der Parteizeitung „Vorwärts“. Sein Sohn studierte Jura und Wirtschaft in Leipzig und Berlin, bevor er im Wesentlichen als Anwalt für die sozialistische Bewegung tätig wurde. Er wurde 1912 für die SPD in den Reichstag gewählt und war das einzige Mitglied des sozialistischen Lagers, das im August 1914 gegen die Kriegskredite stimmte. Als ihm klar wurde, dass der Rest der Partei zumindest vorübergehend die Regierung und damit den Krieg unterstützen würde, begann Liebknecht nach Sympathisanten außerhalb der Partei zu suchen.

Zu diesem Ziel gründete er den „Spartakusbund“, die Liga des Spartakus, benannt, natürlich, nach dem thrakischen Sklaven Spartacus, der den Aufstand gegen Rom von 72 bis 70 BC angeführt hatte. Die „Spartakusbriefe“, die Antikriegszeitung der Liga, wurden ziemlich bald verboten, und ihr Gründer und Herausgeber fand sich an der russischen Front wieder, wo er sich zu kämpfen weigerte und schließlich einem Beerdigungskommando zugeteilt wurde. Gesundheitlicher Gründe halber aus dem Dienst entlassen, ging er wieder direkt zur Antikriegspropaganda zurück und leitete die sozialistische Friedensdemonstration am Maifeiertag 1916 durch die Straßen Berlins. Dieses Mal wurde er für vier Jahre wegen Hochverrats ins Gefängnis geworfen, aber bald aufgrund Prinz von Badens Amnestie für politisch Gefangene im Oktober 1918 begnadigt. Sobald er zurück auf den Straßen war, nahm er „seine Führung des Spartakus, in Partnerschaft mit den polnischen Aktivistin Rosa Luxemburg“ wieder auf. (51)

Rosa Luxemburg

Frau Luxemburg war schon früh als Lehrling in das Geschäft der Anzettelung von  Aufständen eingetreten; sie war in den illegalen sozialistischen und anti-zaristischen Bewegungen Vorkriegs-Russlands aktiv gewesen, seitdem sie eine Schülerin war. (52) Rechtzeitig der Aufmerksamkeit der Ochrana entronnen, fand sie sich in der Schweiz wieder, wo ein wohlhabenden Liebhaber ihr ein Studium an der Züricher Universität ermöglichte und half, die illegalen sozialistischen Parteien in Polen und Litauen zu unterstützen. Sie war vielleicht die extremste sozialistische Aktivistin außerhalb Russlands in diesen Jahren und befürwortete die globale und rücksichtslose Revolution. Sie wurde Deutsche per Heirat im Jahre 1903, trat der SPD bei, und fing an, ihr politisches Gewicht hinter den radikalen Flügel zu stellen. Schließlich wurde sie als Faktotum der Weltrevolution bekannt und regelmäßig ins Gefängnis geworfen, von ihrer alten Schweizer Flamme gerettet und wieder eingesperrt. Sie tat sich mit Liebknecht unmittelbar nach ihrer Freilassung durch von Badens Amnestie zusammen und begann die revolutionäre Bürokratie des Spartakusbunds zu organisieren.

Dieses giftige Pärchen, wie Lenin und Trotzki in Russland, sah die gemäßigten Sozialisten der SPD als ihre Hauptfeinde. „Die Partei muss durch die Rebellion der Massen von unten wieder neu aufgebaut werden“, schrieb Luxemburg. Ihre Verbündeten war die pazifistische Linke, die sich von der SPD im Jahr 1917 abgespalten und eine eigene Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD gebildet hatte –  nur geringfügig weniger extrem als der Spartakusbund. Die gemäßigten Sozialisten reagierten, indem sie in „Vorwärts“ höhnisch die „pathologische Instabilität“ des Spartakusbunds mit ihrem eigenen „klaren Kopf und vernünftiger Ruhe“ verglichen. Aber während die gemäßigten Sozialisten sich vernünftig ruhig verhielten, fingen Abordnungen der Spartakisten die aus dem Krieg zurückkehrenden Truppen an den Bahnhöfen ab, um Gewehre, Pistolen und Maschinengewehre zu erbetteln oder zu kaufen. (53)

Inzwischen sah sich Prinz Max mit dem Problem konfrontiert, wie der Krieg und die Monarchie zu beenden wäre, ohne dabei unfreiwillig eine Revolution zu verursachen. Er konzentrierte seine Anstrengungen auf drei entscheidende Fragen: den Ersatz von Kriegsdiktator Ludendorff, die Bildung einer Regierung die in der Lage wäre, das Land friedlich durch die vielen absehbaren Veränderungen zu führen, und, als Voraussetzung für das letztere, die Abdankung seines Vetters Wilhelm. Am 9. November beförderte er General Wilhelm Groener, den Sohn eines württembergischen Unteroffiziers und Transport- und Versorgungsspezialisten, auf Ludendorffs ehemaligen Posten als Generalstabschef und übertrug– völlig illegal – sein eigenes Amt und Autorität als Reichskanzler auf den siebenundvierzig Jahre alten ehemaliger Sattler und Vorsitzenden der SPD, Friedrich Ebert . Die noch verbleibende Aufgabe war die schwerste. Keine bürgerliche, und noch viel weniger eine von Sozialisten geführte Regierung, könne ihre Autorität ausüben, solange der diskreditierte Kaiser noch im Amt verblieb.

Zu dieser Zeit hielt sich Wilhelm noch in Spa auf, den kaiserlichen Kopf voller törichter Phantasien, wie er, sobald der Waffenstillstand unterzeichnet war, seine treuen Armeen zurück nach Deutschland führen würde, um die Ordnung wiederherzustellen. Wie Prinz Max in Berlin zu Recht erkannte, war eine Rückkehr Wilhelms weit davon entfernt, eine Lösung sein – sie war eher das Problem. Berichten zufolge hatten in Metz, dem nächste Ziel der alliierten Offensive, bereits 10.000 deutsche Soldaten gemeutert, einen Soldatenrat gebildet, und die Stadt übernommen. Ähnliche Umstürze der alten Ordnung brachen in ganz Deutschland aus. … Den Frieden ersehnenden Deutschen war klar, dass die einzige Handlung, die die Massen vom Überlaufen in das radikale Lager abhalten würde, die Entfernung des in Verruf geratenen Monarchen war. (54)

In den letzten zehn Tagen seit seiner Ankunft in Spa hatte Wilhelm erfolgreich jeden Bezug zu den Realitäten vermieden und darauf bestanden, dass eine Abdankung indiskutabel war. Nicht an Widerspruch gewohnt, weigerte der Kaiser sich, den Erklärungen des Boten von Prinz Max, dem preußischen Innenminister Drews zuzuhören. Er habe „nicht die Absicht, wegen einiger hundert Juden und tausend Arbeitern dem Thron zu entsagen. Sagen Sie das Ihrem Meister in Berlin.“ (55)

Baden erkannte , dass er persönlich mit seinem Vetter sprechen musste. Am Abend des 8. November rief er Wilhelm am Telefon an und versuchte, durch des Kaisers Starrsinn zu dringen, indem er klarstellte, dass ohne Wilhelms Abdankung ein Bürgerkrieg das Land verwüsten würde. Der Kaiser glaubte ihm kein Wort. Es war undenkbar, erwiderte er, dass die Armee sich weigern würde, ihm zu folgen. Da es, darüber hinaus, Prinz Max gewesen war, der Wilson um einen Waffenstillstand gebeten hatte, nicht Wilhelm selbst, fühlte sich der Kaiser gänzlich unbeteiligt. „Sie haben um den Waffenstillstand gebeten“, sagte er, „also werden auch Sie die Bedingungen akzeptieren müssen.“ (56) Am nächsten Morgen, am 9. November, erschien die Führung der Armee, Hindenburg und Groener, im Hotel Britannique in Spa, um ihrem Souverän einen letzten und notwendigen Besuch abzustatten.

Am 9. November, traf der Kaiser in Spa die Führer seiner Armee, der Institution, durch die die Hohenzollern-Dynastie an die Macht gekommen war, und die deren Würde und Autorität immer aufrechterhalten hatte. Wilhelm II glaubte immer noch , dass, welche Akte der Untreue auch immer von den zivilen Politikern in Berlin begangen würden, welche Angriffe auf Ruhe und Ordnung auch immer die Straßen störten, seine Untertanen in Feldgrau würden ihrem Eid des militärischen Gehorsams treu bleiben. Auch an diesem 9. November fuhr er fort sich einzureden, dass er die Armee gegen das Volk einsetzen könne und damit das Königshaus retten; wenn er nur Deutschen befahl gegen andere Deutsche zu kämpfen.

Seine Generäle wussten es besser. Hindenburg, der hölzerne Riese, hörte ihn in aller  Stille an. Groener, der praktisch denkende Transportoffizier, Sohn eines Sergeants, der nun Ludendorff ersetzt hatte, fand den Mut zu sprechen. Er wusste, aus Umfragen unter fünfzig Regimentskommandeuren, dass die Soldaten jetzt „nur noch eins wollten – einen Waffenstillstand zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ Der Preis dafür, für das Haus Hohenzollern, war die Abdankung des Kaisers. Der Kaiser hörte ihm mit steigender Ungläubigkeit zu. Was ist, fragte er, mit dem Fahneneid, dem Eid auf die Farben des Regiment, der jeden deutschen Soldaten band, eher zu sterben, als nicht zu gehorchen? Groener sprach das Unaussprechliche aus. „Heutzutage“, sagte er, „besteht der Fahneneid nur aus bedeutungslosen Worten. “(57)

In der Reichskanzlei in Berlin, nicht in der Lage, den Ereignissen in entfernten Spa zu folgen, konferierte von Baden mit Ebert über die Situation auf der Straße. Ebert warnte, dass, wenn die Abdankung sich weiter verzögere, ein Staatsstreich von Spartakus und USPD in jeder Stunde wahrscheinlicher werde. Da Prinz Max sich im Klaren darüber war, dass die Monarchie wohl oder übel nicht mehr zu halten war, diktierte er, der Wirklichkeit vorgreifend, einem Mitarbeiter der Wolff-Telegraphen-Agentur in Berlin die Meldung, „Der Kaiser und König hat sich entschlossen, auf den Thron zu verzichten.“ ( 58)

Feuerwerk der deutschen Hochseeflotte in Wilhelmshaven nach der Abdankung des Kaisers
“Der Kaiser hat abgedankt!” – 2. Extra-Ausgabe des “Vorwârts” vom 9. November 1918.

Als das sensationelle Telegramm binnen weniger Minuten zur Aufmerksamkeit der Konferenz in Spa gebracht wurde, explodierte Wilhelm in einer Philippika gegen alle Verräter, zivile und militärische, aber war schließlich gezwungen zu erkennen, dass das Spiel aus war. Um 3:30 Uhr am Samstag, den 9. November 1918, gab er den Thron auf, und das Ende des Zweiten Kaiserreichs war gekommen; 47 Jahre und 10 Monate nach seiner Gründung im Spiegelsaal von Versailles. Auf Hindenburgs Rat verließ Wilhelm Spa in den frühen Morgenstunden des 10. November, und ging ins Exil auf Schloss Amerongen in den Niederlanden, den Sitz des Grafen Godard Bentinck, der für die nächsten 23 Jahre sein Gastgeber sein würde. (59)

Wilhelm II an der holländischen Grenze auf dem Weg ins Exil

Inzwischen entwickelten sich die Ereignisse in der Hauptstadt Hals über Kopf. Philip Scheidemann, der stellvertretende Vorsitzende der SPD, war von der Reichskanzlei in den Reichstag gestürmt, um seine Kollegen über Eberts Termine zu informieren. Während eines wohlverdienten Mittagessens in der Cafeteria wurde ihm mitgeteilt, dass Spartakus und USPD ihre Anhänger zum Stadtpalast des Kaisers zusammengerufen hatten, angeblich zur Verkündigung der Revolution und Proklamation einer deutschen Sozialistischen Sowjetrepublik. Geschwindigkeit war nun von fundamentaler Wichtigkeit.

Philipp Scheidemann am Fenster der Reichskanzlei in Berlin bei der Proklamation der Deutschen Republik.

Scheidemann stürmte auf die Terrasse vor der Reichstagsbibliothek, wo er von einer zwischen Hoffnung und Furcht schwankenden Menge bejubelt wurde. Improvisierend informierte Scheidemann die Menschen über die Ernennung Eberts zum Kanzler und die Schaffung einer neuen, republikanischen und demokratischen Regierungsform und beendete seine kurze Ansprache mit den Worten: „Die verfaulte alte Monarchie ist zusammengebrochen. Lang lebe das Neue! Es lebe die deutsche Republik!“(60) In der Zwischenzeit waren Delegationen der Spartakisten in Fabriken, Kasernen und Kasernen erschienen und hatten eine Menge von Tausenden von Anhängern mobilisiert, die zum Königlichen Schloss marschierten. Liebknecht begrüßte die revolutionäre Versammlung vom Balkon des Gebäudes herab, von wo der Kaiser früher seine Untertanen adressiert hatte:

„ Kameraden!“, rief er. „Die rote Fahne fliegt über Berlin! Das Proletariat marschiert. Die Herrschaft des Kapitalismus , die Europa in einen Friedhof verwandelt hat , ist vorbei. Wir müssen unsere Stärke sammeln, um eine neue Regierung der Arbeiter und Bauern zu bilden, und eine neue Ordnung des Friedens und die Freude und Freiheit nicht nur für unsere Brüder in Deutschland, sondern für die ganze Welt zu erschaffen. Wer entschlossen ist, den Kampf nicht einzustellen, bis die freie sozialistische Republik und die Weltrevolution verwirklicht ist, soll seine Hand heben und schwören!“ Die Menge brüllte zurück ‘Wir schwören’“. Aber Liebknecht kam zwei Stunden zu spät. (61)

Ebert hatte schnell gehandelt und bereits die USPD, Liebknechts einzig mögliche Unterstützer, davon überzeugt, in eine Koalition mit der SPD einzutreten, indem er der kleineren Partei einen gleichen Anteil bot, drei von sechs Sitzen in der provisorischen Regierung. Die neue Exekutive nannte sich „Rat der Volksbeauftragten“  und es wurde erwartet, dass sie sich die Verwaltung mit dem Arbeiter- und Soldatenrat der Hauptstadt teile, bis eine Nationalversammlung eine Verfassung erlassen und anschließend eine legitime Regierung beauftragen konnte. Ebert vorsichtiges Manövrieren überzeugte auch die liberalen und katholischen Interessen in der Hauptstadt und in weiten Teilen des Landes, die früher gefürchtete SPD als tragende Säule der neuen Republik zu unterstützen und damit hatte die neue Regierung zumindest die Legitimität populärer Unterstützung.

Dies alles unter der Voraussetzung, dass die Revolution in Schach gehalten werden könne. Dies schien in der Tat der Fall zu sein: außer ein paar Scharmützeln am Samstagabend und Sonntag, dem 10. November, blieb Berlin ruhig, und nachdem die Frage einer deutschen Republik jetzt aus dem Bereich der Möglichkeit zur Wirklichkeit geworden war, richteten sich die Augen der Nation zurück an die Westfront. Der Krieg war noch im Gange, und das Alliierte Oberkommando hatte bereits die nächste Offensive geplant; gegen Metz, am 14. November, und weitere Angriffe waren bis weit in das Jahr 1915 vorgesehen.

Der amerikanische Oberbefehlshaber John J. „Black Jack“ Pershing, der jetzt fast zwei Millionen „Doughboys“ unter seinem Kommando hatte, ersehnte sich eine baldige Vermehrung seines militärischen Prestiges durch die Eroberung von Sedan, das bei weitem die attraktivste Ziel in dem südöstlichen Teil der Front war. Es war die Stadt, wo die deutsche Armee die Franzosen im Jahr 1870 geschlagen und Napoleon III und 100.000 Poilus zu Kriegsgefangenen gemacht hatte.

Matthias Erzberger

Inzwischen hatte Prinz Max am 7. November eine Delegation für die Aushandlung des Waffenstillstands zu den französischen Gräben in der Nähe von Haudroy entsandt. Die Abordnung wurde von Matthias Erzberger geleitet, dem Vorsitzenden der deutschen katholischen Zentrumspartei, die von Badens informelle Regierung unterstützte. Er war ein bekannter Pazifist und das einzige bekannte Gesicht in der deutschen Gesandtschaft, die, mit Ausnahme von ihm selbst, aus Funktionären der mittleren Ebene aus dem Auswärtigen Dienst, Armee und Marine bestand. (62) Die Botschaft wurde mit dem Zug zu einem Eisenbahnwagen im Wald von Compiègne transportiert, fünfundsechzig Kilometer nordöstlich von Paris, und mit einer erwartet schroffen Behandlung durch Foch und General Weygand konfrontiert. Die Waffenstillstandsbedingungen waren wie folgt:

Marschall [Ferdinand] Foch vor seinem Salonwagen im Walde von Compiégne, Der zweite von links ist [Maxime] Weygand.

Alle besetzten Gebiete in Belgien, Luxemburg und Frankreich sowie Elsaß-Lothringen, seit 1870 von Deutschland besetzt, müssen innerhalb von vierzehn Tagen evakuiert werden; die Alliierten würden Deutschland westlich des Rheins und Brückenköpfe am Ostufer des Flusses in dreißig Kilometer Tiefe besetzen; alle deutschen Truppen müssen aus Österreich-Ungarn, Rumänien und der Türkei zurückgezogen werden und Deutschland hat 10 Schlachtschiffe, 6 Schlachtkreuzer, 8 Kreuzer und 160 U – Boote an alliierte oder neutrale Häfen auszuliefern. Sie muss alle schweren Waffen abliefern, darunter 5.000 Artilleriegeschütze, 25.000 Maschinengewehre und 2.000 Flugzeuge.

Die nächste Forderung versetzte die deutsche Delegation in tiefste Verzweiflung. Obwohl die Hungersnot im Lande wütete, beabsichtigten die Alliierten die Transportkapazitäten des Landes durch die Fortsetzung der Seeblockade und Konfiszierung von 5.000 Lokomotiven, 150.000 Eisenbahnwaggons und 5.000 Lastwagen zu lähmen. Weygand leierte vierunddreißig Bedingungen herunter, von denen die letzte Deutschland für den Krieg verantwortlich machte und Reparationen für alle Schäden forderte. (63)

Frühe französische Pläne für eine Teilung Deutschlands

Der deutschen Delegation wurde eine 72-Stunden-Frist gewährt und die Gelegenheit eingeräumt, die alliierten Forderungen per Funk an Berlin zu vermitteln. Erzberger war sich bewusst, dass die auferlegten Bedingungen viel zu scharf waren, um dem Radio anvertraut zu werden, welches abgehört werden könnte, und liess Prinz Max lediglich ausrichten, dass ein Kurier auf dem Weg sei. Dann bat er um eine vorläufige Einstellung des Kampfes, bis die Antwort empfangen werden könne, und wies darauf hin, dass damit viertausend Leben oder mehr pro Tag gerettet werden können. Um Pershing einen Gefallen zu tun, der wütend war, dass seine großer Entwurf der Eroberung Deutschland nun vereitelt schien und zur höheren Ehre der amerikanischen Expeditionary Forces und seiner eigenen auf Kampf bis zur letzten Minute bestand, weigerte sich Foch, das Gemetzel einzustellen.

Die Erzberger-Mission übernachtete im Wald von Compiègne in der Nähe von Fochs Eisenbahnwaggon und entwarfen Protestbriefe, die, wie sie hofften. vielleicht einen mäßigenden Einfluss auf die alliierten Bedingungen zeitigen würden. Um 8 Uhr abends am 10. November erhielten sie einen französischen Bericht über eine abgefangene Nachricht aus Berlin, die Erzbergers Vollmachten bestätigte und ihn ermächtigte, das Instrument des Waffenstillstandes zu unterzeichnen.

Danach wurde eine zweite Nachricht Hindenburgs empfangen, die die Echtheit des ersten Signals bestätigte und Erzberger anwies zu versuchen, im Interesse der hungernden Frauen und Kinder um die Aufhebung der Seeblockade nachzusuchen. Um 2 Uhr am nächsten Morgen, den 11. November, wurde die deutsche Delegation zurück in den Eisenbahnwaggon zu einer zweiten Runde Gespräche geführt.

Foch blieb jedoch unnachgiebig, und die einzige Mäßigung der Konditionen. die Erzberger erreichte, war, dass die Alliierten „die Versorgung Deutschlands während des Waffenstillstands in Erwägung zögen, sollte diese als erforderlich eingestuft werden.“ (64) Der Waffenstillstand wurde kurz nach 5.00 Uhr morgens unterzeichnet, mit Wirkung von 11.00 Uhr des gleichen Tages, also in sechs Stunden, und die Sitzung wurde unterbrochen. Alles was die Soldaten auf beiden Seiten des Drahtes nun tun mussten, war noch sechs Stunden in ihren Gräben zu verweilen und das Abschlachten wäre vorbei.

Erzberger bei der Unterzeichnung

Das heißt, für alle mit Ausnahme der AEF, die von Pershing angewiesen wurden, die für diesen Tag geplanten Angriffe ohne Berücksichtigung des Waffenstillstandes um 11:00 Uhr wie geplant fortzusetzen. Da Foch die Bedingungen des Waffenstillstands allen alliierten Kommandanten mitgeteilt hatte – darunter natürlich auch Pershing – war schon im Vorfeld klar, dass aller Boden, der den Deutschen in so einer Last-Minute-Offensive abgerungen werden könne, von den Deutschen ohnehin innerhalb zweier Wochen aufgeben werden musste.

Pershing hatte seine Regiments- und Divisionskommandeure darüber informiert, dass ein Waffenstillstand mit Wirkung 11.00 Uhr in Kraft treten würde, aber befahl seinem Stabschef, dass von 5.00 bis 11.00 Uhr, die AEF „ jeden Vorteil aus der Situation“ ziehen sollte. (65) Neun der sechzehn US Divisionskommandeure an der Westfront interpretierten das Fehlen spezifischer Befehle als Anreiz, die geplanten Angriffe zu starten; sieben verzichteten darauf, um nicht sinnlos ihrer Männer Leib und Leben zu gefährden.

Also griffen neun US-Divisionen den Feind am Morgen des 11. November an und da die Deutschen gezwungen waren, sich zu verteidigen, ob sie wollten oder nicht, wurden fast 11.000 Opfer der Gesamtheit der Kriegsverluste unnötig hinzugefügt. Mit mehr als 2700 Toten am Ende dieser wenigen Stunden übertraf dieser letzte halbe Tag die durchschnittliche tägliche Verlustrate von 2.000 Toten bei weitem.

Betrachtet man diese Verluste in der richtigen Perspektive, so wurden während der  D-Day-Invasion in der Normandie am 6. Juni 1944, fast 26 Jahre später, Gesamtverluste um die 10.000 (für alle Seiten) berichtet. Also waren die Gesamtverluste des (halben) Waffenstillstandstags fast 10 Prozent höher als die am D-Day. Es gab jedoch einen großen Unterschied. Die Männer, die die Strände der Normandie erstürmten, kämpften um den Sieg. Die Männer des Waffenstillstandstags starben in einem Krieg, der bereits entschieden war. (66)

Um 11:00 Uhr am 11. November 1918 beendeten die Kanonen das Feuer entlang der Westfront. Aber es war erst in der Zeit nach dem großen Konflikt, dass die Mitglieder der alten Kaiserhäuser realisierten, für wie lange schon – in Wahrheit –  sich ihre Relevanz und Autorität vermindert hatte, ohne dass sie es bemerkten. Denn es hatte sich herausgestellt, dass die Macht der Hohenzollern, Habsburg und Romanov-Dynastien nicht erst im Februar 1917 oder November 1918 beendet war, sondern in Wirklichkeit bereits im Sommer 1914 oder sogar noch früher – in ihrem Betreiben, den alten Kontinent in unnötigen Krieg und Pestilenz zu treiben, hatten sie, ach, die Schatten des Nationalismus und Sozialismus übersehen, die sich in ihrem Rückspiegel zusammenbrauten – eifrig darauf aus, das imperiale Erbe zu übernehmen.


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[42] [43] [44] [45] Massie, Robert K., Castles of Steel, Ballantine Books 2003, ISBN 0-345-40878-0, S. 773, 775, 775, 776

[57] Keegan, John, The First World War, Vintage Books 2000, ISBN 0-375-40052-4361, S. 418-419

[48] [49] [54] [55] [56] [58] [59] [62] [63] [64] [65] [66] Persico, Joseph, 11th Month, 11th Day, 11th Hour, Random House 2004, ISBN 0-375-50825-2, S. 303, 304-5, 315-16, 316, 317, 318, 318, 306, 307-8, 323, 325, 378-9

[46] [47] [50] [51] 52] [53] [60] [61] Read, Anthony, The World on Fire, Norton Books 2008, ISBN 978-0-393-06124-6, S. 26, 27, 28, 29, 29, 30, 32, 32

(© John Vincent Palatine 2015/19)

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Die Häresie des Schlieffen-Plans


Update: Dieser und der folgende Beitrag werden demnächst unter Berücksichtigung des neuen Buches “Der Weg in den Ersten Weltkrieg – Das Deutsche Militär in der Julikrise 1914” von Anscar Jansen ergänzt – darin eine erste Analyse des bisher kaum bekannten Memorandums von Erich von Falkenhayn zur Lage 1914.


Folgender Beitrag: Moltkes Kriegsplan 1914


Vielleicht das berühmteste – und am meisten fehlinterpretierte militärische Dokument der Weltgeschichte – aber nicht, wie oft behauptet, die Blaupause für 1914 – ist das sogenannte “Große Memorandum” ( auch als “Schlieffen-Plan” bekannt), des deutschen Generalfeldmarschalls und Generalstabschefs Alfred Graf von Schlieffen – datiert auf 1905, dem Jahre seiner Pensionierung, aber wahrscheinlich erst 1906 fertiggestellt. Es war eine Denkschrift – eine militärpolitische Stellungnahme, die mehrmals das Thema der (Schlieffens Meinung nach) dringend nötigen Vergrößerung des deutschen Heeres behandelte – zu einer Zeit als ein Großteil des Budgets an die Flotte ging. Es war kein aktueller Aufmarsch-, geschweige denn ein Mobilisierungsplan. Link zur PDF – File

Dieses Bild zeigt 1914, nicht den Plan an sich, der lediglich durch die gestrichelten grauen Linien angedeutet wird.

Anmerkung des Verfassers: Der geneigte Leser möge bitte beachten Sie, dass dieser Beitrag das originale Große Memorandum des Grafen Schlieffen von 1905 behandelt – nicht was im Jahr 1914 passierte. “Was wäre, wenn” Betrachtungen a posteriori sind also in diesem Zusammenhang nicht hilfreich.

Die anvisierte Kriegsführung wurde auf beiden Seiten von offensiver Grundhaltung bestimmt – die Generäle glaubten, mit ausreichender Artillerieunterstützung jede Frontlinie durchbrechen zu können.

Der “Schlieffen-Plan” ist, wie jedes andere Dokument, in dem geschichtlichen Rahmen und Zusammenhang zu sehen, indem es entstand. Zwei Argumente sind hierbei besonders zu beachten: (1) Der Plan entstand aus einer bestimmten Tradition – der des preußischen Generalstabs, schnelle Feldzüge für begrenzte Ziele zu planen und durchzuführen, was 1866 und 1870/71 so gut geklappt hatte, und (2) niemand hatte eine Alternative. Holger Herwig, mit dem dieser Autor nicht unbedingt in allem übereinstimmt, argumentierte 2003 in dem Sammelband “The Origins of World War I”, Cambridge University Press, ISBN 0-521-81735-8, S. 155:

Den Kritikern von Schlieffen fehlte es jedoch an einer brauchbaren Alternative. Ihre Vision (oder Angst) eines zwischen sieben und dreißig Jahre andauernden Volkskrieges war inakzeptabel – für Kaiser, Generäle, das Parlament und die Nation. Das Zweite Reich war nicht das Dritte – eine totale Mobilisierung für totalen Krieg war für alle Anathema.
Würde man Schlieffens Blaupause eines kurzen Krieges für begrenzte Ziele – eine Strategie, die vor allem seit den Erfolgen von 1866 und 1870/71, tief in den preußischen militärischen Annalen verwurzelt war – a priori ablehnen, würde das die ganze Existenz und Berechtigung des Kriegshandwerks, wie Historiker Gerhard Ritter es nannte (und auf das der Generalstab so stolz war), ad Absurdum führen. Um es krass auszudrücken, müsse man folglicherweise zugeben, dass der gepriesene preußische Generalstab keine kurzen und erfolgreichen Vernichtungskriege mehr führen könne, was bedeuten würde, dass
Krieg an sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine gangbare Option mehr war. Für eine derart radikale Idee gab es in Deutschland nur wenige Abnehmer.

Also musste es Krieg sein. Nachdem der Erste Weltkrieg jedoch verloren war, wurde in verschiedenen Nachkriegswerken deutscher Offiziere, so von Hermann von Kuhl, Gerhard Tappen, Wilhelm Groener und einer Truppe von Historikern des Reichsarchivs unter der Regie des ehemaligen Oberstleutnants Wolfgang Förster, eine These oder Erzählung entwickelt, die in etwa besagte:

I. Dass, schon ab dem Jahre 1905, der ehemalige Chef des deutschen Generalstabs, Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen, einen Operationsplan für den Krieg im Westen konzipiert hatte, der den Sieg so gut wie garantierte, und

II. Dass das Scheitern von 1914 das Unvermögen seines Nachfolgers als  Generalstabschef, Generaloberst Helmuth von Moltkes des Jüngeren war,  den Plan korrekt auszuführen, was zum Verlust des Weltkrieges führte.

Die  frühe Nachkriegsgeschichte hat die These ohne rechten Widerstand hingenommen, auf Treu und Glauben sozusagen – vielleicht weil der Sieg von 1870/71 viele Theoretiker davon überzeugte, dass was damals gelang, auch 1914 möglich sein müsste. Auf Treu und Glauben jedoch auch, weil der berühmte Plan nie zur Verfügung gestellt wurde – nicht ein Fitzelchen wurde veröffentlicht, das die Vorwürfe unterstützen könnte. Doch im Prinzip – so viel wurde bekannt – sah der Plan einen Angriff auf Nordfrankreich durch Belgien vor und eine darauf folgende Einkreisung und anschließende Belagerung von Paris vor, welche zu der französischen Kapitulation führen sollte – mehr oder weniger wie in der irreführenden West-Point Karte unten dargestellt:

Nachdem die meisten deutschen Militärarchive in den alliierten Bombardierungen des Zweiten Weltkrieges zerstört worden waren, wurde eine Kopie des verloren geglaubten Plans 1953 von dem deutschen monarchistischen Historiker Gerhard Ritter in den National Archives in Washington gefunden. Wie es sich herausstellte, hatte sich das ursprüngliche Dokument gar nicht in irgendeinem militärischen Archiv, sondern in des Grafen Hause befunden – im Nachlass seiner Töchter. Im Jahr 1958 veröffentlichte Ritter das Papier in englischer Sprache, mit einem Vorwort von B.H. Liddell-Hart, unter dem Titel „The Schlieffen Plan – Critique of a Myth“ bei Praeger, New York (die ursprüngliche deutsche Fassung war 1956 bei R. Oldenbourg, München, erschienen). [Keine ISBN Nummer oder Library of Congress – Karte für die englische Ausgabe verfügbar]

Warum ist das Dokument mit Vorsicht zu behandeln? Einige Hinweise: Das Memorandum beschreibt einen Krieg allein gegen Frankreich – keinen Zweifrontenkrieg einschließlich Russlands – und ohne britische Beteiligung. Der Plan setzt alles in allem 94 Divisionen ein – eine Zahl, die nie existierte (Moltke musste sich im Jahre 1914 mit 68 Divisionen behelfen, von denen einige Wachdienst an der Nordseeküste schoben und einige andere die Städte Maubeuge und Brüssel belagerten) – aber von entscheidender Bedeutung sind die zahlreichen logistischen und räumlichen Unmöglichkeiten des Plans. John Keegan analysierte sie gnadenlos in „The First World War“, Vintage Books 2000, ISBN 0-375-40052-4361, und ich darf seine Analyse ausführlich zitieren:

Ritters Buch – Kopie des Autors
Schlieffens Karte 1: Der Aufmarsch

Schlieffens mitternächtliche Haarspalterei hatte sich nicht zum Ziel gesetzt, einen exakten zahlenmäßigen Vergleich zwischen deutscher und französischer Truppenstärke zu liefern, sondern die maximale Kapazität der belgischen und französischen Straßennetze zu eruieren. Solche Berechnungen gehörten zu den Grundlagen der Ausbildung an den Kriegsschulen; wo Studenten aus vorbereiteten Tabellen die Länge von Marschkolonnen bestimmten  – neunundzwanzig Kilometer für ein Korps, zum Beispiel – um auf Straßenkarten zu messen, wie viele Truppen einen gegebenen Sektor mit welcher Geschwindigkeit passieren könnten.

Da zweiunddreißig Kilometer die Grenze eines Eilmarsches war,  wäre dies der maximale Vormarsch eines Korps auf einer einzigen Straße; aber das Ende einer neunundzwanzig Kilometer langen Säule würde sich am Ende des Tages immer noch nahe oder am Abmarschpunkt selbst befinden.

Gäbe es zwei parallel verlaufende Straßen, würden die Enden die halbe Distanz vorrücken, wenn vier, drei Viertel, und so weiter. Idealerweise würden die Einheiten eines Korps nicht als Kolonne, sondern in Linie nebeneinander voranziehen, sodass alle Mann am Ende des Tages zweiunddreißig Kilometer weiter ankämen; in der Praxis, wie Schlieffen selbst in einer Korrektur zugab, waren parallele Straßen bestenfalls alle ein bis zwei Kilometer auseinander zu finden.

Geplante Situation am 22. Tag – alle Korps nummeriert und alle Straßen proppenvoll …

Während sich seine große Kreisbewegung sich auf einer Front von dreihundert Kilometern mit etwa dreißig Korps nach vorn bewegte, würde jedes Korps nur über ungefähr zehn Kilometer Front zum Vorrücken verfügen, an denen es bestenfalls sieben parallele Straßen gäbe. Das war nicht genug, um der Nachhut zu erlauben, am Ende des Tages zur Vorhut aufzuschließen. Der Nachteil war nicht zu korrigieren; er verbot absolut jeden Versuch, mehr Truppen in den Radius des Rades zu pressen. Sie hätten keinen Raum zum Manövrieren, es gab einfach nicht genug Platz.

Hier kommen wir nun zu der Frage, auf welchen Straßen die sechs (nicht existenten) Ersatz-Corps, die wie der aufmerksame Leser bemerkt, plötzlich aus der Luft in Karte 3 erscheinen, nach Paris marschiert sind?

Am 31. Tag erscheinen plötzlich die (nicht existenten) sechs Ersatzkorps (d.h. 12 Divisionen, markiert in Grün), wie von Scotty hingebeamt, um Paris …

Es ist an dieser Stelle, dass der aufmerksame Leser des Großen Memorandum den Plan auseinanderfallen sieht: Karte 3 zeigt in keiner Weise, wie die neuen Korps sich „Paris, dem zentralen Stützpunkt der großen Festung, die Schlieffens Frankreich war“, überhaupt erreichen könnten, geschweige denn die Stadt belagern. Das Korps erscheinen einfach auf der Karte, ohne Hinweis darauf, wie sie den Stadtrand von Paris erreichen. Die „Kapazität der Bahn“ ist irrelevant; in Schlieffens Plan war die Eisenbahn nur dazu da, die Angreifer bis zur deutschen Grenze von Belgien und Frankreich zu bringen. Danach war es das weiterführende Straßennetz und die Stiefel der Infanterie, die die Geschwindigkeit des Vormarsches bestimmen würden.

Schlieffen selbst berechnete die durchschnittliche Marschleistung mit 12 Meilen (ca. 19 km) pro Tag. In der Krise vom August und September 1914, würden sowohl deutsche wie auch französische und britische Einheiten dies überbieten, manchmal Tag für Tag – das 1. Bataillon des Gloucestershire Regiments legte gemittelt sechzehneinhalb Meilen während des großen Rückzugs von Mons nach der Marne zurück, vom 24. August bis 5. September und schaffte dreiundzwanzig bzw. einundzwanzig Meilen am 27. und 28. August – aber Schlieffens Mittelwert war nicht weit von der Marke. Von Klucks Armee auf dem äußeren Flügel des großen Rades erreichte etwas mehr als 13 Meilen (ca. 21 km) pro Tag zwischen dem 18. August und 5. September 1914, über eine Entfernung von 260 Meilen (ca. 418 km).

Damit die „acht neuen Korps“, die Schlieffen als Clincher für seinen Plan brauchte, in die vorgesehene Position hätten gelangen können, hätten sie tatsächlich nicht nur schneller und weiter als benötigt marschieren müssen, was gegen alle Wahrscheinlichkeit spricht, aber dies entlang denselben Straßen zu tun die schon von anderen Korps besetzt sind ist eine einfache Unmöglichkeit.

Es ist daher nicht verwunderlich, im Text des Großen Memorandum des Autors´Geständnisse begraben zu finden wie, dass „wir zu schwach sind“, um den Plan zu einem Abschluss zu bringen und, in einer späteren Anmerkung, „auf solch einer verlängerten Linie noch größere Kräfte brauchen werden als wir bisher geschätzt haben.“ Er war in eine logistische Sackgasse gelaufen. Die Eisenbahnen würden die Truppen für sein großes Rad positionieren; die belgischen und französischen Straßen würden es ihnen ermöglichen, den Stadtrand von Paris in der sechsten Woche ab dem Tag der Mobilisierung zu erreichen; aber sie würden nicht in der notwendigen Stärke ankommen, um die entscheidende Schlacht zu gewinnen, wenn sie nicht von acht Korps begleitet wären – 200.000 Menschen – für die es keinen Raum gab. Sein Plan für den Blitzsieg war in sich selbst fehlerhaft – wurde aber dennoch zum Einsatz vorgemerkt.

In der ursprünglichen 1956er Ausgabe von Gerhard Ritter (siehe obiges Foto) sind die Karten an der Rückseite des Buchs gebunden und von geringer Qualität. Ich habe sie in die relevanten Teilen des Textes platziert und farbig gekennzeichnet, um dem Memorandum besser folgen zu können.

Das Problem des Plans, so wie er vorliegt, ist seine Interpretation. Nachdem der Praktiker Terence Zuber (ehemaliger Offizier der US Army und in Würzburg promovierter Historiker) ab 1999 in verschiedenen Veröffentlichungen argumentierte, dass der Plan eben nur eine Denkschrift sei, und es keine Anzeichen dafür gäbe, dass er jemals Grundlage von Manövern oder auch nur einer nachvollziehbaren fachlichen Diskussion war (im Gegenteil – in den 1990ern wurden Dokumente über die tatsächlichen Übungen, die sein Nachfolger Moltke bis 1914 abhielt, aus Beständen der ehemaligen DDR gefunden), gab es ein großes Geschrei der etablierten Historiker, weil nicht sein kann was nicht sein darf. Siehe Zuber, Terence, “The Real German War Plan 1904-14“, The History Press 2001, ISBN 978-0-7524-5664-5.

Es wurden eigens internationale Tagungen einberufen, um die Häresie zu unterbinden, jedoch macht Zuber’s Kritik, deren Eckpunkte man vielleicht am besten in dem Artikel der englischen Wikipedia nachlesen kann, durchaus Sinn. Das Problem der konservativen Gegenkritik- also des Status Quo – das leider praktisch nie angesprochen wird – ist, das man davon ausgehen müsste, dass der deutsche Generalstabschef bis 1905 sich Planungen hingab, die seit dem französisch-russischen Bündnis seit 1890 völlig unrealistisch waren – es würde keinen Einfrontenkrieg geben, worauf Terence Holmes ebenfalls hinwies.

Es wird argumentiert dass die Denkschrift die kurzzeitige militärische Schwächung Russlands nach der Katastrophe des russisch-japanischen Kriegs miteinbezieht. Dies ist jedoch eher irrelevant, da in diesem Krieg die Hauptverluste Russlands ihre Flotte betrafen, die die deutsche Marine sowieso nicht interessierte – die Hochseeflotte rüstete gegen England.

Das Hauptproblem der bisherigen Gegenkritik ist, dass sie eben die Geschehnisse von 1914 argumentiert – nicht wirklich das Memorandum von 1905 an sich. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) hat 2007 “Der Schlieffenplan: Analysen und Dokumente“, editiert von Michael Epkenhans, Hans Ehlert and Gerhard P. Groß. Das Buch ist nun angekommen und wird ausgewertet und für die englische Version dieses Beitrags übersetzt. Es enthält auch vier großformatige Kartenblätter.

Erster Eindruck [Update 05.06.2019]: Das Problem des Kompendiums liegt wohl in der Organisation der zugrundeliegenden Konferenz vom 30. September bis 1. Oktober 2004. Der Grund für die Einberufung der Konferenz war die grundlegende Kritik von Terence Zuber gewesen – siehe oben. In der Durchführung wurde dies aber nicht zum Thema gemacht, sondern es erhielten verschiedene Teilnehmer die Gelegenheit, ihre eigenen Thesen zum “Schlieffenplan” vorzutragen – aber nicht, wie oben angesprochen, auf die Denkschrift von 1906 einzugehen, sondern ihre eigene, bisher unveröffentlichten Meinungen zu den Entwicklungen der deutschen Aufmarschpläne 1905 – 1914 bzw. den Geschehnissen von 1914 kund zu geben.

Man muss hier differenzieren: Als Zuber nach 2000 den Schlieffenplan als “Mythos” bezeichnete, meinte er nicht dass der Plan nicht existierte – die Denkschrift liegt ja vor – sondern er wies auf die Inkongruenz der Denkschrift (siehe John Keegan’s Analyse der taktischen Undurchführbarkeit und die “Geisterdivisionen”) mit der nach 1918 entwickelten Legende hin, dass Schlieffen einen perfekten Plan vorgelegt habe, den der jüngere Moltke nicht begriff, oder durch Planänderungen “verwässerte”.

Dieser Beitrag betrifft die Denkschrift von 1905/6, wie oben angeführt, nicht die Ereignisse von 1914 oder die Vorbereitungen und eventuellen Planungen unter Moltke. Dies war jedoch nicht das Thema der Konferenz. Annika Mombauer entwickelt Thesen zu etwas, das sie den “Moltkeplan” nennt, also zur Geschichte des immer noch unbekannten tatsächlichen Kriegsplans von 1914. Andere Beiträge behandeln die Situationen, Planungen und politischen Realitäten in Österreich-Ungarn (Günter Kronenbitter), Frankreich (Stefan Schmidt), Russland (Jan Kusber), Großbritannien (Hew Strachan), Belgien (Luc De Vos) und der Schweiz (Hans Rudolf Fuhrer und Michael Olsansky). Ungeachtet der Qualitäten dieser Beiträge stellt sich dabei die Frage der Relevanz.

Ein weiteres Kernproblem ist dass die Frage der Kriegsschuld, die grundsätzlich eine politische, keine militärische Frage ist, unauslöschlich mit der Diskussion vermengt wird – manchmal entsteht der unausgesprochene Eindruck “offensiv” wäre synonym mit “böse” oder “schuldig” und “defensiv” bedeute “gut”. Fakt ist dass alle Großmächte 1914 offensive planten und daher dürfte sich diese Frage im Militärbereich nicht stellen.

Die Kernthese Zubers war, dass der “Schlieffenplan” (in der Form der vorliegenden Denkschrift) kein tatsächlich durchführbarer Plan war und nichts dafür spricht, dass er tatsächlich die Grundlage für die Planung von 1914 bildete.

Ein weiteres schwerwiegendes Beispiel für die taktische Undurchführbarkeit des Plans, das John Keegan wohl aus Platzmangel ausließ, wäre die Umzingelung von Paris, wie geplant von der 1. Armee (und sechs nicht existierenden Ersatzkorps). Wenn wir einen Einschließungsring in der Linie Compiègne – Pontoise – Plaisir – Orsay – Évry – Brie-Comte-Robert zugrunde legen – siehe Grafik – bedeutet dies eine zusätzliche Frontlänge von über 400 Kilometern (zweiseitige Einschließungsfront wie in Alesia) ohne jede Flankensicherung oder Rückendeckung – die die Franzosen geradezu zu einer katastrophalen Einkesselung des Westteils einladen würde.

Angenommene Belagerungslinie von Paris
Das Risiko einer Einkesselung

Folgender Beitrag: Moltkes Kriegsplan 1914


(© John Vincent Palatine 2019)

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