[Unser Titelbild ist ein Ausschnitt aus einer Fotografie der Schlacht von Königgrätz – oder Sadowa – 1866 und zeigt einen Angriff des Infanterie-Regiments No. 68]


Aus „The Little Drummer Boy“, Kapitel IV

Napoleons Armeen hatten die Preußen bei Jena und Auerstedt 1807 vernichtend geschlagen und anschließend den größten Teil des Landes besetzt; das heißt, diejenigen Teile, die Napoleon nicht seinem Bruder Jerome geschenkt hatte (den er zum Monarchen des neugegründeten Königreichs Westphalens gemacht hatte, oder das ebenfalls neu gegründete kurzlebige Großherzogtum Polen).

Doch gelegentlich kann ein Verlust in einem unerwarteten Gewinn enden. Es war gerade in den Jahren seiner Erniedrigung, nach der Niederlage der stolzen Armeen, dass Preußen die Reformen einleitete, die es zu einem modernen Staat machten, der in mancherlei Hinsicht die Welt anführte.

Viele Dinge, die wir heutzutage – zum Besseren oder Schlechteren – mit den Funktionen eines modernen Staates verbinden, wurden allgemeingültig und dauernd mit zuerst in Preußen in den frühen Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eingeführt: kommunale Selbstverwaltung, postfeudale Freiheit des Handels und der Verträge, die ständige Einkommensteuer, öffentliche, verpflichtende, nicht konfessionsgebundene und kostenlose Bildung und, nicht zuletzt, kompulsiver Militärdienst ohne Ausnahmen – die Wehrpflicht.

Im Feudalsystem waren wirtschaftliche Aktivitäten entlang sozialer Grenzen beschränkt: Kauf oder Verkauf von Land war das Vorrecht des Adels und um ein Kaufmann oder Handwerker zu werden, musste man ein Bürgerlicher sein. Diese Einschränkungen fielen weg und mit der eventuellen Aufhebung der Leibeigenschaft wurde der erste Arbeitsmarkt der Welt geschaffen; eine notwendige Bedingung für die in Deutschland danach extrem schnell einsetzende Industrialisierung.

Die Wirtschaft des feudalen Preußens hing von den Leibeigenen der umfangreichen landwirtschaftlichen Betriebe der „Junker“ ab, der lokalen Großgrundbesitzer. Sie regierten mit harter Hand; im wesentlichen unabhängig von staatlicher Aufsicht. Auf ihrem Hab und Gut waren sie Arbeitgeber, Polizisten und Richter in einem. Sie hatten das Recht, körperliche Strafen zu verhängen, konnten Ehen gewähren oder verbieten; in einigen Fällen – obwohl technisch gesehen illegal – wurden ganze Bauernfamilien verkauft oder gekauft, insbesondere an den Rändern des Landes, wo das Auge des Gesetzes meist abwesend war.

Der Aufgabe eines bestimmten alten feudalen Rechtes waren die Junker besonders abgeneigt – das „ius primae noctis“ oder Recht der ersten Nacht; das angebliche Recht des Grundherren, die sexuellen Gefälligkeiten der Braut eines Vasallen in ihrer Hochzeitsnacht einzufordern. Ob dieses Recht nun tatsächlich bestand oder eine eher morbide Fantasie war, ist eine andere Frage – siehe Beaumarchais’ “Die Hochzeit des Figaro” für den ohne Zweifel bestehenden negativen Propagandawert gegen Adelige. Unter dem Einfluss der Französischen Revolution tauchten Rufe nach der Abschaffung solcher und anderer alter Gewohnheiten auch in Preußen auf.

Die nüchternen, evangelisch-lutheranischen Könige Preußens hatten seit jeher ein größeres Interesse an der Befindlichkeit ihrer Untertanen gezeigt, als es die Norm war, und 1732, zum Beispiel, gewährte Friedrich Wilhelm I den vertriebenen Salzburger Protestanten Schutz und Unterkunft.

Konstantin Cretius Empfang der Salzburger Protestanten durch König Friedrich Wilhelm I. in Berlin am Leipziger Tor am 30. April 1732, Ölgemälde um 1860
Konstantin Cretius – Empfang der Salzburger Protestanten durch König Friedrich Wilhelm I. in Berlin am Leipziger Tor am 30. April 1732, Ölgemälde um 1860

Vor allem Friedrich der Große war dafür bekannt, landauf und landab an den unmöglichsten Stellen aufzutauchen um nach dem Rechten zu schauen – er förderte vor allem den Anbau von Kartoffeln als Nahrungsgrundlage der Bevölkerung.

Robert Warthmüller Der König überall, Ölgemälde von 1886. – König Friedrich II. begutachtet den Kartoffelanbau in Preußen.
Robert Warthmüller Der König überall, Ölgemälde von 1886. – König Friedrich II. begutachtet den Kartoffelanbau in Preußen.

Obwohl die Forderungen nach politischen Reformen, wie in Frankreich, auf den Theorien von Rousseau, Locke und John Stuart Mill beruhten, war es eine andere wichtige Theorie, die für die Verfasser des neuen preußischen Staatsrechts maßgeblich wurde: Adam SmithsThe Wealth of Nations” (1776), welche ein mögliches neues wirtschaftliches Modell für das Land beschrieb. Smiths Paradigmen waren, erstens, privates Eigentumsrecht, zweitens das Prinzip des Wettbewerbs, der „freie Markt“, und drittens die Abschaffung von Handelshemmnissen wie Zöllen, Verbrauchssteuern oder Abgaben.

Diese grundlegenden Lehren des Kapitalismus entstanden nahezu zeitgleich mit der wichtigsten Einführung der Neuzeit, der Partnerschaft von Kohle und Dampfmaschine, welche die Menschen von einem Großteil körperlicher Arbeit entband. Die Industrialisierung begann in den englischen Midlands im achtzehnten Jahrhundert, aber es dauerte Jahrzehnte, bis Preußen und die anderen deutschen Staaten aufholen konnten.

Fünf Namen sind auf ewig mit den folgenden preußischen Reformen verbunden: auf der – weniger wichtigen – militärischen Seite, die Generäle Gerhard von Scharnhorst und August von Gneisenau; auf der zivilen Seite die Freiherren von Stein und von Hardenberg; doch keiner von ihnen hätte wohl viel erreicht ohne die Reformen von Wilhelm von Humboldt, des Bruders des berühmten Geografen und Botanikers Alexander von Humboldt.

Wilhelm von Humboldt
Wilhelm von Humboldt

Jede ernsthafte Reform des Landes, so viel war klar – Reformern und Gegnern gleichermaßen – hatte mit der Veränderung der Situation der Bauern zu beginnen. Sie bildeten die Grundlage der Bevölkerung, der Landwirtschaft und des Militärs, und ihr Los zu verbessern sollte auf den Rest der Nation positive Auswirkungen haben.

Das erste Problem auf der Tagesordnung der Reformer war die soziale Integration aller „Preußen“, denn da gab es ein Problem. Das Konzept oder Bewusstsein, ein „Preuße“ zu sein, war durchaus nicht landläufig, aus dem einfachen Grund, dass viele Einwohner erst vor kurzem Preußen geworden waren; nur eine Generation früher oder so waren sie noch Brandenburger, Schlesier oder Pommern gewesen, doch nun von Preußen als Kriegsbeute eingesammelt.

Im Herbst 1807 überzeugte Minister von Stein König Friedrich Wilhelm III, dass Agrarreform der Schlüssel für die Entwicklung des Landes sei und erhielt die königliche Sanktion, ein Reformgesetz zu erlassen. Am 9. Oktober 1807 wurde die Leibeigenschaft im Königreich Preußen aufgehoben  – Bauern von ihren feudalen Verpflichtungen befreit, der Zehnte abgeschafft und Teilpacht (Sharecropping) verboten. Etwa die Hälfte der Bauern wurde sofort frei und der Rest am St. Michaels-Tag des 11. November 1810.

Jeder konnte nun, zumindest in der Theorie, eigenes Land erwerben, oder ohne Erlaubnis heiraten. Wie zu vermuten, war der Adel nicht übermäßig erfreut über das Reformpaket und leistete heftigen Widerstand. Sie hatten die unbezahlte Arbeit durch ihre „Untertanen“ zu sehr genossen und argumentierten, dass sie aufgrund des Verlustes zu einer Entschädigung berechtigt waren. Sie organisierten sich in Ligen und Clubs und für eine Zeitlang gelang es ihnen, wesentliche Bestimmungen des Gesetzes zu verwässern.

Aufgrund ihres Widerstandes dauerte es ungefähr eine Generation lang, bis die Änderungen ihre volle Wirksamkeit erreichten. Und doch war ein spürbarer Anfang gemacht worden und die Nahrungsmittelproduktion stieg innerhalb von zehn Jahren um 40 %. Andere Reformen erwiesen sich als ebenso entscheidend.

Gerhard von Scharnhorst wurde im Juli 1807 zum Leiter einer Militärreformkommission befördert, die das alte Landknechtstum zu reformieren hatte und er entwickelte ein paar Ideen, die seine adeligen Kollegen nur als „radikal“ empfinden konnten. Seit ewigen Zeiten waren nur Aristokraten in der Lage gewesen, sich Offizierspatente zu sichern: diese Tradition wurde jetzt ohne Tuten und Blasen abgeschafft, ebenso wie die Tradition, dass Beförderungen von des Offiziers Beliebtheit bei den Hofdamen oder dem Wildhüter des Königs abhingen: ab jetzt würden Beförderungen nach Leistung gewertet, lernten schockierte Oldtimer.

Der Fehdehandschuh, also das Duell, wurde abgeschafft, ebenso wie das Schikanieren und der Spießrutenlauf, und in der Zukunft, so Scharnhorsts Plan, würde der Militärdienst zu einer obligatorischen Bürgerpflicht werden. So einen Brocken war der König allerdings noch nicht bereit zu schlucken und Scharnhorst wurde 1810 gefeuert. Die wichtigste Reform allerdings war schon durch: Wilhelm von Humboldt schuf das preußische Bildungssystem, das erste, das eine ganze Nation umfasste. Er führte die Schulpflicht ein und sorgte für den Bau und die Instandhaltung von Schulen und die Beschäftigung von weltlichen – nicht kirchlichen – Lehrern an allen Ecken und Enden des Landes.

Es ist schwer, sich das heutzutage vorzustellen, aber schon die einfache Regelung, dass ein Schuljahr nur einmal im Jahr beginnt, erkannte niemand als eine praktische Notwendigkeit – bis Humboldt es befahl. Von nun an begann die Schule im September, und in aller Welt gehorchen Kinder noch der Regel des ehrwürdigen preußischen Gelehrten. Reform bestürmte auch die alten Privilegien der Universitäten: nicht nur, dass Humboldt genügend Mittel aus dem Haushalt des sparsamen König loszumachen verstand, um die Universität am Laufen zu halten – wo das Lehrpersonal bald weltberühmte Namen wie Hegel und Fichte zu sich zählte – er erfand auch die Symbiose aus Lehre und Forschung: Professoren mussten beides leisten.

Aber nicht nur Grundschulen wurden gegründet, Humboldt erfand auch das deutsche Gymnasium, als das primäre Vorbereitungssinstitut für Hochschulen und Universitäten. Der Lehrplan wurde gesetzlich vorgeschrieben und solche Schulen, die nicht willens oder nicht in der Lage dazu waren, mit den Anforderungen Schritt zu halten – so einige religiöse Schulen – wurden geschlossen. Humboldt gründete auch persönlich die Berliner Universität, die immer noch seinen Namen trägt.

Zu den wichtigsten Innovationen Baron von Steins in Bezug auf die praktischen Aspekte der Regierung gehörte die Erfindung des Ministers mit Portefeuille, also Zuständigkeitsbereich; es klingt wie eine einfache Idee, war aber völlig unbekannt. Seit Anbeginn der Zeit hatten sich Entscheidungsträger auf die Hilfe von Beratern verlassen, aber selten war die angestellte Hilfe systematisch organisiert; die jeweiligen Herren konnten gegeneinander arbeiten oder sich gegenseitig ignorieren, und so basierten die meisten Regierungsformen auf einer Art Chaostheorie.

Freiherr von Stein ersetzte Chaos mit einer Pyramide aus Macht und Verantwortung: der König als Regierungschef konnte auf ein Ministerkabinett mit spezialisierten Portfolios unter ihm vertrauen, die sich ihrerseits auf einen Stab von höheren Beamten verlassen konnten, der sich nicht mit jedem neuen Minister änderte und so für Kontinuität sorgen konnte. So wurde der (hoffentlich) gut informierte Ministerialsekretär geboren, der aufeinander folgenden Regierungen dienen konnte. Dieses System wurde von jeder Nation übernommen.


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(© John Vincent Palatine 2015/19)

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